Stimmen aus dem Knast
Grußbotschaft an den Jahreskongress der DBP
Kamuran Yüksek, inhaftierter Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Regionen (DBP)
Leider bin ich heute nicht physisch bei Euch. Ich wurde während der Vorbereitungen für unseren jährlichen Kongress am 10. Mai im Zuge einer rechtswidrigen und illegitimen Aktion verhaftet. Bekanntlich waren wir bereits im Jahr 2009 bei einem solchen rechtswidrigen Akt festgenommen und für fünf Jahre inhaftiert worden.1 Ich mag zwar körperlich nicht bei Euch sein, aber ich kann ohne Weiteres sagen, dass wir im Geiste beisammen sind und so sogar umso näher. Ich glaube, dass alle unsere KollegInnen, unsere Mitglieder und unsere FreundInnen näher zusammenrücken und die Notwendigkeit spüren, einen unschlagbaren Geist und Tatkraft hervorzubringen, obgleich ein ungeheurer Druck auf diesem Prozess lastet. Wenn wir alle in unserem Kampf für Grundrechte und Freiheit fest zusammenstehen, glaube ich fest daran, dass wir alle eine freie Zukunft erleben werden. Wir alle wissen, dass die Nacht vor dem Sonnenaufgang am dunkelsten ist.
Wir alle sehen und erleben, dass heute das Schicksal der Türkei und des Mittleren Ostens neu bestimmt wird. Dieser Prozess im Mittleren Osten kann als dritter Weltkrieg definiert werden. Denn internationale Mächte wie die EU, USA, Russland und China; regionale Staaten, Völker, politische Gruppierungen und Organisationen spielen in diesem Prozess alle eine Rolle. Wir beobachten, dass alle diese Kräfte bestimmte Ziele, Pläne, Kalkulationen, eigene Interventionsweisen und Kampfmethoden haben – entsprechend ihren jeweiligen Fähigkeiten und Stärken. Wir sehen und erleben bereits einen Prozess, in dem jede Macht versucht, die Zukunft der Region gemäß ihren Gelüsten zu beeinflussen.
Als »Partei der Demokratischen Regionen« (DBP) möchten wir zum Ausdruck bringen, dass »Demokratie« die Lösung für den Mittleren Osten ist. Antidemokratische, diktatorische Regime müssen sich offenkundig weiterentwickeln und transformieren und die Demokratie muss über sie regieren. Denn fast alle Länder des Mittleren Ostens sind geprägt von ethnischen, religiösen und nationalistischen Ausprägungen des Nationalismus. Anstelle derartiger Regime müssen neue demokratische Regierungen geformt werden, in denen sich alle Volksgruppen, Glaubensrichtungen und Identitäten frei ausdrücken können und an der Administration teilhaben können, entsprechend ihrer prozentualen Unterstützung in der Bevölkerung. Dies ist der Weg zu einer gewaltfreien Atmosphäre, Frieden, Zuversicht sowie ökonomischer und sozialer Entwicklung.
Unter diesen Rahmenbedingungen ist eine Lösung für unser Volk, das unter der Herrschaft von vier Staaten lebt, eine solche Lösung, die die Anerkennung der KurdInnen als Volk gewährleistet, ohne die trennenden Grenzen der Staaten, in denen KurdInnen leben. Eine solche Lösung beinhaltet insbesondere das Recht auf Bildung und Unterricht in der Muttersprache und die freie Entfaltung der Identität, lokale Autonomie, Beteiligung an der Administration in derartigen Autonomiemodellen und eine Lösung auf Basis von Selbstverwaltung.
