Die kurdische Community im Kontext deutsch-türkischer Beziehungen

Der Verantwortung gerecht werden

Dersim Dağdeviren

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind tief in der Geschichte beider Staaten verwurzelt – sie lassen sich bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückverfolgen – und umfassen vor allem politische, geostrategische, militärische und wirtschaftliche Bereiche. Zu Zeiten des Osmanischen Reiches entfalteten sie sich immer mehr und erreichten mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union eine neue Dimension. Auch die Existenz einer großen türkischen Diaspora prägt die deutsch-türkischen Beziehungen wesentlich. Vergessen wird in diesem Kontext oft, dass die kurdische Migrationsgruppe, die als solche aufgrund der herkunftsstaatlichen Zuordnung der Migranten nicht erfasst wird, mittlerweile die zweitgrößte Gruppe Zugewanderter in Deutschland bildet. Einen nicht unwesentlichen Teil der kurdischen Migranten stellen neben den Arbeitsmigranten Flüchtlinge. Während in den vergangenen zwei Jahren Flüchtlinge aus Süd- und Westkurdistan dominierten, stammt ein Großteil der in Deutschland lebenden Kurden aus Nordkurdistan bzw. der Türkei. Spätestens nach dem versuchten Militärputsch im Juli, aber auch schon im Gefolge des Krieges in der Türkei nach den Parlamentswahlen 2015, machen sich wieder zahlreiche Kurden aus der Türkei auf den Weg nach Deutschland und damit zu einem der engsten Verbündeten der Türkei.

Wie eng die Verflechtungen zwischen beiden Staaten sind, lässt sich allein mit zahlreichen Beispielen aus den vergangenen Monaten belegen. Diese stehen nicht ausschließlich im Zusammenhang mit der kurdischen Thematik, sondern tangieren auch universelle Belange wie Pressefreiheit, die Herausforderungen der Fluchtbewegungen, Konfliktbewältigung oder den Genozid an den Armeniern.

Die Pressefreiheit, die in der Türkei nicht erst mit den jüngsten Schließungen unabhängiger, mehrheitlich kurdischer Sender ad acta gelegt ist, wird auch hier eingeschränkt. Das Verbot der in Deutschland erscheinenden kurdischen Tageszeitung Özgür Politika im Jahre 2005 ist nur ein Beispiel. Die Einschränkungen sind jedoch nicht auf kurdische Medien beschränkt, wie der Fall des Satirikers Jan Böhmermann zeigt. Er wurde wegen eines »Schmähgedichts« auf Staatspräsident Erdoğan dem türkischen Staat regelrecht »auf dem Tablett serviert«.

Auf dem Tablett serviert wurden auch die Politiker, die zu Recht – so belegt es die Geschichte – den Genozid an den Armeniern als solchen und in Zusammenhang damit die deutsche Verantwortung benannt hatten. Die Bundesregierung distanzierte sich von der Parlamentsresolution und sprach ihr jedwede Verbindlichkeit ab; eine Schande, vor allem vor dem Hintergrund, dass der türkische Staatspräsident Bluttests zur Rassenbestimmung der türkischstämmigen Abgeordneten gefordert hatte. Spätestens hier hätten, allein im historischen Kontext, bei der Bundesregierung alle Alarmglocken läuten müssen und ein Kurswechsel hätte vorgenommen werden müssen. Aber wieder stehen militärische Interessen im Vordergrund. Die Türkei, »zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen« (so der Wortlaut aus dem deutschen Innenministerium), gehört neben Saudi-Arabien, dessen wahhabitische Staatsideologie sich mit der des sog. Islamischen Staates (IS) deckt, zu den wichtigsten Abnehmern der deutschen Rüstungsindustrie. Dass deutsche Panzer und Munition im Krieg gegen die Kurden eingesetzt werden, ist schon lange bekannt, man erinnere an die Fotos mit den Leopard-Panzern aus den 1990er Jahren. Heute finden diese Rüstungsgüter ihren Einsatz auch in Nordsyrien, wo die türkische Armee unter dem Deckmantel der Bekämpfung des IS einmarschiert ist. Tatsächlich aber richten sich ihre militärischen Aktivitäten gänzlich gegen die Demokratischen Kräfte Syriens, deren Errungenschaften in Form der autonomen Administration von Rojava und der demokratischen Föderation Nordsyrien und die kurdische wie arabische Zivilbevölkerung. In diesem Zusammenhang spielt auch die Luftwaffenbasis Incirlik – die Bundeswehr will hier Investitionen in Höhe von 58 Millionen Euro tätigen – eine zentrale Rolle.

