Die Konsultativkonferenz der Autonomen Region Kurdistan am 24./25. September 2016
Eine Lösung für die aufgestauten Probleme der Autonomen Region Kurdistan!
Kovorsitz des Nationalkongresses Kurdistan
Das kurdische Volk im Irak ist seit der Gründung des Staates Opfer von Panarabismus und engstirnigem arabischem Nationalismus.
Der kurdische König Scheikh Mahmud Hafid flehte die englischen Kolonialisten an, als sie dabei waren, im Zuge des Sykes-Picot-Abkommens den Staat Irak »zusammenzustellen«, Südkurdistan nicht mit dem neu geschaffenen Staat zu vereinigen. Er vertrat die Ansicht, KurdInnen und AraberInnen sollten besser getrennt leben. Er betonte auch die bestehende kurdische und arabische Geschwisterlichkeit und bat um Unterstützung, sie zu stärken.
Die Kolonialmächte hörten offensichtlich nicht auf ihn und schickten ihn ins Exil.
Die Geschichte des Irak ist wie die der Türkei, Syriens oder des Iran eine Geschichte der engstirnig-nationalistischen Aggression gegen die einheimischen Völker der Region wie KurdInnen, AssyrerInnen, ArmenierInnen oder BelutschInnen.
1991 verloren infolge der irakischen Diktatur, des Totalitarismus und der gewaltsamen Annexion mindestens eine halbe Million KurdInnen ihr Leben; 5 000 Dörfer wurden zerstört und die Menschen waren mit Massenarbeitslosigkeit und Armut konfrontiert. Saddam Husseins aggressives und sadistisches Verhalten wurde zur Belastung für das internationale Gewissen.
Die internationale Solidarität mit dem kurdischen Volk in Südkurdistan und der Freiheitswille der KurdInnen wurden zu Geburtshelfern des heutigen semiunabhängigen Kurdistan. Die USA und der Westen unterstützten das Projekt einer föderalen Einheit im Irak. Auch Japan und Staaten wie Russland und China zeigten Verständnis und Solidarität für diese Idee.
Die gesamte kurdische Bevölkerung im Mittleren Osten und auch andere Bevölkerungsgruppen wie ChristInnen, AssyrerInnen und ArmenierInnen, nicht jedoch die TürkInnen, unterstützten die Idee. Dieser Teil Kurdistans erlangte schnell internationale Sympathie und praktische Unterstützung; er konnte eine Verfassung entwickeln und ein Parlament, eine Regierung und eine Repräsentation in den zentralirakischen Institutionen herausbilden.
Diese Erfolge erlitten einen schweren Schlag, als Tribalismus, Clan-Denken und feudale Strukturen, Nepotismus, das Fehlen einer patriotischen Loyalität gegenüber dem nationalen Projekt, fehlendes fortschrittliches Denken und mangelnde Bereitschaft zur Unterstützung von Frauen- und Menschenrechten die Oberhand gewannen. Die destruktive Führung ebnete den Weg für ein bis dahin undenkbar hohes Niveau der Korruption in allen Bereichen des Lebens; sie stiftete Uneinigkeit zwischen den KurdInnen und förderte Abgrenzung und Konflikte, die auf territorialer Kontrolle durch verschiedene politische Gruppierungen basierten.
Obwohl es seit fast 25 Jahren, zumindest seit 2003, Freiheit bzw. teilweise Unabhängigkeit gibt, haben sich in Südkurdistan/Başûr politische, ökonomische und soziale Probleme aufgestaut, die nicht nur die Erfolge in diesem Teil Kurdistans, sondern auch den Fortschritt der Befreiungsbewegung in anderen Teilen Kurdistans in Gefahr bringen.