Die Entwicklungen in der Türkei können nicht von den Entwicklungen im Mittleren Osten und dem Rest der Welt getrennt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Mittlere Osten neu gestaltet. In der türkischen Republik, die nach dieser Neugestaltung gegründet wurde, endeten aber die Konflikte und Unruhen nicht im letzten Jahrhundert. Obwohl in der Türkei die Regierungsform einer Republik gilt und obwohl diese sogar auf Grundlage von Säkularismus, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit definiert wird, ist die Türkei in Wirklichkeit ein ethnisch und konfessionell basierter, strikt zentralistischer Nationalstaat. Allen ethnischen Identitäten, Glaubensrichtungen und kulturellen Identitäten wurden ihre Rechte verweigert und sie wurden nicht anerkannt – eine Ausnahme bilden hier nur die türkische Identität und der sunnitische Glauben. Dabei leben wir, die KurdInnen und viele Völker mit verschiedenen Identitäten, sogar AlawitInnen und zahlreiche weitere Glaubensrichtungen und Kulturen in der Türkei. Aber Regierung und Verfassung wurden nicht dieser multikulturellen und multilingualen Konstellation gemäß gestaltet. Stattdessen wurden die Regierung, die staatliche Ordnung und die Verfassung entlang strikt zentralistischer und monistischer Vorstellungen ausgerichtet. Diese Situation verursachte eine Vielzahl von Problemen, mit denen wir konfrontiert wurden und immer noch werden. Die Türkei muss sich erneuern, verändern und weiterentwickeln, um sich selbst aus diesem grausamen Kreislauf von Konflikten und Problemen zu befreien, und um mit den verschiedenen Identitäten Frieden zu schließen und innerstaatlichen Frieden zu schaffen. In dieser Phase drängen wir, als DBP, auf einen Wandel und auf eine Lösung der »kurdischen Frage« und der anderen Probleme der Türkei. Die Republik muss demokratisiert werden, bis wir von einer »Demokratischen Republik« sprechen. »Demokratische Republik« benennt ein Regierungssystem, in dem alle Identitäten und alle Glaubensrichtungen frei zusammenleben und mit gleichen Rechten ausgestattet sind und in dem alle ihre jeweilige Kultur und Identität frei entfalten können – politisch organisiert und mit Beteiligung an der Administration –, in dem sich das Selbstverständnis der Volksgruppen direkt in der Administration widerspiegelt. Verfassung, Recht, Gesetz und demokratische Institutionen werden gemäß diesem Konzept organisiert.
Bei der Bewältigung dieser Fragen gibt es eine Vielzahl verschiedener Erfahrungen und Vorgehensweisen in den verschiedenen Teilen der Welt. Das 21. Jahrhundert, in dem wir leben, ist ein Jahrhundert, in dem sich lokale Autonomie entwickelt. In den vorangegangenen Jahrhunderten wurden monistische und zentralistische Systeme gestärkt, um soziale und ökonomische Entwicklung zu begründen. Aber leider hat sich nicht nur gezeigt, dass dieser Ansatz versagt hat, sondern auch, dass er eine Vielzahl von Problemen verursacht hat. Neue Systeme wurden in dem neuen Jahrhundert entworfen, die viele der vorherigen Modelle aufwerten und weiterentwickeln, z. B. wurden anstelle zentralistischer Systeme Befugnisse an lokale Verwaltungen übertragen, bei denen Volksgruppen direkt an der Verwaltung teilhaben, und Regierungsformen, die auf Selbstverwaltung basieren. Es scheint, dass verschiedene Identitäten und Glaubensrichtungen sich in solchen Modellen frei selbst bestimmen und verwirklichen können, darüber hinaus ist die Möglichkeit ökonomischer Entwicklung dort eher gegeben. Aus all diesen Gründen verweisen wir als DBP auf das Modell der »Demokratischen Autonomie«, das wir für uns übernommen haben.
Wir betrachten die Demokratische Autonomie als in der gesamten Türkei praktisch umsetzbar. Sie beinhaltet den Aufbau lokaler Verwaltungen ohne Vorgabe jeglicher ethnisch begründeter Identität, Machtübertragung, so wie wir sie in unserem Parteiprogramm definiert haben, Unterricht in der Muttersprache, (staatliche) Dienstleistungen müssen multilingual bereitgestellt werden, ausgerichtet entlang der Bedürfnisse der Ethnizitäten, die in den jeweiligen Regionen leben, verschiedene Kulturen und Glaubensrichtungen haben unter diesen Lokalverwaltungen die Möglichkeiten, sich zu entfalten. Sozioökonomische und regionale Entwicklung dürfen nicht entlang von Klassenzugehörigkeiten ausgerichtet werden, sondern entlang der Bedürfnisse der vielen armen Menschen. Außerdem sollen alle politischen Parteien unter demokratischen und freien Bedingungen an den Wahlen teilnehmen können.
Wir glauben, dass das Programm, das wir als »Demokratische Republik« oder »Demokratische Autonomie« bezeichnen, das geeignetste und anwendbarste ist, um die Probleme zu lösen, mit denen wir konfrontiert sind. Es liegt nahe, dass die Realisierung der »Demokratischen Republik« oder »Demokratischen Autonomie« über demokratische Mittel und Wege führt.
