Ein weiterer Aspekt der Jineolojî

Bewusstseinsbildung als Grundlage von Selbstverteidigung

Andrea Benario

Selbstverteidigung – ein Konzept, dessen Bedeutsamkeit für die Befreiung der Frauen und Gesellschaften gerade in Nordsyrien/Rojava und Bakûr offensichtlich wird. Wir können in der ganzen Welt eine Zunahme von direkten und indirekten Angriffen gegenüber Frauen beobachten. Hier werden diese Angriffe besonders deutlich, weil es nicht nur Angriffe auf Einzelne sind, sondern Angriffe – und zwar auf allen erdenklichen Ebenen – auf eine starke Frauenbewegung.Bewusstseinsbildung als Grundlage der Selbstverteidigung

In Nordsyrien/Rojava findet eine Revolution der Frauen statt: Frauen beteiligen sich aktiv an der militärischen Befreiung und Verteidigung und sind die treibende Kraft im revolutionären Aufbau einer befreiten Gesellschaft. Sie arbeiten in allen erdenklichen Bereichen. Vor allem aber entwickeln sie selbst Vorstellungen davon, wie eine freie Gesellschaft aussehen könnte und setzen diese Vorstellungen selbst um. Sie kämpfen gegen die vorherrschende patriarchale Mentalität, in der »der Mann« mit seinen Sichtweisen im Zentrum steht und die das Verhältnis von Individuen durch das Prinzip von Herrschaft bestimmt. Grundlage dieses Kampfes sind Methoden wie beispielsweise kollektive und ständige Selbstbildung, Kritik und Selbstkritik, autonome Selbstorganisierung in allen Bereichen der Gesellschaft, wozu auch das Schaffen von autonomen Frauenräumen an allen erdenklichen Orten gehört.

Der Angriff auf diese Frauenrevolution findet neben dem offensichtlich militärischen Angriff schon an dem Punkt statt, dass diese nicht in die öffentliche Wahrnehmung gelangt, weil sie entweder gar nicht oder nur verzerrt dargestellt wird. Der Kampf um Freiheit in Nordsyrien und Rojava wird in den allermeisten Fällen als nationalistischer Kampf der kurdischen Bevölkerung dargestellt. Dass es dabei grundlegend um Frauenbefreiung, die Frage des freien Zusammenlebens von Menschen verschiedener Religionen, Ethnien, Geschlechter geht, das freie Zusammenleben in Vielfalt, wie es essentieller Bestandteil der hier gelebten Frauenbefreiungsideologie ist, wird geflissentlich ignoriert. Sollte die Frauenbefreiung doch Erwähnung finden, so wird sie so dargestellt, dass in der Föderation Nordsyrien–Rojava für Frauen Strukturen geschaffen werden, damit sie auch an den Errungenschaften teilhaben können. Das ist ein grundlegender Unterschied dazu, dass tatsächlich diese Strukturen von den Frauen Nordsyriens und Rojavas selbst – entlang ihre kollektiv erarbeiteten Sichtweisen auf eine freie Gesellschaft – geschaffen wurden und sie diese weiter ausbauen und verteidigen. Die nun durch den Eintritt der Türkei in den syrischen Bürgerkrieg massiven Angriffe auf die Bevölkerung Nordsyriens und Rojavas sind vor allem auch als Angriffe auf diese Frauenrevolution zu sehen.

Die Realität außerhalb der Föderation Nordsyrien–Rojava sieht so aus, dass es nach wie vor selbstverständlich erscheint, dass weiße, reiche Männer der imperialistischen Staaten darüber entscheiden können, was mit diesen selbstbewussten, für die Freiheit aller Menschen kämpfenden Frauen und ihrem Land, auf dem sie aufgewachsen sind und für das sie kämpfen, passieren wird, ohne dass sich zumindest einigermaßen wahrnehmbarer feministischer Widerstand regt. Woran liegt das nur?

Ich sehe einen der wichtigsten Gründe dafür in der Neoliberalisierung und damit einhergehenden Befriedung der feministischen Bewegungen, die eine Auseinandersetzung mit Selbstverteidigung auf eine rein körperliche und individuelle Ebene beschränkt hat.

