Ein Kommentar zu den bisherigen Reaktionen auf die Zwangsverwaltung
Lieber ehrenhaft in die Hölle als sich mit Erdoğan den Himmel teilen
Ali Haydar Kaytan PKK-Gründungsmitglied und Mitglied der KCK-Führung
Es ist eine der tragischen Geschichten von Eduardo Galeano, die ich gelesen habe.
Als Amerika von den europäischen Kapitalisten besetzt wurde, haben sich Ureinwohner vielerorts entweder erhängt oder zusammen mit ihren Kindern den Tod durch Gift gewählt. Den Tod zu wählen ist auch eine Form des Widerstands, ein Racheakt an den Besatzern. Die westlichen weißen Männer können diese Rache nicht vermeiden, wissen sie jedoch sehr gut einzuordnen. Für sie sind die Indianer Wilde, Menschen, die denken, alles gehöre allen, von Geburt an schlecht und faul. Um nicht arbeiten zu müssen, haben sie sich eigenhändig vergiftet oder erhängt und so ihrem Leben ein Ende bereitet.
Der Indianerhäuptling Hatuey aus der Region Guahaba bringt sich nicht um; mit seinem Volk flieht er im Kanu aus Haiti in die Höhlen und Berge Ost-Kubas. Er zeigt dort seinem Volk einen Korb voll Gold und sagt: »Das ist der Gott der Christen. Aus diesem Grund jagen sie uns. Deshalb sind unsere Väter und Geschwister gestorben. Lasst uns also tanzen. Wenn der Tanz diesem Gott gefällt, wird er ihnen das schlechte Verhalten uns gegenüber verbieten.«
Hatuey wird drei Monate später festgenommen. Indigene Kopfgeldjäger binden ihn an einen Pfahl. Bevor das Feuer um ihn herum brennt, kommt ein Priester und verspricht ihm Ruhm und ewigen Trost, wenn er sich taufen lasse. Hatuey fragt, ob es in diesem Himmel auch Christen gebe. Als der Priester bejaht, wählt Hatuey ohne zu zögern die Hölle, und daraufhin fängt das Holz Feuer.
Ich weiß, dass Menschen, die keinen Kontakt mit ihrer Gesellschaft haben, die an gesellschaftlichen Problemen uninteressiert und ahnungslos sind im Hinblick auf Freiheit, über diese Geschichte lachen und sie vergessen werden. Diese Menschen werden auf die Worte und die Haltung Hatueys ähnlich reagieren wie auch auf lustige Witze. Sie werden die Weisheit seiner Worte und seine Haltung nicht verstehen und erkennen. Diese Annäherungsweise bringt sie nicht Hatuey näher, sondern denen, die ihn zu Asche verbrannt haben. Es ist eine der großen Fertigkeiten des Kapitalismus, die Gefühlswelt von in Sklaverei lebenden Menschen in eine Wüste zu verwandeln. Wie es in der Bibel heißt, sehen sie mit ihren Augen, doch erkennen nicht. Sie hören mit ihren Ohren, aber verstehen nicht; denn ihre Herzen sind taub. Es sind Menschen, die von der Geschichte getrennt und im Gefängnis des Individualismus gefangen sind.
In den Augen eines im Alltagstrott Gefangenen hat diese Geschichte keine andere Bedeutung als die Flucht eines Primitiven vor der Zivilisation. Doch dieselbe Geschichte kann bei jemand, der von seinen eigenen Wurzeln nicht abgetrennt ist, zu einem Gefühlsausbruch führen. Vielleicht gibt es ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit seines eigenen Volkes. Ich habe persönlich von ähnlichen Begebenheiten während des Dersim-Massakers 1937/38 gehört. Aus diesem Grund bringt mich insbesondere jede Erzählung über den Genozid an den Indianern zur Vergangenheit von Dersim, den Genozid, zurück. Zwischen dem kapitalistischen Überfall in Amerika und dem Massaker in Dersim besteht eine typische Ähnlichkeit. In beiden ist die Sichtweise auf die Menschen, die sich nicht beugen wollen, dieselbe. Auch den Menschen in Dersim wird der Stempel der Wildheit aufgedrückt. Sie werden als faul dargestellt. Als Menschen, die den Sinn des Lebens darin sähen, ihren Hunger zu stillen. Diese Menschen wüssten nicht durch mehr Arbeit mehr Geld zu gewinnen, zu horten und anzusammeln. Aus diesem Grund entsprechen sie nicht der Logik des Besatzers.
