Die Friedensverhandlungen für Kolumbien

Der letzte Tag von welchem Krieg?

Pajaera Libertaria

Am 23. Juni dieses Jahres stand in den Zeitungen in Kolumbien und weltweit »Friedensvertrag zwischen kolumbianischer Regierung und Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – FARC) unterzeichnet«, sogar in den sozialen Netzwerken gab es den Hashtag #ElUltimoDiaDeLaGuera (DerLetzteKriegstag). Die Pressekonferenz, auf der diese historische Ankündigung gemacht wurde, wurde auf riesigen Bildschirmen in Bogotá übertragen. Alle sollten die Botschaft von Hoffnung und Glück mitbekommen.

Dabei gibt es ein Problem: Am 23. Juni dieses Jahres ging der Krieg in Kolumbien nicht zu Ende. An dem Tag wurde nur der vorletzte Verhandlungspunkt unterschrieben. Bei diesem Verhandlungspunkt geht es um einen beidseitigen Waffenstillstand. Dieser Punkt ist seit Beginn der Verhandlungen vor vier Jahren wichtig. Viele gesellschaftliche Gruppen haben diesen Waffenstillstand gefordert. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass am 23. Juni 2016 nicht der ganze Friedensvertrag unterschrieben wurde.Die Friedensverhandlungen für Kolumbien

Beide Seiten, die FARC und die Regierung, haben von Anfang an klargestellt, dass nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist. Das bedeutet, erst wenn alle Punkte unterschrieben werden, entfalten die einzelnen Punkte ihre Wirkung. Vor dem Inkrafttreten der gesamten Vereinbarung soll außerdem zusätzlich ein Volksbegehren durchgeführt werden. Wir sind also noch sehr weit entfernt von einem Frieden zwischen der Regierung und der FARC und noch weiter entfernt vom Frieden überhaupt. In Kolumbien gibt es noch zwei weitere Guerillagruppen. Die Nationale Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional – ELN) ist die zweitwichtigste. Sie hat ihr Interesse an Friedensgesprächen deutlich geäußert. Nach drei Jahren wurden nun Geheimgespräche zwischen der Regierung und der ELN in der Öffentlichkeit bekannt. Am 30. März 2016 wurden offizielle Friedensverhandlungen mit der ELN begonnen. Allerdings gab es bis heute (Anfang August) noch gar keine Verhandlungsrunde. Das Problem ist der Unwille der Regierung. Beobachter merken an, dass sie kein Interesse habe, den ganzen Krieg zu beenden, da sie sich bei Kriegsende mit einer vereinigten zivilen Linken konfrontiert sähe. An dieser Stelle ist auch die Volksbefreiungsarmee (Ejército de Liberación Popular – EPL) nicht zu vergessen. Diese Guerillagruppe ist in den bisherigen Friedensverhandlungen nicht einmal benannt worden. Sie werden von der Regierung weiterhin ausschließlich als Kriminelle bezeichnet.

Weitere Faktoren erschweren eine kritische Analyse der Friedensverhandlungen. Die Rechten um Expräsident Alvaro Uribe Vélez spielen dabei eine Rolle. Sie führen eine teilweise erfolgreiche Hetzkampagne gegen die Friedensverhandlungen, indem sie die Bevölkerung zu Hass und Vernichtung der Opposition aufrufen. Auf der anderen Seite steht der vereinfachte Friedensdiskurs von Präsident Juan Manuel Santos, der einen Großteil der Linken spaltet. Linke Kritiker der Verhandlungen werden dabei in der öffentlichen Debatte als Friedensgegner delegitimiert.

In Anbetracht dieser komplexen Situation wollen wir einige Debattenbeiträge hervorheben. Der Priester Javier Giraldo, der für seine Arbeit mit Opfern des Konflikts und für seine politische Analyse bekannt ist, benennt für uns wichtige Punkte.

Nach Giraldo gibt es einen Doppeldiskurs: Einerseits behauptet die Regierung, der Grund für den Friedensprozess sei die Anerkennung der Tatsache, dass der Krieg soziale Wurzeln habe und beide Seiten Verbrechen begangen hätten. Andererseits behauptet die Regierung abseits der Verhandlungstische, dass die Friedensverhandlungen aufgenommen worden seien, weil die Guerillagruppen besiegt worden seien und sich die FARC den legalen und angeblich demokratischen Strukturen unterwerfen müssten. In diesem Sinne wiederholen die Regierung und die herrschende Klasse immer wieder, dass der Friedensprozess das Ergebnis der militärischen Niederlage der Guerilla sei.

Giraldo erklärt weiter, dass es unmöglich sei, in den bestehenden pseudodemokratischen Strukturen gleichberechtigte Wahlen durchzuführen. Die Regierung beharrt aber darauf, dass das bestehende politische System nicht zu verhandeln sei. Die Guerilla wird lediglich eingeladen, sich nach der Waffenabgabe an Wahldebatten zu beteiligen, damit die Gesellschaft entscheiden könne, ob ihre Ideen und Vorschläge unterstützenswert seien.

