Aktuelle Bewertung

Der Kampf zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne

Mako Qocgiri, Ciwaka Azad e.V.

Aktuelles Plakat der Kampagne TATORT Kurdistan: tatort_kurdistan@aktivix.org»Bis zu einer halben Million Menschen sind bisher im Südosten der Türkei durch die Kämpfe zwischen der Regierung und der PKK vertrieben worden. Journalisten, die sich kritisch über das Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte äußern, droht Gefängnis […]«1

»Die Hexenjagd gegen Journalisten in der Türkei sprengt alle bekannten Dimensionen […]«2

»Indem sie Vorschriften zum Schutz vor Folter außer Kraft gesetzt hat, hat die türkische Regierung den Sicherheitsbehörden de facto einen Blankoscheck dafür ausgestellt, Gefangene nach Gutdünken zu foltern und zu misshandeln […]«3

Die türkische Regierungspartei AKP etabliert Schritt für Schritt eine brutale Diktatur in der Türkei. Die Folgen dieser Politik finden mittlerweile auch Eingang in die Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen. Lange schwiegen sie. Doch mittlerweile sind die Folgen dieser Politik so omnipräsent, dass eigentlich niemand die Augen vor ihr verschließen kann. Und doch tut sich auf der Ebene der internationalen Politik noch recht wenig. Eine unrühmliche Rolle spielt da insbesondere die deutsche Politik, doch dazu später mehr. Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf die Entwicklungen der letzten zwei Monate in der Region.

In der Türkei herrscht weiterhin der Ausnahmezustand, der kurz nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli des vergangenen Jahres ausgerufen wurde. Mittels dessen baut der türkische Staatspräsident Erdoğan das Land nach seinen Vorstellungen um. Damit der Umbau in Richtung Präsidialdiktatur reibungslos vonstattengehen kann, müssen natürlich zunächst einmal die Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Und die Hindernisse, das sind in erster Linie die kurdische Befreiungsbewegung und die linksdemokratische Opposition im Land. Gegen diese geht das AKP-Regime deshalb aktuell sehr zielgerichtet vor.

Operationen des politischen Genozids

Das besondere Augenmerk der AKP gilt hierbei der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Denn der HDP war es bei den beiden Parlamentswahlen 2015 erfolgreich gelungen, das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem zu verhindern. Nun sollen sie dafür büßen. Und der Ausnahmezustand bietet hierfür die passende Gelegenheit.

Mittlerweile befinden sich zwölf Abgeordnete der HDP (Stand 14.12.16) in Haft, darunter die beiden Kovorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Doch nicht nur die Abgeordneten sind von der flächendeckenden Rache der AKP betroffen. Tausende Mitglieder der HDP überall in der Türkei und Bakûr/Nordkurdistan wurden in den vergangenen Wochen und Monaten inhaftiert; ein Ende der Operationen ist nicht abzusehen.

Neben der HDP sind auch die zivilen gesellschaftlichen Strukturen Ziel der Angriffe des türkischen Staates. Denn auf die Zerstörung zahlreicher kurdischer Städte folgten die Absetzungen und Inhaftierungen von unzähligen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der Partei der Demokratischen Regionen (DBP). Ihre Posten werden nun von sog. Treuhändern übernommen, die von Ankara aus ernannt werden. Die Stadtverwaltungen übernehmen seitdem die Rolle von lokalen Direktionen der Kolonialherrschaft. Der Frontalangriff auf den Willen der Bevölkerung Nordkurdistans beschränkte sich nicht bloß auf die Stadtverwaltungen. Er wurde gleichzeitig flankiert durch eine breitangelegte Verbotspraxis gegen die kurdische Zivilgesellschaft. Weder Frauen- und Jugendverbände noch lokale und regionale Hilfsorganisationen blieben von den Verboten verschont. Nicht zu vergessen sind die anhaltenden Angriffe auf kurdische Medien und Journalisten, durch die der Vernichtungskampf des AKP-Regimes gegen den zivilen Bereich des kurdischen Widerstands komplementiert wird.

