Der Stand des Verfahrens zum Pariser Massaker nach dem Tod des Angeklagten

Die juristische Aufarbeitung wird weitergehen!

Selma Akkaya, Journalistin

Es ist mittlerweile der vierte Jahrestag der Ermordung der PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız, des KNK-Mitglieds Fidan Doğan und des Mitglieds der Jugendbewegung Leyla Şaylemez in der französischen Hauptstadt Paris. Es wurde erklärt, dass Ömer Güney, der unter Mordverdacht stand, am 17. Dezember 2016 wegen eines Hirntumors aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus verlegt worden und dort verstorben sei. Nach dieser Todesnachricht haben sowohl die Familienangehörigen der drei ermordeten kurdischen Frauen, das kurdische Volk als auch die Rechtsanwälte im bevorstehenden Prozess erklärt, dass der juristische Kampf so lange weitergehen werde, bis die wahren Täter zur Rechenschaft gezogen seien und der Gerechtigkeit Genüge getan werde.Demonstration zum Jahrestag der Morde in Paris. | Foto: ANF

Mit dem Ableben des Angeklagten ist das Verfahren, das am 23. Januar 2017 beginnen sollte, beendet. Denn in besagtem Verfahren sollte Ömer Güney der Prozess gemacht werden. Das Verfahren gegen ihn im Rahmen der Antiterrorgesetze ist nun aufgrund seines Todes gescheitert. Aus diesem Grunde ist in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck entstanden, dass die juristischen Wege nun ausgeschöpft seien. Zunächst einmal ist festzustellen, dass dieser Eindruck falsch ist. Die genannte Anklage nannte nur Ömer Güney als Beschuldigten. In der Ermittlungsakte jedoch war aufgeführt, dass er die Morde nicht aus persönlichen Gründen, sondern auf Anweisung einer organisierten Einheit begangen haben könnte, die Verbindungen zum MIT (Millî İstihbarat Teşkilâtı – Nationaler Nachrichtendienst der Türkei) habe. Die Frage, ob er einen direkten Befehl vom MIT bekommen habe oder von einer Gruppe innerhalb des MIT beauftragt worden sei, konnte nicht geklärt werden, da die Türkei Informationen hierzu verweigert. Den involvierten Rechtsanwälten zufolge sei das Verfahren gegen Ömer Güney nach dessen Tod zwar gescheitert, aber man sehe es nicht nur auf den Beschuldigten begrenzt. Weiterhin teilten sie mit, dass aus der Ermittlungsakte die Beziehung zum MIT sehr offensichtlich werde und aus diesem Grunde die Anklage nicht nur auf Güney beschränkt werden könne und dass sie alle rechtlichen Schritte einleiten würden, damit das Verfahren weitergeführt werden könne.

Die Verjährungsfrist für Ermittlungen und darauf folgende Verfahren im Rahmen der Antiterrorgesetze in Frankreich beträgt dreißig Jahre. Bei jeder neuen Beweislage und bei neuen Entwicklungen kann die Nebenklage bei der Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Der Staatsanwalt beauftragt dann im Sinne der neuen Beweislage einen neuen Ermittlungsrichter. Dieser hat das Recht, die Ermittlungen zu vertiefen und ein neues Gerichtsverfahren vorzubereiten. Die französische Justiz leitet die Ermittlungsakten in Verfahren mit Terrorhintergrund nach einer fünfjährigen Ermittlungsphase an die jeweils zuständigen Gerichte weiter.

Die Rechtsanwälte der Nebenklage im Falle des Pariser Massakers an den drei revolutionären Frauen teilten mit, dass sie seit einem Monat die rechtlichen Prozeduren für die Wiederaufnahme des Verfahrens vorbereiteten. Sie würden in diesem Sinne sowohl die inländischen als auch die internationalen Möglichkeiten ausschöpfen.

Weiterhin steht im Raum, ein internationales Kriegsverbrechertribunal zur Untersuchung des Falls und Bestrafung der Täter zu organisieren, ähnlich wie im Falle der von den USA in Vietnam begangenen Kriegsverbrechen. Die juristischen Interventionen zur Wiederaufnahme des Verfahrens zum Pariser Massaker werden fortgesetzt.

Was ist aber nach dem 9. Januar 2013 passiert?

Ömer Güney wurde eine Woche nach dem Massaker unter Mordverdacht festgenommen. Auf seiner Jacke wurden Blutspuren von Leyla Şaylemez und Schmauchspuren festgestellt. Außerdem gibt es Video-Aufnahmen von seinem Betreten und Verlassen des Kurdistan-Informationsbüros, was auch zu seiner Verhaftung geführt hatte. Anschließend wurden Ermittlungen eingeleitet und festgestellt, dass der Mordverdächtige vom ersten Tag an einen Hirntumor hatte; dies war auch dem zuständigen Gericht und der zuständigen Staatsanwaltschaft bekannt. Im Mai 2015 wurde den Familienangehörigen der drei Frauen mitgeteilt, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien und die Akte weitergeleitet worden sei, »weil der Verdächtige krank ist und das Verfahren so schnell wie möglich durchgeführt werden muss«, hieß es.

