Der Präsident der türkischen Republik, Tayyip Erdoğan, die Nr. 1 des Putsches vom 15. Juli

Demokratie und Blockade einer Lösung können nicht zusammen existieren

Veysi Sarısözen, Journalist

Ein skurriles »Gespenst« geht um in Europa: nicht das Gespenst des Kommunismus, sondern das der Flüchtlinge. Obwohl alle Politiker in den Hauptstädten dieses Gespenst erschrocken verfolgen, das über ihren Häuptern schwebt, interessieren sie sich weder dafür, wo es geboren wurde, noch wie es aufgewachsen ist.

Erklären wir also, was in der Türkei vor sich geht, in der zurzeit 3,5 Millionen Flüchtlinge leben. Zweck dieses Beitrags ist es zu erklären, dass es nicht möglich ist, sich vor dem Zorn des Gespenstes zu schützen, indem man »Erdoğan besänftigt«. Wie früher der tragische Reinfall der »Besänftigungspolitik« gegen Hitler wird es auch nicht möglich sein, Erdoğan loszuwerden, indem man ihn »besänftigt«.

In der Türkei fand am 15. Juli 2016 gegen 21.30 Uhr ein »Putsch« statt. Kurz zuvor hatte der türkische Präsident Erdoğan Europa mit dem »Flüchtlingsstrom« in die Ecke gedrängt. Die europäischen Staatslenker wussten nicht, wie sie sich gegen diese Drohung wehren sollten. Die Rufe gegen die rasche Entwicklung der Türkei in eine aggressive Diktatur durch ein »präsidentielles Regierungssystem« wurden gedämpft. Danach folgte der »Putsch«. Nun sind die gleichen Staatslenker, insbesondere Obama, in Panik und verstummen gegenüber den Entwicklungen in der Türkei, nachdem Erdoğan öffentlich unterstellte, dass hinter jenem Putsch Gülen, die USA, die EU und die NATO steckten. Sie sind nicht ohne Grund verstummt. Alle Beschuldigten waren bereits an Putschen mindestens beteiligt. Doch dieses Mal ist es nicht ganz so. In den folgenden Absätzen soll erläutert werden, um was für eine Art von Putsch es sich speziell gehandelt hat.

Die NATO und die Putsche in der Türkei

Die NATO ist ein System. Obgleich ihr Widerpart, der Warschauer Pakt, sich aufgelöst hat, die Konkurrenzarmeen, wie die russische und die chinesische, haben es nicht. Aufgrund dessen hat die Disziplin innerhalb der NATO fortan eine große Bedeutung. Für den Fall der Gefahr einer Abkopplung eines Mitgliedstaates vom System werden zahlreiche Vorbeugungspakete in den dunklen Kammern der NATO bereitgehalten.

Eines davon sieht vor, gegen Regierungen zu putschen, die Mitgliedstaaten in gefährliche Situationen navigieren. Die Geschichte der Türkei weist etliche solcher NATO-Putsche auf.

Darum sind die türkischen Politiker in dieser Thematik sehr erfahren. Sie wissen quasi auswendig, wann, wie, durch was und welche Mächte ihre Schritte einen Putsch auslösen würden. Tayyip Erdoğan und seine Partner sind in dieser Thematik ebenfalls erfahren. Wie auch durch die westlichen Medien bekannt, liegt seit der versuchten Festnahme des Chefs des Nationalen Nachrichtendienstes (MIT) die Wahrscheinlichkeit eines Putsches wieder auf dem Tisch des Palastkalifen. Besonders seit den Korruptionsuntersuchungen gegen die fünf Minister und sogar gegen den Sohn von Erdoğan selbst hat die Regierung ihre ganze Kraft gegen einen wahrscheinlichen Putsch konzentriert.