Die kurdische Bewegung fasst die Angriffe des türkischen Staates als »Operationen des politischen Genozids« zusammen – im Gesamtüberblick lässt sich eine passendere Umschreibung wohl kaum finden.Aktuelles Plakat der Kampagne TATORT Kurdistan: tatort_kurdistan@aktivix.org

Operationen des physischen Genozids

Wer denkt, dass die Angriffe des türkischen Staates sich allein auf Repressionsmaßnahmen beschränken, irrt sich gewaltig. Die Türkei hatte in Nordkurdistan bereits mit den Ausgangssperren, die vom Herbst des Jahres 2015 bis in das Frühjahr 2016 anhielten, unter Beweis gestellt, dass sie ihren Krieg gegen die kurdische Bevölkerung nicht nur mit Handschellen, sondern auch mit Waffen führt. Und so blendet die gegenwärtige Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe aus, dass die sogenannten Sicherheitskräfte des türkischen Staates bereits seit geraumer Zeit in Nordkurdistan Exekutionen vornehmen, die sich nicht nur gegen bewaffnete Kräfte der kurdischen Freiheitsbewegung richten. Der Menschenrechtsverein IHD spricht von mehr als 400 extralegalen Exekutionen im Jahr 2016.

Das AKP-Regime hat einen blindwütigen Vernichtungskrieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung aufgenommen und führt derzeit einen grenzüberschreitenden Krieg gegen sie. Übermütig verkünden die AKP-Funktionäre, dass sie in diesen Wintermonaten zum vernichtenden Schlag gegen die PKK und die gesamte Freiheitsbewegung ausholen wollen.

Außenpolitische Isolation und wirtschaftliche Probleme im Inland

Viel Grund zu Übermut gibt es dabei derzeit für die Türkei eigentlich nicht. Denn außenpolitisch steckt das Land weiter in der Sackgasse. Der Versuch, sich über die Teilnahme am internationalen Kampf gegen den IS zu profilieren, kann als gescheitert betrachtet werden. Zu frisch sind die Erinnerungen an den Schulterschluss des türkischen Staates mit dem IS beim Kampf um Rojava. Und so finden die Befreiungsoperationen gegen Raqqa im Norden Syriens und gegen Mûsil im Nordirak ohne türkische Beteiligung statt. Die Besatzungsoperation der Türkei im Norden Syriens ist zwar noch in vollem Gange. Aber nach der Niederlage der islamistischen Partner der Türkei in Helep (Aleppo) ist die Zusammenarbeit eher von Missmut geprägt. Auch die wiederholten Luftschläge gegen die Operation »Euphrat-Schild«, so der Name der türkischen Besatzungsoperation in Nordsyrien, machen klar, dass es dort Gegenwind für die Türkei gibt. Zwar ist offiziell nicht klar, wer hinter diesen Luftschlägen steckt, hinter vorgehaltener Hand wird aber zumindest von der Zustimmung Russlands für die Angriffe ausgegangen.

Ähnlich schwierig ist die derzeitige Ausgangslage für die Türkei im Norden des Irak. Eine Teilnahme an der Mûsil-Operation scheint aussichtslos. Und auch die gegenwärtige Annäherung zwischen der südkurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung ist nicht im Sinne von Ankara. Dennoch ist die Türkei weiterhin darum bemüht, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) für ihre Pläne zu einem Großangriff auf die Qandilberge einzuspannen, der womöglich noch in diesem Winter stattfinden soll. Auch der Einfluss der kurdischen Freiheitsbewegung im Şengal-(Sindschar-)Gebiet wird sowohl von der südkurdischen PDK als auch der Türkei als Störfaktor betrachtet.

Insgesamt ist der Handlungsspielraum des türkischen Staates in der internationalen Politik somit eher beschränkt. Verstärkt wird dies durch den wirtschaftlichen Druck, unter dem das AKP-Regime aktuell leidet. Die Türkei steht am Rande einer Rezession. Die ausbleibenden Auslandsinvestitionen, der Wertverlust der Türkischen Lira und das Schrumpfen der Wirtschaft sind Ausdruck einer sich anbahnenden Krise, die weite Teile der Bevölkerung treffen dürfte. Noch gelingt es dem AKP-Regime mit nationalistischer Propaganda die Krise zu übertünchen. Doch die Fassade beginnt bereits zu bröckeln.