Ich möchte deshalb im Folgenden in Auseinandersetzung mit der von Öcalan entwickelten Theorie der Rose und der von den Frauen in der Föderation Nordsyrien–Rojava umgesetzten Selbstverteidigung, die ich hier kennen gelernt habe, reflektieren, wieso ich es für äußerst wichtig halte, dass sich feministische Bewegungen und Individuen als historisch bedeutsame Kräfte verstehen und sich mit ihrer Verteidigung auseinandersetzen sollten.

Selbstverteidigung – çî ye?

Zunächst einmal will ich beschreiben, wie ich – in Anlehnung an Öcalan und die Umsetzung in der Föderation Nordsyrien–Rojava damit – das Konzept von Selbstverteidigung verstehe.

In der Föderation Nordsyrien–Rojava gibt es mehrere Kräfte, welche die Aufgabe der Selbstverteidigung der Bevölkerung übernehmen, sie alle haben neben einer gesamtgesellschaftlichen Organisierung auch autonom organisierte Frauenkräfte: die HPC Jin/HPC, die Asayîşa Jin/Asayîş und die YPJ/YPG. Die HPC Jin/HPC sind ausführende Kraft der Verteidigungsräte der Kommunen und vor allem für die Verteidigung in den jeweiligen Stadtteilen verantwortlich. Die Asayîşa Jin/Asayîş sind zuständig für die Verteidigung der befreiten Städte und Dörfer. Die YPJ/YPG schließlich sind zuständig für die Verteidigung der Außenlinien der befreiten Gebiete.

So viel zu den »klassisch« der Verteidigung zugeordneten Kräften. Ich möchte aber, in Anlehnung an die Konzeption von Selbstverteidigung, noch auf einige andere Kräfte eingehen, die auf einer ideologischen und organisatorischen Ebene zur Verteidigung der antipatriarchalen Ideale und Ziele der Revolution in Rojava und Nordsyrien arbeiten: die Jineolojî und Kongreya Star. Kongreya Star ist die Dachorganisation aller organisierten Kräfte, die für die Befreiung von Frauen arbeiten. Ich zähle Kongreya Star deshalb zu den Verteidigungskräften, weil sie die Kraft der Organisierung – das heißt die Herausbildung eines kollektiven Bewusstseins und einer kollektiven Kraft zur Umsetzung dieses gemeinsam erarbeiteten Bewusstseins – darstellt. Kongreya Star schafft die Räume einer ethisch-politischen Gesellschaft, in denen Frauen zusammenkommen, in denen sie ihre gemeinsame Kraft erfahren können, die geteilten Probleme sichtbar werden, sie gemeinsam über die Lösungen für ihre Probleme diskutieren. Ich bin immer wieder fasziniert von der Vielzahl und Vielfalt der so geschaffenen Räume. Es werden überall, in jeder Stadt, in jedem Dorf, Orte geschaffen, an denen ein ganz anderer Geist herrscht, eine konstruktive, positive, kämpferische Energie spürbar ist. Ich kenne keine andere Gegend – zumindest im sich als emanzipiert verstehenden globalen Norden nicht –, in der so viele Frauen zusammenkommen, um gemeinsam über die politische Lage, die gemeinsame Geschichte, die aktuellen Probleme zu diskutieren.

Die Jineolojî ist ein Teil von Kongreya Star im Bereich von Bildung. Die Jineolojî beschäftigt sich mit der Erforschung der Geschichte der Frauen, der Lebensweisen von historischen Gesellschaften, der Entwicklung des Patriarchats, der Situation der Frauen und Gesellschaften heute und den Vorstellungen davon, wie ein freies Zusammenleben in einer freien Gesellschaft aussehen kann. Sie vertieft die von Öcalan begonnen Vorschläge eines freien Zusammenlebens, der schrittweisenen Auflösung der patriarchalen Familie, der Auseinandersetzung und Überwindung von Sexismus und Rollenstereotypen und sucht nach antipatriarchalen Grundlagen und Formen von Wirtschaft, Politik, Geschichte, Demografie, Ökologie, Bildung, Ethik und Ästhetik und Gesundheit. Sie führt eine tiefe Auseinandersetzung mit den vergeschlechtlichten Persönlichkeiten, analysiert bestimmte Muster und sammelt Wissen darüber, wie Persönlichkeiten gestärkt werden können, um zu freien Persönlichkeiten zu werden. Sie suchen nach Möglichkeiten, wie Frauen sich selbst kennen lernen können. Was ist denn Freiheit überhaupt? Was bedeutet Leben? In welcher Gesellschaft leben wir? Was ist meine Würde? Was will ich? Wie sieht ein antipatriarchaler Freiheitskampf aus?