Es wäre großartig, wenn es in Kolumbien eine reale Demokratie gäbe. Aber die Regierung weiß, dass sie sich auf das äußerst korrupte Wahlsystem und die privaten Massenmedien verlassen kann. In dieser Situation ist es unmöglich für die Guerilla und alle anderen Oppositionsgruppen, demokratische Wahlerfolge zu erzielen.

In den Mainstream-Medien wird vielfach berichtet, die FARC sabotierten die Friedensverhandlungen, aber die Fakten zeigen etwas ganz anderes. Nach unzähligen Debatten haben die Aufständischen der FARC eine symmetrische Behandlung der Aufständischen und der Militärs akzeptiert. Dies verleugnet den Umfang der staatlichen Verbrechen, die unterschiedlichen Merkmale der politischen Verbrechen und das Recht zu rebellieren. Zusätzlich mussten sie auch die Immunität aller Expräsidenten akzeptieren, obwohl diese für viele Verbrechen politisch verantwortlich sind. Dies steht im Widerspruch zu den Prinzipien der Römischen Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs und bestätigt die Straflosigkeit für Kriegsverbrechen.

Frieden wird nicht beschlossen, Frieden wird aufgebaut

Selbst wenn die Regierung mit allen drei aktiven Guerilla­gruppen verhandeln würde, ein Teil der Gesellschaft fragt sich, ob daraus überhaupt Frieden entstehen könnte. Die aktuelle Anzahl der Angriffe auf politische und soziale Bewegungen zeigt wenig Garantien für die politische Arbeit der Opposition. Viele fürchten, dass der Frieden, der gerade verhandelt wird, nur eine Abwandlung des Krieges sein könnte.

Nach 50 Jahren des Bestehens der Guerilla, in denen es insgesamt 33 Jahre Friedensgespräche oder Annäherungen gab, haben die Guerillas nie auf eine militärische Lösung gedrängt. Die FARC streben politische Räume an, um ihre Forderungen zu erreichen. Für die zweitgrößte Guerillagruppe Kolumbiens sehen die Debatten um den Friedensprozess anders aus. Die ELN beharrt auf einer Friedensagenda, an der sich die kolumbianische Zivilgesellschaft beteiligen kann, damit die Gründe für den Krieg ausgeräumt werden können. Die Guerillagruppe bestätigt sowohl ihr Interesse an Friedensgesprächen als auch ihre Bereitschaft, weiter bewaffnet zu kämpfen.

Die Regierung hingegen hat das primäre Ziel, strategisch wichtige Gebiete dem Einfluss der Guerilla zu entziehen. Ihr Geschäftsmodell basiert auf dem Zugang zu und der Ausbeutung von Naturressourcen. Sie will Planungssicherheit für den Ausbau der Infrastruktur für Bergbau und Energiegewinnung.

Zeitgleich zum Prozess der Aushandlung eines Friedensvertrags in Havanna zwischen FARC und Regierung verfolgt diese eine zweite Strategie. Neue Gesetze werden verabschiedet, die die kapitalistische und extraktivistische Ökonomie Kolumbiens festschreiben und soziale Proteste weiter kriminalisieren.

Der Krieg der Regierung mit ihren staatlichen und parastaatlichen Mitteln gegen die Guerillagruppen ist nur ein Teil der Konflikte in Kolumbien. Hinter dem bewaffneten Konflikt steht ein gesellschaftlicher, für den in den Friedensverhandlungen keine Lösung vorkommt. Kolumbien ist eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit. Kolumbien braucht eine Agrarreform: Die reichsten Familien machen nur 1 % der Bevölkerung aus und besitzen 60 % des Ackerlands, während die Mehrheit der Landbevölkerung von weniger als 5 Hektar pro Familie lebt. Die Stadtbevölkerung (mit 6 Millionen Binnenvertriebenen) hat kaum Zugang zu zivilen Rechten und die sozialen Rechte (wie Bildung und Gesundheit) sind ein Luxusgut für wenige Menschen.

Nach der neugestalteten Verfassung von 1991 sind Gesundheit und soziale Sicherheit als ökonomische, soziale und kulturelle Rechte anerkannt. Dies steht aber nur auf dem Papier. In der Realität werden alle sozialen Dienste von privaten Firmen geleistet. Dabei ist der private Sektor auf finanzielle Gewinne aus und hat kein Interesse am Schutz der Rechte der Bevölkerung.
Der mangelnde Zugang zur Gesundheitsversorgung führt zu mehr Toten als der Krieg. Ohne strukturelle Veränderungen ist der Frieden, den die Regierung anbietet, ein Frieden, der weiterhin Tote verschuldet.

Wird das Recht auf politische Opposition gewährleistet?

In der letzte Zeit haben sich die Angriffe auf soziale Bewegungen verstärkt: Festnahmen, Verschwindenlassen und Morde. Das Strafmaß bei Verurteilungen für Protestaktionen wurde verschärft. Es sieht so aus, als ob sich die Regierung auf einen neuen Gegner vorbereite: die unbewaffnete Opposition. Die Festnahme von studentischen Aktivisten im Juli letzten Jahres ist ein Warnsignal: Den Festgenommenen bei einer studentischen Demonstration drohten bis zu 22 Jahre Haft.