Der Geist der demokratischen Moderne

Weitaus mehr als die eben genannten Punkte dürfte der anhaltende Widerstand der kurdischen Bevölkerung der AKP Kopfzerbrechen machen. Denn trotz aller Angriffe ist der Widerstandswille in Nordkurdistan ungebrochen. Für die organisierten Strukturen innerhalb der kurdischen Gesellschaft sind Verbote und Verhaftungen nichts Neues. Nach den KCK-Operationen zwischen 2009 und 2011 haben die kurdischen bzw. prokurdischen Parteien bei den Kommunalwahlen 2014 und Parlamentswahlen 2015 Rekordstimmenanteile eingefahren. Insofern dürfte der türkische Staat enttäuscht werden, wenn er sich mit seiner aktuellen Angriffswelle andere Ergebnisse erhofft. Das Verbot eines Vereins bedeutet in Nordkurdistan noch lange nicht, dass die Arbeiten, die unter dessen Dach ausgeübt worden sind, auch eingestellt werden. Die Zivilgesellschaft hat bereits angekündigt, dass sie ihre politischen und gesellschaftlichen Arbeiten unvermindert fortsetzen wird.

Gleichzeitig wächst der Einfluss der kurdischen Freiheitsbewegung in Südkurdistan und der Föderation Nordsyrien – Rojava weiter. Diese Tatsache drückt sich nicht bloß durch die anhaltenden Erfolge im Kampf gegen den IS aus. Vielmehr verbreitet sich der Geist der demokratischen Moderne innerhalb der Gesellschaften des Mittleren Ostens. Aus den multiethnischen militärischen Bündnissen in Nordsyrien erwachsen Projekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Völker. Die Rolle der Frauen im Kampf gegen den IS strahlt auf alle Frauen im Mittleren Osten aus und beflügelt den Frauenfreiheitskampf in der Region. Und die demokratische Selbstverwaltung in Rojava/Nordsyrien wird auch immer mehr für die Bevölkerung Südkurdistans zu einer greifbaren Alternative zu dem autokratischen System der KRG, zu dem die Menschen zunehmend das Vertrauen verlieren.

Doch diese Ausstrahlungskraft der kurdischen Freiheitsbewegung macht sie für weitaus mehr Mächte als bloß die Türkei zu einer potentiellen Bedrohung. So darf die punktuelle Zusammenarbeit zwischen der internationalen Koalition und den demokratischen Kräften in Nordsyrien nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Geist des globalen Kapitalismus und der Geist der demokratischen Moderne in diametralem Widerspruch zueinander stehen. So darf, trotz der aktuell durchaus vorhandenen Widersprüche zwischen dem Westen und der Türkei, die Möglichkeit eines gemeinsamen Angriffs dieser Mächte auf die kurdische Freiheitsbewegung auf Grundlage eines Kompromisses nie außer Acht gelassen werden. Denn während der türkische Staat auf die vollständige Vernichtung der Freiheitsbewegung abzielt, setzt der Westen wohl eher auf ihre Schwächung, um so die Gefahr, die durch die Freiheitsbewegung für die eigenen Interessen ausgeht, zu entschärfen.

Vom Ausnahmezustand zum Dauerzustand – mit freundlicher Unterstützung der BRD

Um noch einmal zurück zu der Situation in der Türkei zu kommen: Die AKP hat eine faschistische Koalition mit der MHP gebildet, um mit den gemeinsamen Stimmen im Parlament über ein Referendum eine Verfassungsänderung durchzubringen. Als mögliches Datum für das Verfassungsreferendum wird der 2. April genannt. Dann soll also nach dem Wunsch der AKP das Präsidialsystem eingeführt werden. Die Frage, wie das System dann aussehen soll, erübrigt sich, wenn man einen Blick auf den gegenwärtigen Ausnahmezustand in der Türkei wirft. Kurz gefasst will Erdoğan diesen Ausnahmezustand zum Dauerzustand machen.