Die Verteidigung wäre nicht zu denken ohne die Gesellschaft und die Utopie, die sie verteidigt. Und die Utopie, der Aufbau einer freien Gesellschaft, wäre undenkbar ohne die Kräfte, die sie verteidigen. Denn was sich hier in Syrien, Rojava, Bakûr, dem Mittleren Osten eben auch zeigt, ist der Unterschied zwischen Frieden und Befriedung.

Aus all diesen Auseinandersetzungen ist eine Kraft gewachsen, die ein eigenes System, eine Alternative, einen anderen (Aus)Weg aus der Gewaltspirale, dem Chaos im Mittleren Osten, aber auch der gesamten Welt aufzeigt. In der Föderation Nordsyrien–Rojava wird dieses neue System gelebt und verteidigt. Die Verteidigung wäre nicht zu denken ohne die Gesellschaft und die Utopie, die sie verteidigt. Und die Utopie, der Aufbau einer freien Gesellschaft, wäre undenkbar ohne die Kräfte, die sie verteidigen. Denn was sich hier in Syrien, Rojava, Bakûr, dem Mittleren Osten eben auch zeigt, ist der Unterschied zwischen Frieden und Befriedung. Eine befriedete, willenlos gemachte, gehörige Gesellschaft, die das unterdrückerische System, in dem sie lebt, nicht mehr in Frage stellt, muss auch nicht bekämpft werden. Das ist die aktuelle Situation im globalen Norden, in den sich als entwickelt, fortschrittlich verstehenden Gesellschaften. Befriedete Menschen, die nicht mehr wissen, wofür sie leben. Menschen, die keine Nachrichtensendung mehr schauen, weil sie erkennen, dass sie keinerlei Mittel haben, um zu verhindern, was sie dort sehen. Menschen, die sich aus lauter Angst, ihren Job zu verlieren, »freiwillig« krank zur Arbeit schleppen. Menschen, die keine Kinder mehr bekommen wollen, weil sie Karrieren behindern. Menschen, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen, weil sie aufgrund eines Unwetters eine Stunde zu spät zur Arbeit kommen. Menschen, die ständig so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie nicht mehr merken, dass sehr viele Menschen das gleiche Problem haben. Menschen, die nicht mehr an sich und andere Menschen glauben. Menschen, die voreinander Angst haben. Menschen, die die Verdorbenheit der Welt einfach akzeptiert haben. Uns wird vorgemacht, das wäre Frieden.

In Rojava und Nordsyrien hat sich gezeigt und zeigt sich jeden Augenblick aufs Neue, welche Kraft Menschen entwickeln können, die an sich glauben. Die den Wert des Lebens kennen, die ihre eigene Würde kennen. Die eine Vorstellung davon haben, wie sie leben wollen, und einen Anknüpfungspunkt, damit zu beginnen. Das Wissen um diese Kraft ist für mich der wahre Kern der Selbstverteidigung. In Bakûr sehen wir, wie schnell und unerbittlich Angriffe auf den Willen einer Gesellschaft erfolgen, der nicht der Staatsdoktrin entspricht. Und genau aus diesem Grunde braucht es auch die physische Verteidigung. Was hilft es uns, wenn wir unsere Lebenswürde wiedererlangen und diese sofort wieder ausgelöscht wird? Wir dürfen, auch wenn wir mit all unserer Kraft auf politische Lösungen hinarbeiten, niemals die Gewalttätigkeit der Kapitalismus und Staat zugrunde liegenden Mentalität vergessen und müssen immer auf die erneute Entfesselung der Gewalt vorbereitet sein. Wir im globalen Norden dürfen auch nicht vergessen, dass unsere heutigen kapitalistischen Nationalstaaten ohne ihre brutale Geschichte, allem voran die globale Auslöschung der sogenannten Hexen und ihres Wissens, nicht existieren würden (vgl. Silvia Federici (2015): Caliban und die Hexe, Mandelbaum Verlag, Budapest). Unser »friedliches« Leben heute baut darauf auf, und wenn wir unseren Fokus auf globalen Maßstab erweitern, sehen wir, wie noch immer Vertreibung, Ausplünderung und Krieg notwendige Bedingungen des Lebens im kapitalistischen und staatlichen System sind. Das sollten wir stets bedenken, wenn wir wie selbstverständlich von Gewaltlosigkeit sprechen.

