Die kurdische Befreiungsbewegung als gemeinsamer Störenfried

Deutschland verfolgt im Mittleren Osten eigene geostrategische Interessen

Elmar Millich

Im Zusammenhang mit der Affäre Böhmermann und anderen Einflussnahmen des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan auf die deutsche und europäische Politik war in den Medien oft vom »langen Arm« Erdoğans die Rede, der vor allem die sich in der Türkei aufhaltenden syrischen Flüchtlinge als Druckmittel benutzt, um türkische Interessen durchzusetzen. Nun hat vor allem Bundeskanzlerin Merkel in der Tat ihr politisches Schicksal mit dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei stark in seine Hände gegeben. Es wird aber oft übersehen, dass die Bundesrepublik eigene Interessen in der Region verfolgt, die mit denen der Türkei übereinstimmen. Ein prägnantes Beispiel ist hier die Politik um die Nutzung der türkischen Militärbasis Incirlik.

Nach den Anschlägen von Paris im November 2015 beschlossen Bundesregierung und Bundestag, sechs deutsche Tornado-Kampfflugzeuge zur Luftaufklärung in Syrien auf die türkische Militärbasis zu verlegen. Dieser Beitrag zur Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Syrien war innenpolitisch nicht unumstritten. Vor allen aus der Fraktion der Linkspartei kamen Einwände, dass es ohne Zustimmung der syrischen Regierung keine völkerrechtliche Grundlage für den Einsatz gäbe. Ebenso wurden Bedenken geäußert, dass die einer breiten Allianz von dort kriegsführenden Staaten zur Verfügung gestellten Aufklärungsbilder von der Türkei genutzt werden könnten, um nicht gegen den IS, sondern gegen die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vorzugehen.Kein schmutziger Deal mit der Türkei

Während diese Einwände von der deutschen Bundesregierung unbeachtet blieben, führte die Resolution des Deutschen Bundestages zum Völkermord an den ArmenierInnen im Juni dieses Jahres zu erheblichen Irritationen zwischen Deutschland und der Türkei. Aufgrund der Resolution untersagte die Türkei deutschen ParlamentarierInnen den Besuch der in Incirlik stationierten deutschen SoldatInnen, ein wohl innerhalb der NATO einmaliger Vorgang. Da der Bundestag einer Verlängerung der Stationierung Ende dieses Jahres unter den gegebenen Bedingungen nicht zugestimmt hätte, wurde zwischen der Türkei und Deutschland ein Schmierentheater verabredet. Anfang September meldete der Spiegel, dass sich die deutsche Bundesregierung von der Armenienresolution des Bundestages distanzieren wolle. Daraufhin begab sich der überrascht tuende Regierungssprecher Steffen Seibert vor die Presse, um eine inhaltliche Distanzierung zu dementieren, aber ebenfalls zu betonen, dass die Resolution für die Bundesregierung nicht rechtlich bindend sei. Davon war in Deutschland auch niemand ausgegangen, aber genau dieses Vorgehen war zwischen deutschen und türkischen AußenpolitikerInnen verabredet, um den weiteren Einsatz der deutschen Tornados in der Türkei nicht zu gefährden. Inzwischen haben dann auch Mitglieder des Verteidigungsausschusses die SoldatInnen in Incirlik besucht und erklärten das Thema für erledigt.

Wie sehr die Bundesregierung daran interessiert ist, ihre militärische Präsenz in der Region auszubauen, zeigen Pressemitteilungen, dass es schon vor der oben geschilderten Einigung über den parlamentarischen Zugang nach Incirlik den Beschluss gab, die deutsche Militärbasis dort für 58 Millionen Euro auszubauen, unter anderem mit dem Bau eines mobilen Gefechtsstands. Diese Investitionen würden wahrscheinlich nicht getätigt, wenn sich die Bundeswehr nicht auf eine längere Präsenz dort einstellen würde.

