Der Weg zum Referendum in der Türkei

Ein Ende des Terrors nur mit einem Ende der AKP-Herrschaft

Hatip Dicle, Kovorsitzender des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft DTK

Der Weg zum Referendum in der TürkeiDer Kovorsitzende des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) Hatip Dicle nahm in einem Interview für den Kurdistan Report Stellung zu dem für den 16. April von der AKP-Regierung angestrebten Referendum über eine Verfassungsänderung in der Türkei.

Herr Dicle, die Türkei bewegt sich auf ein Referendum zu, mit dem nach dem Willen der AKP das Präsidialsystem eingeführt werden soll. Meine erste Frage an Sie ist, ob Sie uns in einem kurzen Rückblick die Etappen auf dem Weg zu diesem Referendum zusammenfassen können?

Die Entwicklung der AKP nach ihrer Regierungsübernahme im Jahr 2002 gleicht in der Tat der Entwicklung, welche das Komitee für Einheit und Fortschritt (türk.: İttihat ve Terakki Cemiyeti) nach seiner Machtübernahme im Osmanischen Reich durchgemacht hat. Denn auch das Komitee hat bei der Machtübernahme ein Bild von sich selbst erzeugt, das es im Gegensatz zu den bisherigen Machthabern des Osmanischen Reiches relativ liberal erscheinen ließ. Doch dann hat diese Partei Schritt für Schritt eine Transformation in Richtung Religiosität und türkischen Nationalismus durchgemacht, die letztlich im Genozid an den Armeniern und Suryoye mündete. Und auch die AKP wirkte zu Beginn ihrer Regierungszeit für viele Kreise wie eine Partei, die das Land in Richtung Demokratie und EU-Beitritt voranbringen will. Viele glaubten, die AKP habe sich zur Mission gemacht, eine demokratische türkische Republik zu schaffen. Obwohl sie also an der Macht war, agierte sie mit ihrer Wortwahl eher wie eine Oppositionspartei gegenüber dem gegebenen türkischen Staatssystem. Und so haben viele liberale und demokratische Gruppen in der Türkei sie zunächst unterstützt. Dasselbe galt auch für die EU.

Allerdings hat die Regierungspartei, nachdem sie tatsächlich die Macht im Staat erlangt, also ihre eigenen Leute im Staatsapparat platziert hatte, offenbar ihre Politik im Sinne ihrer eigentlichen Agenda umgesetzt. Und was war das? Sie hat die türkische Republik in ihrem Interesse umzugestalten versucht. Wie Sie wissen, ist die Republik aus den Trümmern des Osmanischen Reiches als eine oligarchische Republik hervorgegangen. Und genauso wie die Linken, die Kurden oder die Aleviten in dieser neuen Republik benachteiligt und ausgegrenzt wurden, sind hier auch die islamischen Kreise marginalisiert worden. Und das wollte die AKP im Sinne ihrer Klientel korrigieren. Dafür sind sie ein Bündnis mit den nationalistischsten Kreisen im Land, den sog. Ergenekon-Vertretern, eingegangen und haben mit einer neoosmanischen Ideologie zu regieren begonnen. Und eben das hat die İttihat-und-Terakki-Bewegung im Laufe ihrer Herrschaftszeit getan. Sie wollte auch die gesamte islamische und türkische Welt unter dem Dach des Osmanischen Reiches vereinen. Mit diesem Ziel waren sie damals in den Ersten Weltkrieg eingetreten.