Mit den Beispielen Bakûr und Nordsyrien/Rojava zeigt sich der Zusammenhang von physischer und geistiger Selbstverteidigung, kann ich nun wieder zurückkommen zu den (auch) physisch kämpfenden Verteidigungskräften HPC, Asayîş und YPJ. Sie alle wissen sehr genau, was sie verteidigen, also wofür sie kämpfen, nämlich die von Öcalan vorgeschlagenen und von der Jineolojî vertieften Grundlagen einer freien Gesellschaft. Sie setzen sich tagtäglich damit auseinander, wie sie dort hinkommen, obwohl sie (momentan noch) zu Mitteln gezwungen sind, die sie eigentlich überwindenen wollen. Sie diskutieren, wie sie erreichen können, dass sie die Waffe möglichst wenig einsetzen müssen. Sie diskutieren, was es bedeutet, eine revolutionäre Kraft zu sein, ohne erneut die Herrschaft über andere zu übernehmen. Sie diskutieren über die Kunst, wie sie als revolutionäre Persönlichkeiten der Gesellschaft einen Weg öffnen können, der sie zu mehr Freiheit, Liebe und Schönheit führt. Was eine revolutionäre Persönlichkeit ausmacht, was die geteilten revolutionären Werte sind, wie sie diesen gemeinsam und immer in Austausch mit der Gesellschaft näher kommen können. Selbstverteidigung muss also notwendigerweise auf allen Ebenen stattfinden und – da es kein Angreifen ist, sondern sich eben um Verteidigung handelt – hängt immer auch zusammen mit der Form der Angriffe.

Gewalt – çî ye?

Beschäftigen wir uns also ein wenig genauer mit diesen Angriffen. Wenn wir von Selbstverteidigung sprechen, ist es notwendig zu definieren, wogegen wir uns verteidigen, was Gewalt überhaupt ist. Ich will mich hier auf Arendt beziehen, die Gewalt von Macht unterscheidet. Gewalt bezeichnet sie als ein Mittel zum Zweck, eine Methode, andere zu etwas zu bringen, was sie von sich aus nicht tun würden. Macht dagegen ist eine Kraft, die daraus entsteht, wenn sich Menschen im Rahmen von Gesetzen mit anderen Menschen zusammenschließen und Einfluss auf das gemeinsame politische Leben nehmen. Sie tun das nicht aus Gehorsam, sondern aus Überzeugung (vgl. Hannah Arendt (1970): Macht und Gewalt. TB, München, Zürich, 15. Aufl., 2003).

Arendt hat sich intensiv mit den verschiedenen Formen von Gewalt auseinandergesetzt, unter anderem auch mit der Frage der sogenannten Gegengewalt zu Zeiten der Student_innenrevolten in den späten 1960er, 1970er und 1980er Jahren. Sie kritisierte die Gewaltverherrlichung in Teilen der revolutionären Linken. Sie warnte vor einer Vorstellung eines »Sieges«, durch den sich nicht das gewaltvolle System, sondern nur das »Personal« verändert. Als positives Beispiel nennt sie den Volksaufstand in Ungarn 1956, in dem Überzeugungskraft und geistige Überlegenheit dazu führten, dass auch das Militär sich weigerte, auf die Demonstrierenden zu schießen (ebd.).

Arendt argumentiert, dass politische Systeme immer auf Macht – die Legitimation, dass sie Ausdruck des Willens der Gesellschaft sind – basieren müssen und diese nicht vollständig durch Gewalt ersetzt werden kann. Macht kann dabei nur aus einer bewussten Öffentlichkeit entspringen. Sie setzt sich für eine rätedemokratische Föderation ein, deren (Selbst)Zweck es ist, dass sich Menschen über einen gemeinsamen Willen verständigen und die zur Ausführung dieses gemeinsamen Willens notwendigen Institutionen schaffen. Da es sich hierbei um einen Selbstzweck handelt, ist das Mittel Gewalt in einem solchen System nicht mehr notwendig. Sie sagt, dass jedes herrschaftliche System zumindest zu einem kleinen Teil auf Macht basiere. Ohne die Legitimation durch obrigkeitshörige Teile der Gesellschaft wären auch totalitäre Herrschaftssysteme wie das faschistische Hitler-Deutschland nicht möglich gewesen (ebd.). Das heißt aber auch, dass ein System, das nur auf Gewalt basiert, nicht möglich ist und es immer die Möglichkeit gibt – durch Wissen und Bewusstseinsbildung –, diesem System die Machtbasis zu entziehen. Gewalt einsetzende Herrschaftssysteme sind damit nie langfristig denkbar, sie werden nicht überdauern.

