Der Bundestagsbeschluss zum Armenien-Genozid und der Genozid in Nordkurdistan
Die um 101 Jahre verspätete »große Beichte« und die Gefahr für Europa
Veysi Sarısözen, Journalist
Die Anerkennung des Deutschen Bundestags der Mitschuld am Genozid an der armenischen Bevölkerung in der Türkei hat auch eine unvergleichliche Bedeutung für die Entscheidung zahlreicher Staaten in dieser Sache.
Denn dieser Beschluss ist gleichzeitig ein Schuldbekenntnis der gemeinsam mit dem Osmanischen Reich begangenen Verbrechen. Andere Länder haben mit ihrer Entscheidung die Türkei beschuldigt, Deutschland aber hat seine Komplizin bestätigt.
Kein Dokument, kein Zeuge, keine wissenschaftliche oder historische Forschung ist vergleichbar mit dem Bundestagsbeschluss über den Genozid an den Armeniern.
Nach dieser Entscheidung – mit der Begründung »trotz unserer verschiedenen Verantwortlichkeiten und Interessen haben wir gemeinsam diesen Genozid begangen« – wird keine Macht der Welt verhindern können, dass Staatspräsident Erdoğan und sein Regime auf der Anklagebank sitzen werden, sofern sie ihn weiterhin leugnen.
Wir müssen diesen Bundestagsbeschluss durch ein Prisma des brutal fortgesetzten Krieges in der Türkei betrachten, da dieses Schuldbekenntnis nur so weit an Wert und Bedeutung gewinnen kann, wie Deutschland und seine Verbündeten sich gegenüber anderen »Massakern« verhalten werden.
Aus dem Bundestagsbeschluss geht hervor, dass in den Jahren 1915 und 1916 von insgesamt 1,5 Millionen Armeniern eine Million getötet worden war. Das wurde im Bundestag bis auf eine Gegenstimme akzeptiert.
Was aber passiert in der Türkei?
Ein Vergleich der Zahlen wird uns Genaueres veranschaulichen:
Zurzeit wird die kurdische Bevölkerung, die eine gemeinsame Grenze mit der Regionalregierung Kurdistans im Süden und den Rojava-Kantonen im Westen hat, von Haubitzen, Kampfhubschraubern, Panzern und Kampfflugzeugen aus bombardiert und massakriert. Die Zahl der vertriebenen und getöteten Kurden entspricht einem Drittel der Betroffenen zu Zeiten des Genozids an den Armeniern.
Nach der Şeyh-Said-Rebellion im Jahre 1925 vertrieb der türkische Staat bekanntlich im Namen des »Şark-Islahat-Planı« (»Orient-Reform-Plans«) Millionen Kurden aus ihrer Heimat.
Die zweitgrößte Deportation fand Anfang der 1990er Jahre statt, als laut Nachrichtenagentur »DIHA« 4 000 Dörfer evakuiert und verbrannt und zivilgesellschaftlichen Organisationen zufolge bis zu vier Millionen Menschen vertrieben wurden. Allein diese Zahl liegt viel höher als die des Armenien-Genozids. Eines der wichtigsten Ziele war und ist es, ein Kurdistan ohne Kurden zu schaffen und die Vertriebenen in den türkischen Großstädten zu assimilieren.
Was tat Deutschland, das nach 101 Jahren den Genozid an den Armeniern anerkennt und seine Mitschuld erklärt, zu jener Zeit?
Deutschland verkaufte nach der deutschen Einheit die russischen Panzer und Waffen der DDR an die Türkei. Die osmanisch-deutsche Allianz fand dieses Mal gegen Kurdistan Anwendung.