Die AKP will nun dem Neoosmanismus entsprechend ihre Macht im Mittleren Osten von Neuem etablieren. Und dafür gehen sie zum einen radikal gegen jede Opposition im Inland vor. Und zum anderen verfolgen sie nach außen eine hegemoniale Politik. Und während in der Zeit von İttihat und Terakki die Armenier und Suryoye als größtes Hindernis erachtet wurden und deshalb dem Genozid zum Opfer fielen, betrachtet die AKP heute die Kurden als wichtigste Kraft gegen ihre eigenen Ziele. Deshalb will sie alle Errungenschaften, welche die Kurden in den letzten hundert Jahren seit Sykes-Picot erlangt haben, zunichtemachen. Sie führt deshalb gegenwärtig in Syrien einen Krieg und hat die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die von der internationalen Gemeinschaft als effektivste Kraft gegen den Islamischen Staat (IS) betrachtet werden, zu Terroristen und so zu Feinden erklärt. Im Inland haben sie aus eben diesem Grund nach zweieinhalb Jahren direkten Gesprächen mit den Kurden den Verhandlungstisch umgeworfen und so die Möglichkeit begraben, eine wirklich demokratische türkische Republik zu schaffen. Heute sind die Kurden, ebenso wie in der Vergangenheit die Armenier oder die Suryoye, der ernsthaften Gefahr eines Genozids ausgesetzt. Damit einhergehend ist die AKP für die Errichtung des Präsidialsystems in eine Referendumsphase eingetreten. Eigentlich handelt es sich nicht um ein klassisches Präsidialsystem, sondern eher um eine Präsidialdiktatur. Denn so gut wie alle Befugnisse sollen auf die Person des Staatspräsidenten konzentriert und die Gewaltenteilung aufgehoben werden. Allein elf von insgesamt fünfzehn Verfassungsrichtern sollen beispielsweise vom Staatspräsidenten ernannt werden. Somit wird die Unabhängigkeit der Justiz aufgehoben. Das Parlament wird praktisch außer Kraft gesetzt. Ein solches System wollen sie schaffen, gleichzeitig in der Gesellschaft die Ideologie der türkisch-islamischen Synthese etablieren.

Sie haben die türkisch-islamische Synthese erwähnt. Es findet also geradezu der Versuch eines Social Engineering statt. Fruchtet dieser Versuch? Wie hat sich die türkische Gesellschaft in jüngster Zeit verändert?

Ja, sie haben tatsächlich seit ihrer Machtübernahme Schritt für Schritt versucht, das strikt laizistische Selbstverständnis der türkischen Republik auszuhöhlen. Sie fingen beispielsweise mit der Aufhebung des Kopftuchverbots an, die Unterstützung der islamischen Kreise für sich zu gewinnen. Darauf aufbauend haben sie langsam, aber sicher begonnen, den Prozess der Islamisierung der Gesellschaft im Sinne eines politischen Islams voranzubringen. Das macht die AKP gefährlich. Allerdings, wenn wir uns die Frage stellen, ob der strikte Laizismus, wie bei der Gründung der Republik propagiert, richtig war, so müssen wir sagen, dass es in der Türkei nie einen wirklichen Laizismus gab. Vielmehr handelte es sich um einen, der die Kontrolle der Religion unter das Monopol des Staates gestellt hatte. Die Gesellschaft konnte ihre Religiosität nicht leben, wie sie wollte. Das gilt beispielsweise für die Aleviten, deren Gotteshäuser staatlicherseits offiziell nie als solche anerkannt worden sind. Das bedeutet, dass sie ihre Religion nie frei leben durften. Auch die wirklichen Muslime konnten ihre Religion nie frei im Sinne eines kulturellen Islams leben. Es herrschte stets die Rigidität eines politischen Islams. Es gibt auch islamische Kreise in der Türkei, die das kritisieren. Doch die AKP setzt auf einen politischen Islam, den sie auch in ihrer Außenpolitik in Bündnissen mit Ländern wie Saudi-Arabien oder Katar hegemonial zu gestalten versucht. Sie scheut auch keine Bündnisse mit radikalislamischen Gruppen wie dem IS und der Al-Nusra-Front. Und das macht ihre Politik besonders gefährlich. Deshalb ist ihr beabsichtigtes Präsidialsystem nicht bloß für die Türkei eine Gefahr, sondern für den gesamten Mittleren Osten und eigentlich auch für Europa und die gesamte Welt.