Die Menschen aus Dersim sind dem verbunden, was ihnen heilig ist. Deshalb wissen sie sich selbst und das, was ihnen heilig ist, zu verteidigen. Sie machen nicht leicht Zugeständnisse an ihre Haltung der Selbstverteidigung. Selbst der am harmlosesten wirkende Mensch hat sicherlich einen Dolch unter dem Kissen. Die Kemalisten waren sich dessen bewusst und sammelten zuallererst die Waffen ein. Ein großer Teil der Stämme wurde mit Worten gelockt und ein bedeutender Teil ihrer Waffen wurde in den Militärstationen übergeben. Als das Massaker begann, haben sie den Betrug verstanden. Der Anführer des Haydaran-Stammes Hıdır Ağa klagte: »Als wir unsere Waffen einsammelten und in Nazımiye übergaben, waren alle Berge beleidigt.« Der Feind hatte seine Zelte nahe dem Gipfel Koê Jele aufgeschlagen. Hıdır Ağa: »Der Gipfel des Bergs Jele wurde spiegelglatt unter den Füßen der feindlichen Soldaten.«
Ein Verräter verrät zuerst sich selbst
Der moderne Mensch ist ein blinder, tauber, stummer und skrupelloser Betrüger. Der Ort, an dem er sich bewegt, erinnert an einen Friedhof. Er selbst gleicht einer lebenden Leiche. Er ist nur so lebendig wie ein Geist. Er ist der Erde, den Bergen, Wäldern und dem Wasser entfremdet. Entfremdung ist identisch mit Verrat. Eine Person kann nur ihre Nächsten verraten. Was kann jemand näher sein als die eigene Gesellschaft! Wer kann euch näher sein als ihr selbst? In diesem Sinne verrät ein Verräter zuerst sich selbst. Er realisiert den Verrat mit dem Vergessen, dass er eine historische gesellschaftliche Existenz ist. Jemand, der sich selbst verrät, hat alles und jeden verraten. Der unberührte und noch nicht mit dem Dreck der Zivilisation infizierte kurdische Mensch weiß den Wert der Erde, der Berge, Wälder und des Wassers zu schätzen. Denn ohne diese ist ein Leben als Mensch nicht möglich. Mit diesen Werten zu brechen, bedeutet einen Bruch mit den eigenen Wurzeln. Ein Samenkorn, das vom Wind zwischen die Pflastersteine geweht wird, versucht sich mit dem vom Wind herbeigetragenen bisschen Erde ans Leben zu klammern. Aber niemals wird es sich tief verwurzeln können. Genau das ist das Schicksal eines Menschen, der von seinen eigenen Werten getrennt ist.
Zweifellos waren wir früher eine ungenügend organisierte Gesellschaft. Der türkische Staat hingegen war organisiert und wusste genau, was er wollte. Aus diesem Grund sind wir trotz unseres Widerstandes gebrochen worden. Die Kolonialisten haben sogar die Neugeborenen abgeschlachtet, damit wir uns nicht noch einmal erheben. Sie haben gegen uns die Deportation und Züchtigungsmethoden angewandt. Lange Jahre wurden wir in der Stille begraben. Unsere Zungen wurden paralysiert, dass wir keinen Laut von uns geben konnten. Wir wurden zur niedrigsten Form eines Volkes degradiert, dessen Ehre in Beschlag genommen worden war. Es bestand so gut wie keine Aussicht mehr auf eine Hoffnung. Auf dem Mutterboden ist der Widerstand von Neuen gesprossen. Der Feind hat über einen Zeitraum von vierzig Jahren versucht, diesen Widerstand zu brechen, aber er hat es nicht geschafft. Wir haben eigentlich Entwicklungen geschaffen, die mit der Überwindung einer wasserlosen Wüste zu vergleichen sind. Als Gesellschaft haben wir uns gewissermaßen der Befreiung genähert. Genau dann, als sich am Horizont die Oase zeigte, haben einige förmlich schlappgemacht. Während wir unsere Tempo eigentlich steigern müssen, um das Wasser zu erreichen, sind wir an dem Punkt angekommen, vor Durst fast im Sterben zu liegen.
Tritt man so für seine Werte ein?
Diese Urteile können schwer wiegen. Doch wenn man sich das Desinteresse gegenüber der Besetzung der Kommunalverwaltungen auf Befehl der Karikatur eines Diktators betrachtet, muss man akzeptieren, dass diese Worte noch leicht sind. Tritt man so der Besatzung entgegen, die unter Marschmusik riesige türkische Flaggen an den Kommunalgebäuden aufhängt? Das dort ist der gemeinsame Wert der Gesellschaft! Tritt man so für seine Werte ein? Warum folgt keine Reaktion auf den Raub eines Wertes, der so viel Schmerz gekostet hat, wie bei einem Bauern gegenüber einem Dieb in seinem Garten? Es tut wirklich weh, wie manche, die behaupten Politik zu machen, über die Besetzung einer dieser Institutionen nicht die Besorgnis aufbringen wie für ihre Haare, ihre Kleidung und ihr Äußeres. Einige stumme Proteste reichen sicherlich nicht aus, um da den eigenen Stolz zu retten, geschweige denn die eigenen Werte zu schützen.
Während die faschistische Diktatur vom Genozid träumt und ihre ganze Kraft mobilisiert, den Traum von heute schon morgen zu realisieren, ist es gelinde gesagt Selbstbetrug, von Frieden zu schwafeln. Das Erste, was in einer solchen Situation getan werden muss, ist es, alle Verbindungen mit diesem Regime zu trennen und es mit seinem nackten Gewaltapparat alleinzulassen. Gegen den Kapitalismus zu sein und sich seiner Moderne anzupassen – diese Haltung kann keinen Erfolg haben. Es ist unausbleiblich, dass die Zersplitterung der Gefühls- und Gedankenwelt die Widerstandsreihen zerstört. Die erste Voraussetzung für Widerstand ist die Loslösung. Von Widerstand ohne Loslösung zu sprechen ist Heuchelei. Selbst wenn als Ergebnis des ausbleibenden Bruchs mit dem Kolonialismus das Paradies wartet, ist es tausendmal ehrenhafter, den Weg in die Hölle zu nehmen, um sich mit Erdoğan und seinem Regime nicht den Himmel teilen zu müssen. Auch wenn der Preis dafür ist, im Feuer zu Asche zu verbrennen.