Dass die Türkei derzeit damit beschäftigt ist, die Hindernisse für dieses System aus dem Weg zu räumen, haben wir oben beschrieben. Doch lohnenswert ist in diesem Zusammenhang noch mal der Blick auf die Rolle Deutschlands. Obwohl die türkische Regierung mit ihrem aggressiven Auftreten gegenüber Europa und Deutschland immer wieder für öffentliches Aufsehen sorgt, steht die deutsche Bundesregierung derzeit so treu an der Seite der AKP wie wohl kein anderer Staat in Europa. Unvergessen ist die freiwillige Wahlkampfhilfe Merkels für Erdoğan bei den Neuwahlen vom 1. November 2015. Im Gegenzug für diese Schützenhilfe hält das Erdoğan-Regime nun nicht nur das »Flüchtlingsproblem« von Deutschland fern. Auch die Waffenexporte von Deutschland in Richtung Türkei haben sich allein bis Ende November 2016 gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt. Und dabei handelt es sich um Waffen, die nachweislich auch im Krieg in Kurdistan eingesetzt werden.

Ebenso erfährt die AKP für die Repressionspolitik des türkischen Staates gegen kurdische Aktivisten Unterstützung aus Deutschland. Festnahmen und Verfahren gegen kurdische Aktivisten in Deutschland gibt es aktuell so viele wie schon lange nicht mehr. Und die Verbotsverfügungen gegen das Zeigen von Fahnen und Bildern bei Demonstrationen haben bereits ein ähnliches Ausmaß wie in der Türkei angenommen.

Das reicht der Türkei aber noch lange nicht. Sie ruft nicht nur die deutsche Bundesregierung immer wieder dazu auf, aktiver gegen vermeintliche Strukturen der PKK in der Bundesrepublik vorzugehen. Nein, sie setzt wohl nun auch ihre geheimdienstlichen Kräfte in Deutschland dafür ein, kurdische Aktivisten in Deutschland und Europa auszuschalten. Entsprechende Meldungen kursierten bereits auch in den deutschen Medien. Während also in Paris das Verfahren gegen den mutmaßlichen Mörder von Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 23. Januar beginnt, ist nicht auszuschließen, dass sich ähnliche Taten in Deutschland und Europa wiederholen. Die deutsche Politik zieht es unterdessen vor, gegenüber den Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes hierzulande beide Augen zu verschließen.

Und das neue Jahr?

Das Jahr 2017 wird nicht einfach, das steht außer Frage. Aber es wird zugleich auch ein Jahr werden, das im Zeichen des Widerstands steht. Und mit dem Widerstand entwickeln sich oftmals Dynamiken, die nicht von vornherein abzusehen sind. Während in Nordkurdistan der Kampf gegen das AKP-Regime anhält, könnten sich im Zuge einer Wirtschaftskrise auch im Westen der Türkei unverhoffte Widerstandspotentiale gegen die Diktatur Erdoğans entwickeln. Und während in Südkurdistan die Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung weiter Fuß fassen werden, gilt es in der demokratischen Föderation Nordsyrien – Rojava die gesellschaftliche Alternative weiter auszubauen und zu verteidigen. Eine Einschätzung zu Rojhilat, dem Osten Kurdistans, fällt derzeit schwer, da es von außen kaum einen Einblick in die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des Iran gibt. Aber dass der Ausbau der Revolution von Rojava auch die Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Alternative in Rojhilat stärkt, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Und in Deutschland? Hier wird es wohl unsere gemeinsame Aufgabe sein, die Solidarität mit dem Freiheitskampf in Kurdistan weiter zu entfalten, gegen das PKK-Verbot und die Unterstützung Deutschlands für die Erdoğan-Diktatur zu arbeiten und aus der Praxis und Theorie der kurdischen Freiheitsbewegung Kraft für die hiesigen Kämpfe zu schöpfen.


 Fußnoten:
1 Amnesty International, 08.12.2016; http://www.amnesty.de/2016/12/8/amnesty-warnt-vor-zunehmender-unterdrueckung-der-zivilgesellschaft-weltweit?destination=startseite
2 Reporter ohne Grenzen, 13.12.2016; https://www.reporter-ohne-grenzen.de/presse/pressemitteilungen/meldung/weltweit-mindestens-348-journalisten-in-haft/
3 Human Rights Watch, 25.10.2015; https://www.hrw.org/de/news/2016/10/25/tuerkei-notstand-ermoeglicht-folter