Nun sind im Zuge des Ausnahmezustands unzählige Menschen gefeuert worden. An ihrer statt wurden andere eingestellt. Ist das auch Teil dieser tiefgreifenden gesellschaftlichen Umgestaltung, auf die die AKP abzielt?

Selbstverständlich. Sie haben alle, die ihnen gegenüber oppositionell eingestellt sind, entweder zu Fethullah-Gülen-Anhängern oder PKKlern erklärt und sie so ohne rechtliche Grundlage aus den öffentlichen Stellen beseitigt. An ihrer statt werden der Haltung der AKP Nahestehende eingestellt. Auf diese Weise wird der Staat tiefgreifend umgestaltet. Mehr als 100 000 Menschen sind so aus dem staatlichen Bereich verdrängt worden. Auch wenn sie trotz ihrer oppositionellen Gesinnung nicht gegen Gesetze verstoßen haben. Einziger Grund für ihre Kündigung war, dass sie nicht die Geisteshaltung der AKP geteilt haben.

Am stärksten betroffen davon waren die Kurden. Sie waren in den staatlichen Strukturen ohnehin nur schwach vertreten. Doch auch dem letzten kurdischen Lehrer, Akademiker und anderen im öffentlichen Sektor Beschäftigten wurde derart gekündigt. Weshalb wurden beispielsweise unsere Bürgermeister abgesetzt, die Abgeordneten festgenommen? Den Kurden sollte die letzte demokratische Repräsentation innerhalb des Staates genommen werden. Sie müssen bedenken, dass die aus dem öffentlichen Sektor Gekündigten auch nicht mehr so einfach eine Stelle im privaten Sektor finden können. Die Kurden sollen also gezielt in die Armut getrieben werden. Hinzu kommt, dass auch das Eigentum dieser Menschen konfisziert wird. Das ist etwas völlig Neues. In keinem Militärputsch war es Teil der staatlichen Praxis, das Eigentum der Menschen zu beschlagnahmen. So etwas kennen wir in der Region vielleicht aus der Ära İttihat und Terakki, als das Eigentum der verfolgten Christen beschlagnahmt wurde. Es handelt sich um eine offen faschistische Praxis des Staates. Stellen Sie sich das vor, ein Lehrer, der sich vielleicht mühsam mit seinem Lohn eine Eigentumswohnung gekauft hatte, wird nun nicht nur entlassen, sondern es wird ihm auch seine Wohnung weggenommen.Der Weg zum Referendum in der Türkei

Sie sind auch bereits auf das anstehende Referendum eingegangen. Wie wird die AKP nun bis zum Referendum vorgehen? Was wird uns bis dahin erwarten?

Aus den Äußerungen Erdoğans oder seiner Vertreter wird ersichtlich, dass sie auf dieselbe Strategie setzen werden wie zwischen den Wahlen vom 7. Juni und 1. November 2015. In jener Phase sind in geheimer Übereinkunft mit dem IS und anderen Islamisten in der Türkei die Bomben hochgegangen und die Gesellschaft wurde damit verunsichert. Ziel ist es, in der Gesellschaft ein Gefühl zu erzeugen, durch das Erdoğan zum Einzigen gemacht wird, der das Land vor einer solchen Gefahr schützen kann. Nach dem 7. Juni sind beispielsweise in Pîrsûs (Suruç) und in Ankara Bomben explodiert, um die Menschen davon zu überzeugen, dass nur durch eine alleinige AKP-Herrschaft diese Art Anschläge zu einem Ende kommt. Das ist natürlich falsch, ein Mittel der psychologischen Kriegsführung. Die einzige realistische Haltung zu dieser Gefahr muss sein, dass ein Ende dieses Terrors nur mit einem Ende der AKP-Herrschaft einhergehen kann. Es zeigt sich, dass ein Ende des Terrors und ein wahrhafter Frieden nur auf diesem Weg erreicht werden können.

Und was muss die Opposition tun, um einem solchen Frieden den Weg zu ebnen?