Zur Klärung dieser Frage muss ein Blick auf die Vergangenheit geworfen werden. In diesem Rahmen soll an zwei symbolische Sachverhalte erinnert werden:
Am 22. Oktober 1993 wurde der türkische General Bahtiyar Aydın in Pîran (Lice) ermordet. Die PKK wies die Beschuldigung zurück, dieses Attentat begangen zu haben. Das Militär zerstört als Antwort darauf die Stadt Pîran mithilfe der deutschen Panzer. Es wird heute immer noch diskutiert, ob Bahtiyar Aydın aus den eigenen Reihen ermordet wurde.
Was passierte nach der Provokation?
35 Tage nach dem Angriff auf Pîran erklärte der deutsche Staat am 26. November die PKK zur verbotenen Partei. Alle ihr nahestehenden kurdischen Vereine in Deutschland wurden geschlossen. Dieses Verbot wird bis heute aufrechterhalten. Der türkische Staat bezieht sich darauf und will in der Türkei auch die Demokratische Partei der Völker (HDP) verbieten und deren Abgeordnete mit der Begründung verhaften lassen, »verlängerter Arm der terroristischen Organisation« zu sein.
Aktuelle Situation im Völkermord an den Kurden
Die AKP unter Erdoğan hat die Ergebnisse der Parlamentswahl im Juni 2015 nicht akzeptiert und am 24. Juli den Waffenstillstand mit der PKK beendet, den Verhandlungstisch umgestoßen und bis dato nie gesehene Luftangriffe gegen die Stellungen der Guerilla in den Kandil-Bergen geflogen. Und damit den Krieg neu angefacht. Daraufhin haben kurdische Jugendliche Gräben um ihre Stadtteile und Straßen ausgehoben, um gegen Festnahmen und gezielte Tötungen vorzugehen.
Im Moment bombardiert das türkische Militär, mit der Zustimmung Erdoğans und seiner Regierung, ununterbrochen die kurdischen Grenzgebiete. Hunderte Zivilisten haben dabei ihr Leben verloren. Über den Verbleib der Verletzten weiß die Öffentlichkeit nichts. Die Zahl der Vertriebenen in den letzten Monaten liegt bei weit über 500 000; sie entspricht einem Drittel der Zahl der innerhalb von zwei Jahren Betroffenen des Armenien-Genozids. Die kurdischen Städte werden weiterhin in Brand gesetzt. In der Öffentlichkeit und in den Medien wird offen über die gefährlichen Pläne des türkischen Staates berichtet.
Diesen Plänen zufolge sollen alle kurdischen Grenzstädte, von Colemêrg (Hakkâri) bis zur syrischen Grenze, von Kurden entvölkert und dort dann neue Siedlungen für über drei Millionen sunnitische Araber gebaut werden. Dieses Vorgehen ist vergleichbar mit der israelischen Siedlungsbaupolitik. Sollte das Vorhaben realisiert werden, würden die Kurden in der Türkei, bis auf die Grenze zum Iran, keine anderen Verbindungen mehr zu Südkurdistan und Rojava haben.
Es sieht so aus, als werde der Plan des türkischen Staates in die Tat umgesetzt, nachdem das Vorhaben einer 1000 km langen und 40 bis 50 km tiefen Pufferzone in der syrischen Grenzregion nicht realisiert werden konnte. Da es der türkischen Regierung nicht gelungen ist, die Revolution in Rojava zu verhindern und zu eliminieren, versucht der Staat de facto, diese Pufferzone innerhalb seiner Grenzen zu verwirklichen. Mit den hier angesiedelten Arabern sollen die Kurden in Rojava von Norden und Süden in die Zange genommen werden.
Der vor 101 Jahren verübte Genozid an den Armeniern ist für das Erdoğan-Regime eine Quelle der Inspiration geworden.
Aber was ist die Rolle Deutschlands bei diesem »modernen Genozid« an den Kurden?