Obwohl dies alles bekannt gewesen war, wurde der Gerichtstermin um anderthalb Jahre verschoben, zunächst auf den 5. Dezember 2016 und dann ohne Begründung auf den 23. Januar 2017. Nun stellt sich heraus, dass es einen Arztbericht über den ernsten Gesundheitszustand Güneys gibt.

Dann erreichen die Anwälte der Hinterbliebenen am 16. Dezember Informationen über den ernsten Zustand des Beschuldigten und dass sein Anwalt deshalb seine Entlassung beantragt habe. Am 17. Dezember werden die Anwälte über den Tod des Beschuldigten informiert.
Die Rolle des MIT beim Massaker wird in der Ermittlungsakte anhand des Telefonverkehrs des Beschuldigten, veröffentlichter Dokumente des MIT und von Tonaufnahmen thematisiert und es wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass die Möglichkeit der Einflussnahme des MIT bestehe. Weiterhin wird ausgeführt, dass man aufgrund der Kooperationsverweigerung der Türkei in der Frage, wie weit der MIT beteiligt gewesen sei, ob es sich nur um eine Einheit innerhalb des MIT gehandelt habe oder sich höhere Kreise eingeschaltet hätten, nicht weitergekommen sei. Der Ermittlungsakte zufolge hätten die Morde auch ein Versuch gegnerischer Gruppen des Friedensprozesses sein können, diesen zu torpedieren. Aus diesem Grunde sei auch ein Augenmerk auf die Zersplitterung im tiefen Staat, die Entwicklungen in der Parallelstruktur, die Erklärungen Recep Tayyip Erdoğans und im Besonderen auf die Verhandlungen von Oslo und Imralı gelegt worden.

Der Übergabebericht der Ermittlungsrichterin besagt, dass viele Aspekte den Verdacht der Anstiftung zum Mord und der Beteiligung des MIT in der Vorbereitungsphase begründeten. Es wird in der Anklage auch festgestellt, dass es sich bei Ömer Güney, dem Mordverdächtigen, um einen Geheimagenten handle und er mit einer oder mehreren Personen geheime Treffen in der Türkei gehabt habe. Zusätzlich wird festgehalten, dass man nicht beurteilen könne, ob die MIT-Agenten mit dem Einverständnis ihrer Vorgesetzten an diesen Treffen teilnahmen oder ihre Teilnahme freiwillig war, um den Friedensprozess zu stören. Ömer Güney habe nach seiner Festnahme in Paris verlangt, die türkische Botschaft in Paris zu unterrichten, und diese Tatsache würde den Verdacht erhärten. Nach Abschluss der Ermittlungen wurde zum ersten Mal in der Geschichte in Frankreich öffentlich auf den MIT aufmerksam gemacht. Bis heute hat es in Frankreich 25 von ausländischen Geheimdiensten organisierte politische Morde gegeben und keiner von ihnen kam jemals vor Gericht. In keinem dieser Fälle hat Frankreich die betreffenden Geheimdienste öffentlich benannt, in einigen Fällen wurden die mutmaßlichen Täter sogar den betreffenden Staaten überstellt.

Zum ersten Mal hat die französische Justiz so offen die Beteiligung eines ausländischen Staates an einem politischen Mord artikuliert. Falls es in diesem Rahmen zu einem Prozess gekommen wäre, wären diese Beziehungen im Gerichtssaal fünf Wochen lang behandelt und analysiert worden. Der Beschuldigte hätte hier quasi einer erneuten Vernehmung gegenübergestanden. In dieser Situation scheint es wie ein vorgeschriebenes Szenario, dass die Ermittlungen bei einem kranken Beschuldigten hinausgezögert werden, der Gerichtstermin um anderthalb Jahre verschoben wird und der Beschuldigte noch vor Prozessbeginn verstirbt.

Haben sie einfach gewartet, bis er starb? Oder wurde er mundtot gemacht, damit der MIT nicht im Fokus steht? Diese Fragen warten auf Antworten.

Die Versäumnisse Frankreichs bei den Ermittlungen, die Rolle des türkischen MIT beim Massaker, die Befehlsgeber für das Massaker, all diese Fragen bedürfen einer Antwort, sowohl die Familienangehörigen der drei getöteten kurdischen Frauen als auch ihre Rechtsanwälte werden den juristischen Kampf fortsetzen.

Auf der anderen Seite organisierte die Kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) am 7. Januar 2017 zum Jahrestag des Massakers eine Demonstration und am 24. Januar fand zu diesem Thema eine Konferenz statt mit der Forderung »Gerechtigkeit und Aufklärung«. Das kurdische Volk wird es nicht einfach hinnehmen. Diejenigen, die sich nun darüber freuen, »der Mörder ist tot, die Akte wird geschlossen«, sollten sich bewusst machen, dass die Zahl derjenigen, die dieses Ereignis verfolgen, von Tag zu Tag steigt und die Forderung »Gerechtigkeit und Aufklärung« überallhin getragen wird.