Die Opposition gegen die Präsidialdiktatur umfasst eine große Bandbreite gesellschaftlicher Gruppen und Parteien. Es gibt beispielsweise islamische Parteien wie die Saadet-Partei, die ihr Unbehagen über das Präsidialsystem äußern. Auch nationalistische Kreise – wie Teile der MHP – erklären, dass sie dieses System als Gefährdung ihrer eigenen Ziele betrachten. Wir dürfen daher erwarten, dass die Nein-Kampagne beim Referendum in ein großes Bündnis all dieser Gruppen münden wird. Jeder wird versuchen, auf seine Zielgruppe einzuwirken, um so die geplante Verfassungsänderung zu unterbinden. Natürlich gibt es Befürworter der Verfassungsänderungen, die sich aus den Kreisen der AKP-Unterstützer und weiten Teilen nationalistischer Kreise zusammensetzen. Doch außer den Genannten stellen sich die liberalen, demokratische und sozialdemokratische Kreise, die Aleviten, die Kurden bis hin zu den liberalen Muslimen gegen das Vorhaben der AKP. Insbesondere unter diesen Gruppen kann sich während der Nein-Kampagne eine starke Dynamik entwickeln. Und so zeigen auch jüngste Umfragen, dass sich ein heftiger Widerstand gegen die Präsidialdiktatur entfalten wird.

Die AKP hat deshalb, wie bereits erwähnt, besondere Pläne entwickelt, um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Sie werden auf verstärkten Terror setzen. Sie werden vermutlich im Rahmen des Ausnahmezustands die öffentlichen Aktivitäten des Nein-Lagers zu verhindern versuchen. Auch gezielte Anschläge gegen die Unterstützer der Nein-Kampagne sind nicht ausgeschlossen. Mit diesen Mitteln werden sie versuchen, die Ja-Stimmen beim Referendum zu mehren. Bis hin zu Wahlfälschungen liegt alles im Bereich des Möglichen. Denn das Referendum ist aus ihrer Sicht eine historische Gelegenheit, ihre Agenda vollständig durchzusetzen.

Zum Schluss möchte ich Sie noch fragen, welche Rolle die europäische Öffentlichkeit für die Unterstützung der Nein-Kampagne spielen kann?

Zunächst müssen die europäische Öffentlichkeit und die europäische Politik richtig analysieren, welche Folgen eine Verfassungsänderung im Sinne der AKP für die Gesellschaft der Türkei und auch für sie selbst haben wird. Ich glaube, an diesem Punkt herrscht noch eine gewisse Unklarheit. Allein dass Frau Merkel ähnlich wie nach den Wahlen vom 7. Juni dem türkischen Staatspräsidenten einen Besuch abstattet, birgt große Gefahren. Es mag sein, dass sie nicht so denkt wie Erdoğan und gegen eine Diktatur in der Türkei ist. Aber Erdoğan weiß diesen Besuch in seinem Sinne auszunutzen, indem er erklärt, dass die deutsche Kanzlerin »zu seinen Füßen kommt«. Dasselbe haben sie auch beim Besuch Theresa Mays, der neuen Premierministerin Großbritanniens, gemacht. An dem Punkt hat beispielsweise Putin sich anders verhalten. Und nun läuft Erdoğan ihm hinterher. Die europäische Politik hat leider keine ähnliche Haltung zeigen können. Sie haben auf Erdoğans Drohungen hin in der Flüchtlingsfrage zu große Zugeständnisse gemacht, und dadurch wurden die Karten des türkischen Staatspräsidenten im Umgang mit der demokratischen Opposition im eigenen Land gestärkt.

Wir setzen deshalb unsere Hoffnung auf die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland und Europa. Auch in Europa werden sich rund eine Million Menschen am Referendum beteiligen. Wir wünschen uns, dass die demokratische Öffentlichkeit die demokratischen Kreise bei ihrer Nein-Kampagne hier unterstützt.