Hinsichtlich der Notwendigkeit des Wandels und der Weiterentwicklung des Landes stimmen alle politischen Parteien in der Türkei überein. Aber leider werden keine entsprechenden Programme oder Projekte dazu angeboten, wie die Zukunft gestaltet werden soll, auch nicht von der MHP oder der CHP. Es ist nichts erkennbar außer der Weiterführung des gegenwärtigen Systems mit einigen partiellen Änderungen. Auf der anderen Seite haben die AKP und der Staatspräsident dem Land ein einseitiges System auferlegt. Die AKP hat vielfach ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht mit dem Kemalismus, der in der Vergangenheit über die Republik verhängt wurde, die Opposition und weite Teile der Gesellschaft mit einem Einparteienregime unterdrückt, das Rechtssystem instrumentalisiert, Gewalt zur Auslegung der Verfassung angewendet hat. Die AKP und Erdoğan bedienen sich nun derselben Methoden wie die Systeme und Regime in den Anfangsjahren der Republik. Es ist absolut klar, dass dies keines der Probleme lösen, sondern nur zu weiteren Problemen für die verschiedenen Identitäten und politischen Gruppierungen führen wird. Das Problem besteht nicht darin, das System zu benennen, das die AKP installiert hat. Das Problem liegt in dem, was sich im Inneren versteckt, im Kern und Inhalt des Systems. Ist das Verständnis des Systems demokratisch oder nicht? Werden KurdInnen und andere Volksgruppen in der Verfassung mit gleichen Rechten ausgestattet werden oder nicht? Wird es Demokratie innerhalb des ganzen Landes und in den Lokalverwaltungen geben oder nicht? Werden die Ressourcen des Landes den verschiedenen Gruppen gleichermaßen und gerecht zur Verfügung gestellt oder nur unter den eigenen UnterstützerInnen aufgeteilt? Werden politische Parteien gleiche Rechte und gleiche Chancen genießen oder werden, wie es derzeit passiert, die Parteiführungen willkürlich inhaftiert, werden VersammlungsteilnehmerInnen und BürgermeisterInnen willkürlich verhaftet? Wir können weitere Fragen hinzufügen, aber das eigentliche Problem steht im Zusammenhang mit diesen Fragen. Wenn wir uns diese Zukunftsperspektive anschauen, werden das Experiment, das Erdoğan und die AKP durchführen wollen, und ihre Vorgehensweisen wohl mehr als deutlich.
Die politischen Strategien, die die AKP-Regierung gegenüber unserem Volk verfolgt, insbesondere in der Türkei, aber auch auf der Ebene des gesamten Mittleren Ostens, sind offensichtlich. Sie versuchen ihr Möglichstes, um zu verhindern, dass KurdInnen ihre natürlichen und legitimen Rechte erhalten, sowohl in Syrien und der Türkei als auch in den anderen Gebieten, in denen KurdInnen leben. Insbesondere nachdem der auf Dialog basierende Lösungsprozess beendet wurde. Die Politik, die sie verfolgen, die Gewalt, die Tausende von Toten verursacht und Menschen zur Flucht zwingt, die Zerstörung der Städte und Wohngebiete, ökonomische Krisen, die Schaffung von Armut und die Zwangsenteignungen sind inakzeptabel und wir werden sie auch nicht akzeptieren. Wie wir es immer getan haben, sollten wir auch jetzt solidarisch an der Seite unseres Volkes stehen, um die Repressionen und die Schmerzen zu überwinden, und ihnen dazu verhelfen, ihr Leben weiterzuführen. Die politischen Aktivitäten gegen Konflikte und Gewalt sollten weitergehen und aller Unterdrückung zum Trotz sollte sich der gesellschaftliche Kampf ausweiten. Die Politik der AKP-Regierung wird der Türkei keinen Nutzen bringen. Alle Teile der Gesellschaft, selbst die AKP-Regierung, werden diese Erfahrung machen. Die AKP und Erdoğan mögen denken, dass sie mit dieser Politik der Unterdrückung und Gewalt die politischen Spielräume für unser Volk, das seine Rechte und Freiheiten einfordert, aber auch für demokratische Kräfte, für die Presse und für Intellektuelle begrenzt, aber tatsächlich mindern sie nur ihren eigenen Einflussbereich und sie werden sehen und erleben, dass sie mit Härte und der Ausweitung ihrer Befugnisse nur zerbrechlicher werden. Faktisch würden alle davon profitieren, wenn KurdInnen ihre Rechte erhalten. Eine Lösung der kurdischen Frage auf nicht gewaltsame Weise, mit demokratischen politischen Mitteln wird jedem Teil der Gesellschaft und des Landes nützen. Mit Blick auf eine Lösung der kurdischen Frage haben die letzten Verhandlungen um einen Lösungsprozess zwischen 2013 und 2015 wichtige Erfahrungen mit sich gebracht. Es hat sich gezeigt, dass, abgesehen von den Zielen und Absichten, auch die Vorgehensweisen über VermittlerInnen entlang der Imralı-Kandil-Ankara-Linie nicht zum Erfolg geführt haben. Für die endgültige Lösung und den Erfolg sollte eine neue Vorgehensweise entwickelt werden. Daher sollte die Haft für Herrn Öcalan nicht aufrechterhalten werden, sondern vielmehr eine Umgebung für ihn geschaffen werden, in der er die Verhandlungen direkt führen kann. Er sollte in Kontakt mit allen Bereichen stehen und alle Bereiche sollten die Chance haben, ihn direkt und ohne Umwege zu treffen. Außerdem muss eine Möglichkeit zum Ausstieg aus der Gewaltspirale geboten werden. Ich glaube, dass freiheitliche Bedingungen für Herrn Öcalan seine Chancen erhöhen werden, einen erfolgreichen Lösungsprozess umzusetzen, und es dem Land so möglich wird, einen Ausweg aus der Gewalt zu finden, den KurdInnen und anderen Volksgruppen ermöglicht wird, ihre Rechte zu erlangen, und zudem Freiheiten geschaffen werden und Demokratisierung stattfinden kann. Die Vorgehensweisen von Erdoğan und der AKP, die darauf beharren, niemanden als AnsprechpartnerIn zu akzeptieren, ist weder realistisch, noch löst sie Probleme. Welche Streitfrage auch immer zur Debatte steht, das Problem kann nur mit allen Konfliktparteien gelöst werden; bisher hat niemand eine andere Lösung gesehen oder erlebt.