Der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, hat während des Friedensprozesses, der letztlich nur ein Hinhaltemanöver war, Erdoğan mehrmals gewarnt. Die Blockade der Lösung würde und wird den Putschmechanismus auslösen. Diese Warnung war analytisch und vorausschauend: Die Blockade einer Lösung des Kurdenkonfliktes ist nicht vereinbar mit dem verfassungsrechtlichen, demokratischen und parlamentarischen Regime. Demokratie und Blockade einer Lösung können nicht zusammen existieren.

Genau dies ist dann auch passiert. Die Wahlen am 7. Juni 2015 haben die Türkei einer »Lösung« schlagartig näher gebracht. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) schaffte es über die 10%-Hürde und Erdoğans Partei, die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP), hatte ihre Regierungsmacht verloren. Wäre eine Koalition mit einem Minimalprogramm gebildet worden, hätte nichts die Lösung des Kurdenkonfliktes verhindern können. Die Türkei würde sich dann auf den Pfad der Demokratie begeben. Die Konflikte mit der EU würden gelöst werden und die Türkei wäre in Syrien und Irak ein Friedensfaktor. Somit wäre keine weitere Kooperation mit dem Islamischen Staat (IS) entstanden und Erdoğan könnte Europa nicht mit der »Flüchtlingskarte« weiter einschüchtern. Noch wichtiger ist jedoch, dass der Putsch vom 15. Juli nicht stattgefunden hätte und somit tausende Menschen nicht im Bürgerkrieg gestorben wären.Auch das Rathaus von Amed wurde unter die Zwangsverwaltung des türkischen Regimes gestellt. | Foto: DIHA

Die mögliche Lösung des Kurdenkonflikts verweigert

Nachdem wir am 7. Juni 2015 kurz vor der Lösung des Kurdenkonflikts gestanden hatten, stürzte Erdoğan die Türkei mit seinem Krieg gegen die PKK nach dem 24. Juli ins Chaos. Es stellte sich heraus, dass dort, wo keine Lösung gefunden werden kann, auch keine Demokratie sichtbar wird. Erdoğan setzte immer zügiger seine Bestrebungen für ein Präsidialsystem, das »Ein-Chef-Regime«, um. Gegen die Ergebnisse der Wahlen vom 7. Juni wurde vom Palast geputscht und mithilfe des gewalttätigen Kriegsklimas in der folgenden Zeit konnte Erdoğan die Wahlen vom 1. November für sich entscheiden.

Genau hier wurde umgehend der Putschmechanismus ausgelöst. All die Ereignisse danach haben die Aussagen des PKK-Vorsitzenden bestätigt.

Das Programm Erdoğans, also die Lösung des Kurdenkonfliktes zu verweigern und die Errungenschaften der Kurden in Syrien anzufechten, ist nicht mit der Demokratie zu vereinbaren. Entweder wird einer Lösung in Bakur und Rojava durch einen kantonalen Status zugestimmt oder die Türkei wird mit der Diktatur, dem Putsch und dem inneren und äußeren Krieg in den Abgrund stürzen. Erdoğan hat letzteren Weg gewählt. Seine Devise heißt »Durmak yok yola devam ... (Wir lassen uns durch nichts aufhalten, wir setzen unseren Weg fort ...)«.

Die »Putschexperten«

Die höhnischen und skeptischen Reaktionen aus den westlichen Hauptstädten auf die Putschberichte waren nicht überraschend, denn CIA, BND und auch der britische und der französische Nachrichtendienst waren sich sicher, den Putsch nicht selbst ausgelöst zu haben. Ihr Erstaunen galt der Frage nach den Urhebern.

Wie schon erwähnt, liegen in geheimen Aktenschränken vorbereitete Pläne, wie beispielsweise für einen Putsch, die im Notfall Anwendung finden können. Sicherlich könnte man behaupten, dass sich auswärtige Kräfte an die Gülen-Bewegung und NATO-treue Offiziere gewandt hätten, um eine »Alternative« zur abdriftenden türkischen Regierung zu schaffen, doch sie haben den Putsch vom 15. Juli nicht ausgelöst.