Die Frage ist allerdings, wie Wissen entsteht. Ich verstehe den Prozess der Wissensbildung als einen, der notwendigerweise mit praktischer Erfahrung verbunden sein muss. Das heißt in der Konsequenz, dass für eine gesellschaftliche Veränderung es notwendig ist, Orte aufzubauen, an denen Erfahrungen von Kollektivität, Gemeinschaftlichkeit, Zusammenhalt gemacht werden können. Orte wie Rojava. Diese Orte müssen aufgrund der dort vorherrschenden Gewaltformen auch physisch verteidigt werden.

Wir können in den neoliberalen Staaten nicht mehr davon sprechen, dass es noch zu einer kollektiven Aushandlung darüber, wie wir leben wollen, kommen würde. Sie wurde durch Vereinzelung und konsumistische Ablenkung vollkommen ausgeschaltet. Wir können von einer befriedeten Gesellschaft ohne einen Willen, ohne ein Bewusstsein sprechen. Alle halten den kleinen, individuellen Willen für das Ultimative und ziehen sich zur Umsetzung dessen so weit zurück, bis sie vollkommen isoliert sind von jeder Macht. Die »Bürger_innen« der Repräsentativdemokratien, die sich so unglaublich frei fühlen, haben keinerlei Möglichkeit mehr, Einfluss zu nehmen auf das politische Weltgeschehen. Sie haben keine Möglichkeit, Leid, Armut, Krankheit, Zerstörung, Ermordung ihrer Mitmenschen zu verhindern. Diejenigen unter ihnen, die noch ein wenig ihrer Menschlichkeit, ihrer Empfindsamkeit bewahren konnten, haben aufgehört, sich die Nachrichten aus der Welt anzuschauen und beschränken sich in ihrer Auseinandersetzung nur noch auf einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten.

Durch die kurdische Bewegung zur Umsetzung des Vorschlags Öcalans des demokratischen Konföderalismus wurde ein Prozess begonnen, den Willen der Gesellschaft (wieder) zu finden. An der Gewalt, die durch diesen Prozess hervorgerufen wird, können wir sehen, dass er zwar einerseits erfolgreich ist, »weil Machthaber, die fühlen, daß die Macht ihren Händen entgleitet, der Versuchung, sie durch Gewalt zu ersetzen, nur sehr selten in der Geschichte haben widerstehen können« (Hannah Arendt: Macht und Gewalt, S. 86), andererseits aber bislang nicht breit und radikal genug geführt wurde, um die Gewalt zu verhindern und die Gesellschaft darauf vorzubereiten, wie schmerzhaft die Suche nach Wahrheit, die Suche nach Freiheit sein wird. An der Zunahme der Gewalt in der Türkei lässt sich dieses Wechselspiel sehr gut nachzeichnen. Es hätte nicht zu diesem Punkt kommen müssen. Es gab im Vorfeld viele andere Möglichkeiten, um den Ausbruch von Gewalt zu verhindern. Es ist einfach, alle Schuld auf eine Person – Erdoğan – zu projizieren. Wäre das Bewusstsein aller demokratischen Kräfte ausgebildeter gewesen, hätten sie besser verstanden, welche Logik, welche Gewalt hinter der Staatsmentalität steckt, wäre die Arbeit mit der Bevölkerung, der Aufbau von alternativen Strukturen, von Beziehungen zwischen verschiedenen freiheitlichen Bewegungen radikaler und intensiver geführt worden. Dann wären Bündnisse stärker ausgebildet worden, Grabenkämpfe weniger wichtig genommen worden, individuelle Bedürfnisse zurückgestellt worden. Ich will damit nicht die Urheberschaft der Gewalt verschleiern, diese liegt ganz klar auf Seiten Erdoğans und seiner Gehilfen.

Was also tun?