All diese Grundsätze erinnern uns an die Verantwortung als Partei für die kommenden Zeiten. Unsere zukünftigen politischen Strategien werden sich auf die Darlegung der »Demokratischen Republik« und Aufklärung über die »Demokratische Autonomie« im gesamten Land konzentrieren. Wir werden die NutznießerInnen dieses Projekts in der Gesellschaft aufzeigen, die Beteiligten dieses demokratischen politischen Kampfes für die Weiterentwicklung und Umsetzung dieses Programms und die Organisation dieser gesellschaftlichen Bereiche schulen und Freiheit für Herrn Öcalan einfordern.
Wir erleben eine Zeit massiven Drucks, von Verhaftungen und anderer gegen unsere Partei gerichteter Maßnahmen. Wir haben sogar erlebt, wie die Mitglieder unserer Parteiversammlung Sêvê Demir und Mehmet Yavuzel ermordet wurden. In einer solchen Phase ist es das oberste Gebot, zusammenzustehen und unsere Solidarität zu bewahren. Ich zweifle nicht daran, dass alle Mitglieder unserer Partei sich voller Entschlossenheit und Ehrgeiz auf die Arbeit unserer Partei konzentrieren werden; vom Vorstand bis zur Parteiversammlung, von den Provinzzweigstellen bis zu den Kreisverwaltungen, von den BürgermeisterInnen bis zu den Stadtverwaltungen werden alle unsere ParteikollegInnen und MitstreiterInnen geschlossen und mit großem Zusammenhalt arbeiten. Ferner werden wir gemeinsam mit der HDP gegen die Aufhebung der Immunität und gegen die Einsetzung von TreuhänderInnen in den Stadtverwaltungen der Union der Demokratischen Stadtverwaltungen vorgehen. Gemeinsam sollten wir den demokratischen Kampf ausweiten und zusammenstehen.
Als ein Resümee möchte ich festhalten: Wo immer wir sind, im Gefängnis oder draußen, wir werden in unserem Kampf für unsere Rechte, Freiheit und Demokratie und in unserer lösungsorientierten Politik nicht einlenken. Wir können hinter den fehlenden Lösungswillen und die Unterdrückungspolitik manchmal zurückfallen, aber das heißt nicht zu scheitern – erst wer aufgibt, wird verlieren. Daher sage ich: Wir werden nicht aufgeben. Wir werden uns nicht beugen und wir werden uns nicht in die Knie zwingen lassen. Wir alle werden sehen und erleben, dass der Kampf für Rechte, Freiheiten und Demokratie erfolgreich sein wird; diejenigen, die unterdrücken, werden verlieren.
Ich möchte mich bei denen, die an unserem Kongress teilgenommen haben, bedanken und ihnen meine Grüße senden, ebenso den Menschen, die dem Kongress ihre Solidaritätsbotschaften gesendet haben, unseren Delegierten und unserem Vorstand, den Mitgliedern unserer Parteiversammlung, unseren Parteimitgliedern, den Parlamentsabgeordneten der HDP, unseren BürgermeisterInnen, unseren Lokalverwaltungen und unserem Volk. Meine besonderen Grüße sende ich aber an die politischen Gefangenen im F-Typ-Gefängnis in Adana.
Kamuran Yüksek, Kovorsitzender der DBP
Kürkçüler F-Typ-Gefängnis, Adana
26.05.2016
1 Über 10 000 Menschen wurden damals im Zuge der sog. »KCK-Operationen« verhaftet.