Sowohl die aufgezählten Mächte als auch das türkische Militär sind »Putschexperten«. Es war allseits bekannt, dass sich eine Junta, die die Unterstützung Europas und der USA genießt, in der Türkei auf einen Putsch vorbereitet hat. Es lässt sich auch nicht bestreiten, dass westliche Staaten ihre Finger im Spiel hatten. Doch »einen Putsch durchzuführen« und »den Putsch auszulösen« ist nicht dasselbe.

Die Junta wollte den Putsch um 3 Uhr starten. Doch es kam zu überraschenden Ereignissen. Schauen wir sie uns kurz an: Der Oberbefehlshaber der größten Militäreinheit in Istanbul, der Kommandant der 1. Armee, schickte am helllichten Tage einen Panzer auf die Bosporusbrücke, der den Verkehr einseitig blockierte. Von der anderen Straßenseite wurden beim Vorbeifahren der Panzer und eine Gruppe von Soldaten staunend beobachtet. Danach hat sich herausgestellt, dass der Kommandant der 1. Armee ein Putschgegner war. Der Putsch wurde auf diesem Wege frühzeitig aufgedeckt.

Daraufhin begannen Kampfjets um 21 Uhr herum mit Tiefflügen. Der Putsch, der um 3 Uhr hatte beginnen sollen, wurde somit vorgezogen.

Um 21.30 Uhr kamen sieben Soldaten zum Sender CNN Türk und gaben im Namen des »Komitees Frieden in der Heimat« den »Putsch« bekannt. Der Generalstabschef sowie alle Kommandanten der Teilarmeen wurden einfach handlungsunfähig gemacht und übergangen. Auch wenn die Erklärung mit »Türkische Streitkräfte, Generalstabschef« unterzeichnet war, gab es niemanden, der hätte widersprechen können. Die Unterschrift zeigte offenkundig, dass der Putsch nicht nach der herkömmlichen Befehlskette durchgeführt wurde. Dass zahlreiche erfahrene Generäle aus diesem Grunde nicht am Putsch beteiligt waren, ist ebenfalls offenkundig. Der Grund für diese kindische Erklärung war, dass der Putsch ohnehin von Anfang an scheitern sollte.

Wer hat sich dieser Unterschrift bemächtigt? Und von wem kam die lange Einleitung in der Erklärung? Diejenigen, die den Putsch vorzogen, indem sie schon um 21.30 Uhr losschlugen, brachten damit von Anfang an die Niederlage.

Letztlich haben dann die restlichen Verschworenen der hintergangenen Junta am Morgen des 16. Juli um 3 Uhr die »echte« Erklärung auf TRT verlesen. Im Gegensatz zur vorherigen war sie kurz und mit »Generalstabschef« unterzeichnet.

Da der Putsch für 3 Uhr geplant gewesen war, hatte die Junta die Fernsehsender nicht besetzt. Als er aber um 21.30 begann, waren alle Sender live dabei, sodass der Staatspräsident und AKP-Politiker die Polizei und die Bevölkerung aufriefen, den Putsch zu verhindern.

Die türkischen Streitkräfte (TSK) haben bis heute am 27. Mai 1960, am 12. März 1971, am 12. September 1980 erfolgreich geputscht, durch militärische Intervention Regierungen gestürzt. Wie konnte also ein so lächerlicher Putsch organisiert werden? Haben die Generäle ihr »Putsch-Gedächtnis« verloren?

Benötigte Erdoğan den Putsch?

Zurück zum Anfang unseres Artikels. Als Erdoğan den Lösungsprozess beendete, kurdische Städte dem Erdboden gleichmachte, eine Allianz mit dem IS gegen Rojava bildete und mit den USA stritt, wusste er, dass ein Putsch auf ihn wartet. All seine Energie gab er daran, diesen Putsch im Keim zu ersticken, noch bevor er ins Rollen kam.