Was ist also unsere Antwort auf die immer größer werdende Gewalt gegen Frauen und gesellschaftliche Kräfte an allen Orten? Wie verteidigen wir uns und unsere Mitmenschen dagegen? Wie können wir uns aus der oben beschriebenen Ohnmacht befreien und wieder eine Rolle spielen in der Gestaltung dieser Welt?

Es ist von größter Bedeutsamkeit, kollektive Lern- und Erfahrungsräume zu schaffen, um sie mit revolutionärem Wissen und Schönheit zu füllen. Es braucht die Intensivierung der gemeinsamen Suche nach Wahrheit, die gemeinsame und tiefe Auseinandersetzung (nicht Abgrenzung!) damit, was es bedeutet, eine Frau zu sein (auch wenn wir wissen, dass wir über tausende von Jahren zu dem gemacht worden sind, was wir heute als Frau bezeichnen, müssen wir doch akzeptieren, dass wir nun so sind, wie wir gemacht wurden, um diesen Zustand überwinden zu können), was es bedeutet zu leben, was es bedeutet, eine Gesellschaft aufzubauen und zu schützen, was es bedeutet, frei leben zu wollen. Die Erforschung unserer Geschichte und wie sie unsere heutigen Persönlichkeiten und Konzepte prägt. Es braucht – kollektives – Wissen darüber, wie unsere Gesellschaften von matriarchalen in patriarchale Formen transformiert wurden und auf welchen Werten diese basierten. Wir brauchen kollektives Wissen, um uns nicht länger weismachen zu lassen, dass der Mensch an sich schlecht und egoistisch ist und deshalb nur im Nationalstaat und Kapitalismus leben bzw. besser gesagt funktionieren kann. Matriarchate beispielsweise, die es gab und immer noch gibt, basieren auf mütterlichen Werten wie der Sorge für jeden Menschen mit seinen Eigenheiten. Die matriarchale Gesellschaft orientiert sich an den Bedürfnissen aller. Sie organisieren sich nichthierarchisch, Entscheidungen werden im Konsensprinzip getroffen (siehe: Heide Göttner-Abendroth (2013): Matriarchal Societies and the way into an egalitarian Society. In Israel gehaltener Vortrag). Wir müssen das große Wissen dazu, das es schon gibt, erstens verbreiten, kollektivieren und zweitens mit dem tiefen Wissen, das wir alle noch in uns tragen, verbinden.

Um sich ein gemeinsames Bewusstsein erarbeiten zu können, braucht es eine ernsthafte Auseinandersetzung der westlichen Welt mit der Philosophie und den Vorschlägen Öcalans. Das setzt ein tiefes Verstehen voraus. Ein Verstehen der Philosophie, aber auch der historischen Umstände. Dieser Prozess braucht Zeit, deswegen sollte er möglichst schnell begonnen werden. Bislang ist mir fast nur eurozentristische Kritik bekannt, eine Kritik, die der gleichen patriarchalen Linie folgt, die sie (manchmal) abzulehnen vorgibt. Sie beruht auf Abwertung und Objektivierung. Eine solidarische Kritik zielt auf Verbesserung. Sie gibt Anstöße, damit sich Menschen, Gesellschaften, Theorien verbessern können. Die westliche Welt muss anerkennen, welche eindrucksvollen, wunderschönen, zur Praxis gewordenen Ideen durch Öcalan und die Menschen, die ihn als den Wegöffner bezeichnen, hervorgebracht wurden.

Der von Öcalan vorgeschlagene demokratische Konföderalismus ist im Grunde der organisatorische Rahmen, um Menschen zu einem kollektiven Bewusstsein zu führen: Er schafft die Möglichkeiten, damit die Gesellschaften sich kennen lernen und austauschen können, ihre jeweiligen Bedürfnisse organisieren (wozu sie sie erst einmal diskutieren müssen) und so in einen gemeinsamen Bewusstwerdungsprozess eintreten.