Der Kovorsitz konkretisiert die Probleme wie folgt:
- Tribalismus und feudale Strukturen;
- Nepotismus und eine Politik basierend auf Freundschaften;
- Diebstahl, Betrug und Korruption;
- Ignoranz und Hochnäsigkeit; fehlendes Verständnis politischer Repräsentation und mangelnder Respekt vor BürgerInnen-, Frauen- und Menschenrechten;
das Fehlen einer fortschrittlichen und umweltfreundlichen politischen Vision.
Diese Probleme haben eine Situation geschaffen, in der das achte Kabinett der Regionalregierung Kurdistan Probleme mit der Repräsentation hat, das Parlament ist paralysiert und die Ministerien funktionieren nicht richtig. Es gibt Probleme der demokratischen Verantwortlichkeit.
Nach vielen Jahren der Krise haben die Entscheidungsträger noch immer keine dauerhafte Lösung gefunden.
Aber diese politischen und ökonomischen Probleme beeinflussen das soziale Leben der Menschen. Die BürgerInnen in Başûr fordern eine sofortige Lösung. Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) sah daher die Notwendigkeit einer Konsultativkonferenz, insbesondere weil die Parteien sich als unfähig erwiesen haben, die Probleme zu lösen.
Deshalb wurde vom 24. bis 25. September 2016 eine Konsultativkonferenz im Bezirk Qere Hencir organisiert, der zur kurdischen Stadt Kerkûk (Kirkuk) gehört. Alle kurdischen Parteien, NGOs, religiösen Institutionen, unabhängige Persönlichkeiten und Intellektuelle waren zur Teilnahme eingeladen, um ihren Beitrag zu einer friedlichen und demokratischen Lösung zumindest der dringendsten Probleme zu leisten.
Es ist erwähnenswert, dass drei Abgesandte der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) unter den TeilnehmerInnen waren; einer als Vertreter von Mesûd Barzanî, des PDK-Vorsitzenden, einer als Repräsentant und ein weiterer als Mitglied des Politbüros der PDK. Auch nahmen der Gouverneur von Kerkûk, der Direktor des Bezirks Qere Hencir, drei Mitglieder der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) sowie Mitglieder von Gorran, der Bewegung für Veränderung, und anderer politischer Parteien teil.
Der Nationalkongress Kurdistan arbeitet als eine Dachorganisation für alle politischen Parteien, NGOs, religiöse Institutionen und unabhängige Persönlichkeiten. Sein Schwerpunkt liegt auf einer friedlichen und demokratischen Lösung sowohl der nationalen Probleme als auch der kurdischen Frage in den Kolonialstaaten.
Der KNK hat hunderte Konferenzen, Seminare, Panels und Sitzungen ausgerichtet, nur um die kurdische Frage zu erläutern und den Weg für eine friedliche und demokratische Lösung zu ebnen. Auf der kurdischen nationalen Ebene gab es allein seit 2011 zahlreiche Konferenzen, zum Beispiel im Oktober 2011 eine Konferenz in Brüssel betreffend die Kurdistanfrage als Ganzes; im November 2012 im französischen Parlament über Rojava von Kurdistan und Syrien; im April 2014 eine Konferenz in Schweden über Rojhilat (Kurdistan unter iranischer Besetzung). So war diese Konferenz nur eine weitere Aktivität des KNK, die dem föderalen Kurdistan im Irak helfen wollte, seine eigenen Probleme mit effektiveren und modernen Lösungen zu bewältigen.
Die Konferenzen und Aktivitäten des KNK basieren auf freier und freiwilliger Teilnahme. Diese Konsultativkonferenz wurde vollständig von lokalen Mitgliedern aus dem Gebiet Kerkûk organisiert.
Der KNK strebt nach demokratischen und friedlichen Lösungen basierend auf gemeinsamen Zielen und gegenseitigem Respekt. Die nationalen Ziele aller Institutionen in Kurdistan, seien es ethnische, religiöse, kulturelle, regionale oder individuelle, müssen berücksichtigt werden. Wir suchen nach den besten Optionen für einen stabilen demokratischen Dialog mit einer offenen Atmosphäre und unter Berücksichtigung von Diversität und verschiedenen Ansichten. Wir glauben, dass uns die Konferenz die Möglichkeit gegeben hat, die Probleme zusammenzufassen und zu spezifizieren, um schließlich mögliche Vorschläge und Lösungen voranzubringen.