Es wurde auch klar, dass der Palast, der Geheimdienst MIT, die Polizei und die »Konterguerilla« aus der Çiller-Ağar-Zeit alle notwendigen Vorkehrungen gegen einen möglichen Putsch getroffen hatten.

In der Tat brauchte Erdoğan den Putsch vom 15. Juli. Einen Tag zuvor konnte er nicht einmal den Palast verlassen. Er war weltweit isoliert und diskreditiert. Der aktuelle britische Außenminister gewann bei einem Poesie-Wettbewerb eine Auszeichnung für ein beleidigendes Gedicht über ihn. Die AK-Partei war am Boden. Öffentliche Meinungsumfragen ergaben eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Erdoğans Forderung nach »einem Präsidenten«. Die Wirtschaftssektoren, die von Kapitalbewegungen abhängig waren, gaben gefährliche Signale. Die Unsicherheit wuchs. Die innere Opposition wuchs noch schneller, sodass alle AKP-Gründer sich gegen Erdoğan stellten. Letztlich wurde sogar Premierminister Davutoğlu mit einem inneren Putsch beseitigt, was die Fundamente des Palastes deutlich erschütterte. Sogar die Position seines größten Unterstützers Bahçeli wankte. Aber die meiste Zerstörung verursachte der Kampf zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde, mit der sie zuvor die Macht geteilt hatten. Gülen-Anhänger in der Regierung formierten sich gegen den Palast, die Armee erlitt massive Verluste im Krieg gegen die PKK. Die Revolution in Rojava schritt voran. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sich die Kantone Kobanê und Afrîn verbanden.

Erdoğans rechtswidriger »Putsch« gegen die Wahlergebnisse vom 7. Juni reichte nicht aus. »Ein neuer Putsch« wurde dringend benötigt. Er sollte wie bei Hitlers Gleichschaltungspolitik wirken, damit alle verfassungsmäßigen Institutionen, jegliche Kontrollinstanz und Opposition eliminiert werden konnten.

Große Teile der weltweiten und der ihrer Informations- und Pressefreiheit beraubten türkischen Öffentlichkeit sind der Lüge verfallen, Erdoğan und treue Patrioten hätten einen Putschversuch vereitelt. Eine unfassbare Lüge. Es ist offensichtlich, dass der 15. Juli ein Kind des Palastes ist:

Am 16. Juli wurden viele Generäle, Piloten sowie ein »Zivilist«, der sich auf dem Akıncılar-Militärflugplatz aufhielt, festgenommen. In den Medien wurde neben den Offizieren auch dieser »Zivilist« in Unterwäsche und Handschellen gezeigt. In jenen Tagen konnte man sich nicht einmal in der Nähe des Militärflugplatzes bewegen, geschweige denn direkt darauf; der Betreffende war jedoch bekannt als Gülens wichtigster Mann. Er wurde nach zwei Tagen Haft wieder entlassen, was später als »unterlaufener Fehler« betitelt wurde. Eine erneute Fahndung blieb bis heute ohne Erfolg.

Dieser Zivilist heißt Adil Öksüz. Er soll nach Informationen des Erdoğan-Kolumnisten Abdülkadir Selvi ein »Doppelagent« sein. Später äußerte auch CHP-Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, sie hätten Informationen, dass Adil Öksüz ein MIT-Agent sei. Außerdem bestehe die Gefahr, dass er ermordet worden sei. Lassen Sie uns die folgende Nachricht lesen:

»Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu erklärte, der Fall Adil Öksüz müsse bis ins Kleinste untersucht werden. Er wies darauf hin, dass hinter Öksüz eine mächtige Organisation stehe und der Verdacht bestehe, dass er getötet worden sei.

