Die Rathäuser, das Zwangsverwaltungsgesetz und seine Auswirkungen

Fortsetzung des Krieges mit Ausnahmezustandsverordnungen

Gültan Kışanak, Ko-Oberbürgermeisterin von Amed und Vorsitzende von GABB

Polizei, Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge umstellten am 11. September 2016 um 7 Uhr morgens 24 von der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) verwaltete Rathäuser. Es wurden Razzien in diesen Rathäusern durchgeführt. Gleichzeitig unterbrachen die Telekommunikationsfirmen gerade in diesen Städten den ganzen Tag über die Verbindung ins Internet. Nicht nur die Rathäuser, sondern die gesamte kurdische Bevölkerung unterlag einer Totalisolation. Diejenigen, die von dieser Zwangsverwaltung erfahren hatten, ihre Stimmen auf die Straße tragen und zu diesem Zwecke vor den Rathäusern protestieren wollten, wurden von der Polizei daran gehindert und es kamen zahlreiche Menschen in Untersuchungshaft. Diese Beschlagnahmungspolitik können wir mit einem Satz schildern: Die AKP-Regierung versucht diejenigen Rathäuser, die sie nicht auf demokratischem Wege erobern konnte, im Schatten des Krieges mit den Mitteln des Krieges zu bekommen.Freiheit für Gültan Kışanak! | Foto: DIHA

Wenn man sich die politische Arena der letzten fünfzehn Jahre in der Türkei genauer anschaut, so wird man feststellen, dass die Kurdinnen und Kurden auf der Basis der demokratischen Politik mit festen Schritten und immer mehr an Kraft gewinnend ihren Weg verfolgen und es auf der Grundlage der Basisdemokratie bis hierher gebracht haben. Die kurdische Bevölkerung, deren Identität seit Gründung der türkischen Republik verleugnet worden ist und der seither sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene ihre Selbstbestimmungsrechte verwehrt worden sind, konnten erstmals 1999 in Form einer politischen Partei an Kommunalwahlen teilnehmen. In den darauffolgenden fünfzehn Jahren konnte man seinen Weg verfolgen und viele Erfahrungen im Zusammenhang mit der Basisdemokratie sammeln. Bei den Kommunalwahlen im Jahre 2014 konnte die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die anschließend in der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) aufging, 11 Provinzen, davon 3 Großstädte, 68 Kreisstädte, 23 Gemeinden für sich gewinnen. Dabei wurde der Bevölkerung versprochen: Stärkung und Ausprägung der Basisdemokratie, Fortführung des Verständnisses der multilingualen Gemeindeleitung, Ausprägung des Kampfes für die gesellschaftliche Gender-Gleichheit, Entwicklung einer aus der ökologischen Perspektive resultierenden Politik und Anwendung einer Politik, die nicht zur Klassifizierung führt, sondern die sozioökonomischen Missverhältnisse verringert. Dass nun Zwangsverwaltungen auf die Tagesordnung gesetzt worden sind, soll dazu dienen, die Partei der Demokratischen Regionen (DBP) an der Realisierung ihrer angestrebten Politik zu hindern.

Nachdem die Demokratische Partei der Völker (HDP) bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 einen Wahlerfolg erzielt hatte, wurden in einem ersten Schritt Inspektor_innen zur Untersuchung der DBP-regierten Rathäuser einberufen. In organisatorischer, politischer und finanzieller Hinsicht wurden all diese Rathäuser einer nicht gerade objektiven Beurteilungsphase unterzogen. Als Resultat dieses Kontrollmechanismus konnte der Staat jedoch keinerlei »Defizite« feststellen, die er seinerseits für eigene Zwecke hatte verwerten wollen. Im August 2015 kamen die immer lauter werdenden Forderungen der Bevölkerung nach einem selbstverwalteten Leben zum Ausdruck und seitdem hat auch die türkische Regierung angefangen, Diskussionen über das Zwangsverwaltungsgesetz offen zu führen. In den darauffolgenden Monaten wurden etliche Bürgermeister_innen aus ihren Ämtern entlassen und verhaftet. Bei einer genaueren Betrachtung kann man festhalten, dass ein weiterer Grund für den gesteigerten Druck auf die Rathäuser vor allem die Tatsache war, dass im Gegensatz zur kriegerischen Haltung der Regierung die DBP-Rathäuser sich stets für den Friedensprozess ausgesprochen und die Basisdemokratie verteidigt haben. In Städten, in denen keinerlei Häuserkämpfe stattgefunden haben, wurden die Rathäuser von der Regierung offen ins Visier genommen und diese Tatsache verdeutlicht die wahren Absichten der AKP-Zentralregierung, nämlich die Zwangsübernahme aller demokratisch gewählten Rathäuser.

Als das Zwangsverwaltungsgesetz zum ersten Mal als Gesetzesvorlage ins Parlament getragen wurde, konnte es wegen der effektiven Gegenwehr der Oppositionsparteien nicht verabschiedet werden. Danach wurde es auf der Grundlage des ausgerufenen Ausnahmezustands ohne parlamentarische Zustimmung mit der Unterzeichnung durch den Ministerrat sowie den Staatspräsidenten verabschiedet. Man muss ganz klar festhalten, dass die Verabschiedung dieses Zwangsverwaltungsgesetzes überhaupt nichts mit dem Putschversuch zu tun hat. Die AKP-Regierung hat wie jede andere Regierung, die nicht der Demokratie zugetan ist und deshalb häufig zu solchen Methoden greift, unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung« damit begonnen, die DBP-Rathäuser zu konfiszieren. Diese Politik der Beschlagnahmung darf nicht nur als institutionelle Übernahme der Rathäuser durch die Anwendung von Zwang aufgefasst werden, sondern als ein Versuch, den von 1999 bis 2014 andauernden demokratischen Lösungswillen zunichtezumachen. Oder anders ausgedrückt: Das Zwangsverwaltungsgesetz muss als ein Eingriff aufgefasst werden, der statt der von der kurdischen Bewegung implizierten Verhandlungen und Frieden die Kriegspolitik der Regierung offenbart.

Aufgrund der Tatsache der zentralistischen Struktur des türkischen Staates verfügen die Rathäuser im Vergleich mit den europäischen Ländern unzweifelhaft über begrenzte Befugnisse und einen begrenzten Handlungsspielraum. Die kommunalen Verwaltungsstrukturen spielen für die Kurdinnen und Kurden vor allem vor dem Hintergrund, dass sie eine gesellschaftliche Plattform zur Selbstbestimmung des eigenen Schicksals darstellen, eine überaus wichtige Rolle. Aus diesem Grunde ist der Erfolg der basisdemokratischen Strukturen aus kurdisch-gesellschaftlicher Perspektive mit dem Frieden gleichzusetzen und ihr Scheitern mit Krieg und der Unlösbarkeit des Konfliktes. Der türkische Staat versucht mit seiner Politik der Zwangsverwaltungen sowohl die Hoffnung auf ein Leben in Frieden zu zerstören als auch die auf demokratischem Wege erhoffte Zukunft zu rauben. Wenn das nicht der Wahrheit entspricht – warum haben dann die Zwangsverwalter in Rathäusern wie in Êlih (Batman), das kurdisches Theater unterstützt hat, oder in Farqîn (Silvan), wo es Unterstützung für die gesellschaftliche Gendergleichheit gab, gerade diese gesellschaftlichen Aktivitäten eingestellt und für beendet erklärt?