Wir konzentrieren uns auf Lösungen anstatt auf Probleme. Wir glauben an eine Lösung – konzentrierten Dialog basierend auf Inklusion und Pluralismus. Unser Ziel ist es, alle zu Gewinnern zu machen und ein Win-win-Denken und funktionierende Lösungen zu schaffen. Für den KNK ist das keine persönliche und private Agenda, sondern ein nationales und patriotisches Projekt.
Wir wollen ein Kurdistan schaffen, das ein Platz für KurdInnen, AssyrerInnen, ArmenierInnen, ChristInnen, JüdInnen, ÊzîdInnen, YarsanInnen usw. ist. Ein Kurdistan, das multikulturell, multireligiös, pluralistisch und geschlechtergerecht ist. Ein Kurdistan mit verfassungsgemäßer Gleichheit und einer demokratischen politischen Ökonomie mit fortschrittlicher Einkommensentwicklung und Lebensqualität. Das ist kein Idealismus. Es ist vielmehr ein realistisches politisches Programm, insbesondere weil es Unterstützung und den politischen Willen für ein solches Reformpaket in Kurdistan gibt.
Die Konferenz hat abschließend eine Resolution verabschiedet zu möglichen praktischen Lösungen für die derzeitigen Probleme und mit Punkten, welche die kurdische Frage als Ganzes anbelangen.
Die Hauptpunkte betrafen die Unterstützung für die Idee der Befreiung Abdullah Öcalans, des Anführers der kurdischen Befreiungsbewegung, und die Verurteilung der türkischen Invasion in Cerablus (Dscharabulus) und der Stationierung türkischer Truppen um Mûsil (Mosul) als Bedrohung der territorialen Einheit der Autonomen Region Kurdistan. Die Türkei wurde zusätzlich für die Unterstützung von ISIS und anderen islamistischen Terrorgruppen in Syrien und dem Irak verurteilt.
Die KonferenzteilnehmerInnen riefen die Türkei zur Beendigung des aggressiven und unverhältnismäßigen Krieges gegen das kurdische Volk in der Türkei/Nordkurdistan auf und betonten Verhandlungen und demokratische Lösungen als bevorzugte Methoden zur Beendigung der türkischen Feindseligkeiten gegen das kurdische Volk.
Andere Schwerpunkte waren die politische und militärische Intervention des Iran im Irak und der sektiererische Krieg des Iran und der Türkei inmitten der Völker des Mittleren Ostens.
Der Iran hat seine militärische Präsenz in Rojhilat/Ostkurdistan stark erhöht und errichtet Militärkomplexe nach türkischem Vorbild. Er führt seine militärischen und politischen Maßnahmen zur Unterdrückung des kurdischen Volkes und anderer Völker fort.
Die Konferenz würdigte die bedeutende Rolle von Peşmerge und Guerillakräften, Volksverteidigungseinheiten (YPG) und anderen kurdischen, assyrischen und christlichen Verteidigungskräften und insbesondere die tapferen Frauen, die ISIS und andere faschistische Gruppen bekämpfen, und rief die internationale demokratische Öffentlichkeit und die demokratischen Staaten zu Hilfe und Unterstützung auf.
In weiteren Resolutionen wurde die êzîdische Selbstverteidigung ermutigt, die Ernennung der kurdisch-êzîdischen Sonderbotschafterin Nadia Murad Basee Taha durch das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) am 16. September 2016 in New York begrüßt und die internationale Gemeinschaft zum Schutz der kurdischen Umwelt vor dem Niederbrennen durch die Türkei und den Iran aufgefordert.