Kılıçdaroğlu: ›Adil Öksüz ist kein gewöhnlicher Mann, er muss konsequent angegangen werden.‹ Er betonte, dass bisher kein einziger Geheimdienst erklärt habe, ob jemand sein Agent sei oder nicht. Weiter kritisierte er die Nachrichten, denen zufolge Öksüz kein MIT-Agent sei. Mit Bezug auf die Inhaftierung und Freilassung von Öksüz wies Kılıçdaroğlu darauf hin, dass Öksüz kein gewöhnlicher Mann sei:

›Adil Öksüz Fall muss detailliert überprüft werden. Er muss unter Schutz stehen, sonst kann so etwas nicht einfach vorkommen. Es gibt mächtige Organisationen hinter ihm, lokale und ausländische. Meine größte Sorge ist, dass er getötet wird, bevor er festgenommen werden kann. In der Vergangenheit gab es viele ähnliche Fälle. Viele Personen wurden festgenommen und getötet. Bis heute ist nicht bekannt, wo sie begraben wurden.‹«

Offensichtlich hat Kılıçdaroğlu von staatlicher Seite ernstzunehmende Informationen erhalten. Allerdings kann er damit manche Fakten nicht erklären. Sie würden zeigen, dass der Putsch vom 15. Juli ein sehr organisiertes Komplott des AKP-Palastes war und von Doppelagenten unter den Putschbefürwortern durchgeführt wurde, die AKP-Gegner, Gülen-Anhänger, NATO-Angehörige und sogar kemalistische Offiziere zu einem blutigen Spiel verleiteten, einem Putsch.

Dreh- und Angelpunkt des Putsches vom 15. Juli ist Adil Öksüz. Ein Tag zuvor war er aus den Vereinigten Staaten in die Türkei gekommen. Offensichtlich hat der »Doppelagent« dieses Mal nicht »dem großen Chef der CIA« gedient, sondern »dem MIT, dem Palast und der Polizei«. Höchstwahrscheinlich übernahm er den Vorsitz der Junta, schleppte sie Schritt für Schritt hin zu einem unmöglichen Putsch und löste dann unter einem absurden Namen wie »Komitee Frieden in der Heimat« zu einem falschen Datum und zur falschen Zeit gemeinsam mit anderen Personen einen Putschversuch aus.

Konterguerilla an die Stelle der Gülen-Bewegung gesetzt

Erdoğan hat auf diese Weise den »gegen ihn« früh bekannt gewordenen bevorstehenden Putsch quasi »tot geboren«, während der Coup »Dunkelheit« über das ganze Land brachte. Erdoğan selbst hat unsere Worte bestätigt, seine Rolle beim Putsch so ausgedrückt:

»Das Ergebnis war sehr gut. Unser Gott hat es so befohlen. Während Sie glauben, es ist schlecht für Sie, sorgt er aber dafür, dass es zum Vorteil gereicht. So ist es auch diesmal passiert. Wir haben in dieser Phase die Möglichkeit bekommen und die Kraft erlangt, Sachen zu machen, die wir unter normalen Umständen nicht hätten machen können. Wir haben ihnen (gemeint ist die Fethullah-Gemeinde) Grundstücke und Gelände gegeben. Könnten wir sie zurückbekommen? Nein, könnten wir nicht, aber jetzt Dank des Ausnahmezustands haben wir alle beschlagnahmen und verstaatlichen können. Der Staat hat begonnen, das Hab und Gut dieses verräterischen Netzwerkes zu beschlagnahmen.«

Er hat die NATO-Treuen in der Armee, die gegen ihn waren, zum Großteil eliminiert. »Wenn der 15. Juli nicht wäre, könnte er dies unter normalen Umständen nicht tun.« Das Militär wurde faktisch neutralisiert und seine Stelle übernahm ein loyaler Apparat aus 600 000 Polizisten, 200 000 schwer bewaffneten Gendarmeriekräften, die nicht in der Befehlskette der Armee stehen, allen Armeeeinheiten der Küstenwache sowie den weiterhin bestehenden türkischen Gladio-Strukturen. An die Spitze dieses Apparates wurde Süleyman Soylu gestellt, der mit Mehmet Ağar zusammen Anfang der 1990er Jahre tausende Kurden umbrachte und als der Prinz von Tansu Çiller bekannt wurde. Süleyman Soylu wiederum hat Erdoğan lange Zeit aufs Übelste beleidigt. Erdoğan hat die Konterguerilla an die Stelle der Gülen-Bewegung gesetzt, statt mit der Gülen-Bewegung teilt er sich die AKP jetzt mit der Konterguerilla.