Ebenfalls unter der Maßgabe, den IS zu bekämpfen, weitet die Bundesregierung auch ihren militärischen Einfluss im Irak aus. Seit zwei Jahren gibt es eine enge Kooperation mit der kurdischen Autonomieregierung in Hewlêr (Erbil) unter der PDK Barzanîs. Bei ihrer jüngsten Reise in die Region versprach Bundesverteidigungsministerin von der Leyen weitere Waffenlieferungen an die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan, die kurdischen Pêşmerge, zu prüfen. Bislang erhielten diese zumeist deutsche G36-Sturmgewehre und die Panzerabwehrwaffe MILAN. Geplant sind nun auch ABC-Schutzanzüge und -Masken sowie Funkgeräte. Insgesamt betrug die Waffenlieferung bislang 1 800 Tonnen. Außerdem sollen die etwa 100 im Nordirak stationierten deutschen SoldatInnen mit ihrer Ausbildung der Pêşmerge näher an die Front nach Mossul rücken.

Die massive Konzentration der militärischen Aufrüstung und politischen Ausrichtung auf Barzanî ist höchst kritisch zu sehen, da es auch die innerkurdischen und regionalen Machtverhältnisse stark berührt. Barzanîs Amtszeit als Präsident der Autonomen Region ist seit Jahren abgelaufen und die PDK (Partiya Demokrata Kurdistanê | Demokratische Partei Kurdistans), befindet sich mit den beiden anderen relevanten kurdischen Parteien – YNK (Yekîtiya Nîştimaniya Kurdistanê | Patriotische Union Kurdistans) und Goran (Bewegung für Wandel) – in einer aggressiven politischen Auseinandersetzung, die wie schon in früheren Zeiten zu militärischen Konflikten führen könnte. Des Weiteren befindet sich die PDK in den êzîdischen Gebieten auch in Konfrontation mit den dort der PKK nahestehenden êzîdischen Selbstverteidigungskräften. Die deutsche Aufrüstung der PDK scheint eine Reaktion auf den Schock von 2014, als der Angriff des IS auf die Şengal-Region und nachfolgend auch auf die kurdischen Gebiete im Nordirak nur unter maßgeblichem Einsatz von PKK-Kräften gestoppt werden konnte. Dieses brachte der Organisation international erhebliches Ansehen ein. So weit will man es in Berlin nicht noch mal kommen lassen. Damit ist man sich mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und Barzanî, seinem Statthalter im Nord­irak, einig.

Einig ist man sich auch in der Ablehnung der demokratischen Föderation Nordsyrien – Rojava, des kurdisch-arabischen Selbstverwaltungsprojekts im Norden Syriens. Seit Monaten haben sowohl die Türkei als auch die kurdische Autonomieregierung im Nordirak an ihren Grenzen ein komplettes Embargo verhängt. Weder Sachleistungen in Form von Lebensmitteln oder Medikamenten noch Personen werden durchgelassen. Die internationale Staatengemeinschaft schweigt dazu. Aufforderungen der Organisation ICOR (International Coordination of Revolutionary Parties and Organizations), die in Kobanê ein Gesundheitszentrum gebaut hat, an das deutsche Auswärtige Amt entsprechend Einfluss zu nehmen, damit HelferInnen und Medikamente die Grenze passieren können, wurden von diesem ignoriert. Im Gegenteil betrachtet die Bundesregierung die AufbauhelferInnen oder InternationalistInnen, die sich an der Seite der YPG an den Kämpfen beteiligen, mit großem Argwohn. Einem australischen InternationalistInnen, der Ende 2015 über Deutschland nach Schweden weiterreisen wollte, wurde die Einreise verweigert. In Rheinland-Pfalz und Hessen wurde von den Versammlungsbehörden bei Demonstrationen das Mitführen von PYD- und YPG-Fahnen verboten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt in einer Broschüre für FlüchtlingshelferInnen explizit davor, dass PKK- und PYD-nahe in Deutschland sesshafte KurdInnen zu syrisch-kurdischen Flüchtlingen Kontakt aufnehmen.