Die »soziale Säuberung« und die politischen Ziele der Paramilitärs geben ebenfalls Grund zur Sorge: Zwischen 1. und 14. März dieses Jahres wurden 28 Morde der Paramilitärs bekannt. In den Kommunalwahlen 2015 wurden zwei Kandidaten der linken Partei Polo Democrático Alternativo ermordet.

Wie können wir über Frieden reden, wenn jegliche politische Aktivität reicht, um zur Zielscheibe der Paramilitärs zu werden? Es gibt keine Sicherheit für die politische Opposition in Kolumbien. Soziale Bewegungen fragen: Wie kann der Konflikt ein Ende finden, wenn dessen Ursachen in der Verarmung und steigenden Ungleichheit der Bevölkerung liegen?

Frieden wird auf der Straße erkämpft

»Das ökonomische Modell ist nicht zu verhandeln«, wiederholt Präsident Juan Manuel Santos immer wieder und weigert sich, in den Friedensverhandlungen das Thema Energiepolitik zu besprechen. Die aktuelle Energiepolitik basiert auf dem Abbau natürlicher Ressourcen, der durch Freihandelsabkommen beschleunigt wird. Vor allem Bauern- und Indigenen-Organisationen sowie Gewerkschaften kritisieren diese Politik, die eine Verarmung der Bevölkerung zur Folge hat und die Repression verschärft.

Die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada sind für den Import von Fleisch, Getreide und Zucker verantwortlich. Dies sind die drei wichtigsten Produkte der kolumbianischen Landwirtschaft, die nicht mit den Preisen der subventionierten Produkte aus Nordamerika konkurrieren kann. Dazu kommt, dass das Freihandelsabkommen mit den USA die Nutzung ursprünglichen Saatguts verbietet. Dies führt zur Vernichtung der Bauernökonomie und Kultur in Kolumbien.

Nichtsdestotrotz kämpfen die sozialen Bewegungen gegen diese Situation. Seit 2006 ist eine Reaktivierung der sozialen Proteste in Kolumbien zu verzeichnen. Seit 2013 gab es mehrfach landesweite Generalstreiks gegen das Bergbau- und Energiemodell sowie gegen die Freihandelsabkommen.

Die Demonstrationen seit 2013 sind vielfältig: landesweite Streiks von Erdölarbeitern, Bergbauarbeitern, Kartoffelerntearbeitern, Milchproduzenten und Kaffeeerntearbeitern. Es gab eine Reihe von Mobilisierungen, vom Agrarstreik bis zu indigenen Protesten in ganz Kolumbien. Die gemeinsame Arbeit von Indigenen-, Bauern- und afrokolumbianischen Organisationen ergab den gemeinsamen Prozess »Cumbre Agraria Campesina Indígena y Popular«. 2014 entstand aus diesem Netzwerk ein unbefristeter Generalstreik, der die Regierung verpflichtete, sich mit den Forderungen des Prozesses ernsthaft auseinanderzusetzen. Trotzdem hat die Regierung seitdem Gespräche hinausgezögert, sodass dieses Jahr mehrere Sektoren der Cumbre wieder demonstriert und gestreikt haben. Die Forderungen der Cumbre sind, unter anderem, eine Bildungsreform, eine Gesundheitsreform, Demonstrationsfreiheit und die Schaffung eines Menschenrechtsausschusses.

Verschiedene Teile der Gesellschaft fordern Friedensverhandlungen unter Einbeziehung der Bauern, Indigenen, Frauen, Afrokolumbianer und Studierendenorganisationen sowie Gewerkschaften, um Lösungen für die sozialen Probleme zu erarbeiten.

Auch wenn der Frieden zwischen den FARC und der Regierung auf den Weg gebracht wurde, hat eine Fronteinheit der FARC bereits angekündigt, sich der Vereinbarung nicht anzuschließen. Die Regierung äußerte sich dazu mit der Drohung militärischer Vernichtung. Dies ist es, was alle Gruppen erwartet, die den Friedensvertrag nicht unterschreiben oder sich ihm nicht anschließen: Vernichtung durch das kolumbianische Militär. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass mit dem Friedensvertrag eine Welle der Gewalt und der Vernichtung der Opposition einhergehen wird. Das wird sowohl die bewaffnete als auch die unbewaffnete Opposition in Kolumbien treffen.

50 Jahre Krieg, mit all seinen Leiden und Schmerzen, haben die kolumbianische Bevölkerung nicht entmutigt. Sie organisiert sich und kämpft weiter auf zahlreichen Wegen, u. a. in Form von Genossenschaften und gemeinschaftlichen Wasserversorgungssystemen. Auf dem Land und in den Städten sind die sozialen Bewegungen bereit, an ihren Forderungen festzuhalten und für ein würdiges Leben zu kämpfen, egal was kommt.