Wäre der Putsch vom 15. Juli ...

Zurück zu unserer Liste. Wäre es nicht zum Putsch vom 15. Juli gekommen, so hätten Erdoğan und Soylu nicht per Diktat, mit Erdoğans eigenen Worten, »die in Kurdistan gewählten Bürgermeister absetzen und die Gemeinden durch Treuhänder beschlagnahmen« können. Er hätte nicht innerhalb von zehn Tagen tausende Aktivisten der DBP und der HDP verhaften lassen können. Dieses Diktat bereitet jetzt die Verhaftung der HDP-Abgeordneten vor. Während Sie diesen Artikel lesen, werden womöglich HDP-Abgeordnete aus dem Parlament heraus verhaftet und in den Kerker geworfen.

Derzeit sind mehr als hunderttausend Beamte entlassen, über 50 000 Menschen festgenommen worden. Es fand ein Putsch gegen die Medien statt, erstmalig in der türkischen Geschichte. Bis auf ein, zwei kleine demokratische Zeitungen wurden alle oppositionellen Medien zerstört.

So, wie das Erdoğan-Regime europäische Politiker mit der »Flüchtlings-Karte« ausgespielt und verrückt gemacht hat, so mischt er sich nun auch in die europäischen Informationsmonopole ein. Durch Korruption, Investitionsversprechungen sowie nicht transparente finanzielle Beziehungen zu einem französischen Informationsmonopol erreichte er, dass sogar der Fernsehsender MedNûçe TV, der aus Europa in die Türkei sendete, zensiert wurde.

Wäre der Putsch vom 15. Juli erfolgreich gewesen, hätten Erdoğan und sein Gefolge nicht in Cerablus einmarschieren können. Nun begibt er sich in Syrien in ein großes Abenteuer. Das Ziel ist natürlich nicht, den IS zu bekämpfen, sondern die Rojava-Revolution zu vernichten. Der IS hat sich »umgekleidet, den Bart abgeschnitten« und kämpft mit dem türkischen Staat gemeinsam gegen die Kurden.

Wäre der Putsch vom 15. Juli nicht, könnte Erdoğan die innere Opposition nicht ausschalten sowie die Oppositionellen in der MHP nicht »rechtlich« zurückdrängen. Seine engste Verbündete, die MHP, würde so sicherlich in die Hände der Opposition fallen. Selbstverständlich könnte er auch nicht die Regierung nach seinen persönlichen Vorlieben gestalten, keine »Gesetzesdekrete« durchbringen, das Parlament de facto außer Kraft setzen und die Türkei mit unbegrenzter Autorität regieren.

Und hätte er das Ganze nicht bewerkstelligt, so würde sein Palast dem Boden gleichgemacht, er selbst vielleicht sogar Ende dieses Jahres wegen Korruption, Diebstahl und Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden.

Um all das nicht zu erleben, hat er gegen seine eigene Armee, seine eigene Justiz, sein eigenes Parlament, seine selbsternannte Davutoğlu-Regierung und sogar gegen seine NATO-Verbündeten einen Putsch initiiert.

Er hat einen Putsch gegen sein eigenes Volk verübt. Er ist bereit, für seine machthungrigen und egoistischen Interessen gegen die eigene Bevölkerung in den Kampf zu ziehen.

Das heutige Erdoğan-Regime ist ein Putsch-Regime, das keine Legitimation besitzt. Es ist Zeit, dass sich jeder für den gemeinsamen Kampf der Völker gegen ihn in Bewegung setzt und die internationale Solidarität stärkt.