Eindeutig fiel auch die Stellungnahme der Bundesregierung zum Einmarsch türkischer Truppen und mit der Türkei verbündeter Söldner in Syrien aus. Obwohl allgemein anerkannt ist, dass der Einmarsch weniger gegen den IS als vielmehr gegen die KurdInnen und mit ihnen verbündete arabische Kräfte gerichtet ist, äußerte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, »die Bundesregierung habe Sympathien, wenn sich die Türkei am militärischen Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat beteilig«. Im Übrigen sei es »das legitime Recht der Türkei, gegen terroristische Umtriebe vorzugehen«. Ein Hohn, wenn man bedenkt, dass die Türkei den IS vor allem im Kampf gegen die KurdInnen in den letzten Jahren massiv unterstützt hat.

Auf europäischer Ebene sieht es nicht besser aus. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der nach dem Putsch deutliche Worte zum Vorgehen der türkischen Regierung gegen Oppositionelle aller Art gefunden hatte, fraß bei seinem Türkei-Besuch im September Kreide. Schulz traf zwar den CHP-Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, allerdings bewusst nicht den Kovorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Selahattin Demirtaş. Der mitreisende Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos brachte es auf den Punkt: »Die EU ist ein Schlüsselpartner der Türkei, und die Türkei ist ein Schlüsselpartner der EU.« Es scheint jetzt eine inoffizielle Übereinkunft zu geben, dass die Türkei die umstrittenen Antiterror-Gesetze zumindest während des Ausnahmezustands nicht ändern wird, allerdings so lange auch nicht weiter auf der Visafreiheit insistieren wird. Im Gegenzug wird sich die EU aus den innenpolitischen Entwicklungen der Türkei – abgesehen von allgemeinen Appellen – heraushalten. Bezogen sich diese Appelle in den letzten Monaten vor allem auf die Medienfreiheit, hat sich die EU in diesem Punkt nun komplett unglaubwürdig gemacht. Nachdem in der Türkei 12 TV-Sender – darunter auch ein Kinderkanal in kurdischer Sprache – verboten wurden, nahm nun die französische Regierung Einfluss auf den Satellitenbetreiber Eutelsat, die kurdischen Sender MedNûçe-TV und Newroz TV aus der Übertragung zu nehmen. Damit hat ausgerechnet Europa die letzten oppositionellen Sender, die in der Türkei empfangen werden konnten, den Garaus gemacht.

Sicher ist es richtig, den »schmutzigen Deal« zwischen der Türkei und der EU bezüglich der Flüchtlingsmigration hart zu kritisieren und die Bundesregierung vor sich herzutreiben, aber es wäre eine zu kurze Analyse, alles Entgegenkommen gegenüber der Türkei als Folgen der »Erpressbarkeit« zu sehen. Zumal das Abkommen bislang kaum umgesetzt wurde. Nur wenige hundert MigrantInnen sind auf freiwilliger Basis bislang in die Türkei zurückgekehrt. Noch geringer fiel die Zahl der Flüchtlinge aus, denen legal die Einreise aus der Türkei nach Europa gestattet wurde. Deutschland hat aber auch aus geopolitischen Gründen in der Region ein starkes Eigeninteresse an einer engen Kooperation mit der Türkei. Dabei erweist sich die kurdische Befreiungsbewegung mit ihrer eigenständigen ideologischen Ausrichtung als gemeinsamer Störenfried sowohl in der Türkei als auch im Irak und in Syrien. Somit stammt auch die zunehmende Repression gegen die kurdische Bewegung in Deutschland und in Europa aus einer gewissen außenpolitischen Eigendynamik und ist nicht nur Gefälligkeit gegenüber der Türkei.