Die Herausforderungen, die sich aus den weltweiten Fluchtbewegungen – der Nahe Osten ist eine der Hauptquellen für Flucht – ergeben, beeinflussen die deutsch-türkischen Beziehungen ebenfalls maßgeblich. Die Herangehensweise der deutschen Regierung an diese Problematik ist nicht nur vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Entwicklungen im Nahen Osten auch und vor allem ein Produkt westlicher Politik darstellen, falsch, sondern zudem mit fatalen Konsequenzen behaftet. Fatale Konsequenz der fehlerhaften Politik, die sich im Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU widerspiegelt, sind neue Fluchtbewegungen, nun auch wieder von Demokraten und Kurden aus der Türkei. Maßgebliche Wegbereiterin dieses Abkommens war mit mehreren Staatbesuchen, auch kurz vor den kritischen türkischen Parlamentswahlen, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie ebnete damit nicht nur dem Deal einen Weg, sondern leistete wichtige Wahlkampfhilfe für Erdoğan auf dem Kurs zu seiner Präsidialdiktatur, unterstützte die Entkräftung der dortigen Opposition und trug so zu einer Intensivierung der Konflikte in der Türkei und der gesamten Region bei. Einem vermeintlichen Engagement für eine Konfliktlösung in der Region standen und stehen vor allem die genannten Rüstungsexporte und geostrategische Interessen entgegen.

In der außenpolitischen Linie der Bundesregierung scheint hier keine Kehrtwende in Sicht, ebenso wenig in der Innenpolitik. Das längst hinfällige Verbot der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), die damit korrelierende Kriminalisierung kurdischer Aktivisten unter dem Deckmantel des Paragraphen 129b StGB sowie zahlreiche Veranstaltungsverbote, zuletzt des 24. Internationalen Kurdischen Kulturfestivals im Rhein-Energie-Stadion Köln, werden fortgeführt, gar intensiviert.Kundgebung für die Freilassung der kurdischen politischen Gefangenen vor dem OLG Hamburg

In der öffentlichen Meinungsbildung allerdings ist zunehmend eine Trendwende in der Bewertung deutsch-türkischer Beziehungen und der kurdischen Thematik zu verzeichnen. Die zu Recht kritische Berichterstattung der deutschen Medien im Hinblick sowohl auf die Ereignisse in der Türkei als auch auf die Politik der Bundesregierung leistet hierbei einen wichtigen Beitrag.

Die Bewertung der Ereignisse in der Türkei ist allerdings problematisch, weil in diesem Kontext oft eine Reduktion aller Probleme auf die Person des Staatspräsidenten Erdoğan erfolgt. Dabei hat die Türkei nicht erst seit dem Militärputschversuch im Juli oder den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr ausgeprägte Defizite bei den demokratischen Strukturen. Seit der Republikgründung 1923 beherrschen Massaker und Militärputsche die Agenda des Landes. Die heutige Verfassung ist eine Hinterlassenschaft der Putschisten von 1980. Der nach dem Putschversuch vom 15. Juli verhängte Ausnahmezustand für das ganze Land ist in den kurdischen Gebieten seit Jahrzehnten Normalzustand.

Dieser Normalzustand wird gefördert durch das Schweigen der Bundesrepublik zu den Entwicklungen in der Türkei. Es ist offensichtlich, dass der vermeintliche Putsch von Erdoğan und seiner AKP-Gefolgschaft genutzt wird, um den Staat von jeglicher Opposition zu säubern. Abgesehen von den Gülenisten, einst engste Verbündete der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan, richten sich die Repressionen massiv gegen Kurden, schon immer Erzfeind Nummer eins, sowie linke und demokratische Kräfte.

Deutschland wäre gut beraten, einen grundlegenden Kurswechsel vorzunehmen. Die Fortführung der Beziehungen zur Türkei in gewohnter Form wird die Konflikte in der Türkei sowie der gesamten Region verschärfen und die Fluchtbewegungen verstärken. Deutschland hat eine politische und historische Verantwortung. Jeglicher Dialog mit der Türkei sollte darauf ausgerichtet bzw. beschränkt sein, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Hierzu gehören die Anerkennung des Massakers an den Armeniern durch die Bundesregierung und entsprechender Druck auf die Türkei, die Aufhebung des PKK-Verbots und die Beendigung der damit korrelierenden Kriminalisierung der Kurden in Deutschland sowie die Verstärkung der Bemühungen für erneute Friedensgespräche zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Seite unter der Führung von Herrn Abdullah Öcalan als deren zentralen politischen Repräsentanten, auch vor dem Hintergrund der Befriedung der gesamten Region des Nahen Ostens.


Dersim DağdevirenDersim Dağdeviren ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Vereinsgründerin und Vorsitzende von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer Akademikerinnen und Akademiker e. V., Vorstandsmitglied der European Turkey Civic Commission (EUTCC), Europa-Delegierte des Gesundheitskongresses des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) in Amed (Diyarbakır/Türkei), Mitglied der Kinderhilfe Mesopotamien e. V., Frauenbegegnungsstätte UTAMARA e. V. und Vorstandsmitglied des Marburger Bundes, des größten europäischen Ärzteverbandes, Bezirksverband Gelsenkirchen.