Für eine wirkliche Veränderung unserer nicht sehr vortrefflichen Lage braucht es eine Einsicht der demokratischen Kräfte in die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes. Ein Bekenntnis der demokratischen Kräfte zum demokratischen Konföderalismus, durch den gemeinsam in vielen Farben gekämpft werden kann, ist die Voraussetzung dafür. Für die Befreiung der Frau braucht es eine weltweite, aus den lokalen Gegebenheiten aufgebaute feministische Bewegung, die den kollektiven Rahmen darstellt, um lebenspraktische Auseinandersetzungen zu führen und Lösungen für Probleme zu finden. Es reicht nicht – wie in den westlichen Demokratien der Fall –, von Rechten auf dem Papier auszugehen, die nicht umgesetzt werden, weil keine gesellschaftliche Kraft dahintersteht. Wir dürfen die Frauenbefreiung nicht individualisiert sehen, die Umsetzung den Einzelnen überlassen, sondern müssen uns und unsere Probleme, unsere Geschichte gemeinsam kennen und lösen lernen. Ohne entsprechende Strukturen ist das unmöglich.

Wir müssen vor allem auch an uns glauben. Davon ausgehen, dass die freiheitlichen Gedanken für jeden Menschen einsichtig sein werden, der sich auf die Suche nach Wahrheit begeben hat. Wir sollten uns nicht länger mit unsolidarischer Kritik aufhalten, sondern gemeinsam kämpfen (was solidarische Kritik beinhaltet) und positive Beispiele schaffen bzw. unterstützen.

Eines dieser positiven Beispiele ist die Föderation Nordsyrien–Rojava als Ort der Frauenbefreiung auf allen Ebenen. Es ist notwendig, ihr diese Bedeutung zu geben und mit all unserer Kraft und auf allen Ebenen zu verteidigen. Mit Rojava bzw. der Föderation Nordsyrien–Rojava ist die Realisierung unseres Traumes von Räterepublik, kommunalem Sozialismus, radikaler Demokratie oder demokratischem Konföderalismus, wie auch immer wir es nennen mögen, möglich geworden. Es ist noch ein langer Weg zu gehen, aber hier ist ein Ort entstanden, an dem es möglich ist, Gedanken, Konzepte, Utopien in die Tat umzusetzen. Hier können so wichtige Erfahrungen gemacht werden, selbst die Initiative zu übernehmen, selbst etwas aufzubauen, was den eigenen Idealen entspricht, was es bedeutet, eine unterdrückte Gesellschaft zur Befreiung zu führen und sie zu verteidigen. Das ist praktisches, emotionales und organisatorisches Wissen, das nicht mehr verloren gehen kann. Auch Bakûr muss mit allen Kräften unterstützt werden. Es sollte mittlerweile offensichtlich geworden sein, dass die Gewalt gegen die kurdische Gesellschaft nicht auf einen ethnischen Konflikt zu reduzieren ist. Es ist der Aufbau eines diktatorischen Systems, das Hand in Hand mit dem Kapitalismus läuft. Die Auslöschung der kurdischen Bevölkerung ermöglicht die Ansiedlung neuer, leichter auszubeutender Menschen. Es ist die Zuspitzung der patriarchalen Logik der Vereinheitlichung, Homogenisierung und Menschen zu Statist_innen und Arbeiter_innen machenden Herrschaft. Diese Logik wird sich ausbreiten, wenn wir nicht alles dafür tun, um sie aufzuhalten. Einerseits mit dem Aufbau von Alternativen, andererseits aber auch mit wohlüberlegten, gemeinsamen Aktionen, die über bloße Demonstrationen und Kundgebungen hinausgehen. Die Erdoğan und seine Gehilfen stoppen und dazu beitragen, das freiheitliche Bewusstsein der Gesellschaften zu stärken. Wir dürfen keine Angst haben, wir müssen davon überzeugt sein, dass Angriffe unsere solidarischen, selbstorganisierten Strukturen stärken werden, wenn wir dessen bewusst sind und zusammenhalten werden. Wir müssen verstehen, dass ihr Kampf unser Kampf ist. Dass wir nur gemeinsam stark sind und wir uns nur gemeinsam, in ständiger Auseinandersetzung, weiterentwickeln können.

Das Ausbilden eines kollektiven Bewusstseins ist der Schlüssel der Selbstverteidigung. Es führt dazu, dass Menschen ihre Ausbeutung, ihre Versklavung nicht mehr akzeptieren und auch nicht die der anderen. Es führt dazu, dass der Widerstand größer wird und der Drang zu einer anderen Welt ebenfalls. Wird dieser Prozess kollektiv geführt, wird sich ebenso ein Bewusstsein der gemeinsamen und persönlichen Stärke entwickeln und immer mehr Menschen, vor allem Frauen, werden sich bewusst, dass sie eine Rolle in dieser Welt spielen können, ja sogar müssen.