Bundeskanzlerin Merkel hat mit ihren Türkeibesuchen der letzten Monate die Würde Deutschlands beschädigt. Denn ihre Regierung ist durch den Flüchtlingsandrang nach Europa etwas in Panik geraten, und um ihn aufzuhalten, musste sie zwischen der Türkei und Europa »Mauern errichten«, und zwar auf Kosten der Kurden. Erdoğan erpresste sie mit der Androhung »voller Flüchtlingsbusse nach Berlin«, wenn sie nicht zum Genozid an den Kurden schweige, nicht den Kampf der Türkei gegen die PKK unterstütze und keine drei Milliarden Euro bezahle. Merkel hat sich dieser Erpressung unterworfen.
Und so sah man darüber hinweg, dass mit der Inhaftierung der Flüchtlinge in der Türkei eine ethnische Säuberung einhergeht. Es bedeutet eine Zustimmung zur ethnischen Säuberung von den Kurden in der Türkei.
Ja, im Ersten Weltkrieg war Deutschland zusammen mit dem Osmanischen Reich in den Genozid an den Armeniern verwickelt gewesen.
Das im Zweiten Weltkrieg für den Holocaust verantwortliche Deutschland ignoriert im heutigen »dritten Weltkrieg« den Genozid an den Kurden.
Kann man unter diesen Gesichtspunkten überhaupt noch von einer historischen Bedeutung des Bundestagsbeschlusses sprechen?
Die Anerkennung der Mitschuld am Genozid wäre nur dann glaubhaft und gewänne nur dann eine historische Bedeutung, wenn sich Deutschland wirksam gegen das Massaker an den Kurden positionieren würde. Deutschland und alle europäischen Länder müssen in dieser Sache umgehend initiativ werden, bevor es zu spät ist.
Denn in diesem Moment kämpft die PKK gemeinsam mit der PYD [Partei der Demokratischen Einheit im nordsyrischen/westkurdischen Rojava] gegen die »islamistische, fundamentalistische« Terrorgruppe IS, die sich in allen muslimischen Staaten wie ein Fettfleck ausbreitet.
Die HPG [Volksverteidigungskräfte; die bewaffneten Kräfte der PKK] kämpften im Şengal(Sindschar)-Gebirge, in Kerkûk kämpfen sie mit den Peşmerge gegen Daisch (Islamischer Staat, IS). YPG und YPJ [Volks- und Frauenverteidigungseinheiten in Rojava] kämpfen gemeinsam an der Seite der Koalitionskräfte gegen Daisch. Damit Syrien von dessen Terroristen gesäubert werden kann, haben tausende Menschen ihr Leben gelassen.
Die Bedeutung dieser Geschehnisse muss den westlichen Kräften nicht lange erklärt werden; die Bomben- und Selbstmordattentate in Paris sollten den EU-Bürgern die Gefahr schon längst verdeutlicht haben.
Die Türkei ist ein NATO-Staat, in ihr werden die letzten Schritte zur islamofaschistischen Diktatur vorangetrieben. Dieses Regime stützt sich auf den »militärisch-industriellen Komplex« von Eliten, die die oligarchische Macht bilden. Diese wiederum haben die sunnitischen Muslime als Basis. Der [von Atatürk etablierte] Säkularismus wird immer mehr infrage gestellt, ebenso die Macht der türkischen Kemalisten [der ehemaligen Staatselite]. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist mittlerweile zu einem Teil der AKP geworden. Die Republikanische Volkspartei (CHP) hat die AKP bei den Abstimmungen über die Aufhebung der Immunität der Parlamentsabgeordneten der HDP mit ihren Stimmen unterstützt. All diese Parteien (AKP, MHP, CHP) sind gegen die getroffene Bundestagsentscheidung; von ihnen wird eine schmutzige Kampagne gegen Deutschland forciert. Diese Kräfte bereiten sich auf einen letzten Schlag gegen die HDP vor, weil sie die »rassistischen« Stellungnahmen des türkischen Parlaments nicht getragen hat.
Die Türkei hat bereits jetzt eine schwere Niederlage im Nahen Osten erlitten. Das Abenteuer, die Führung der sunnitisch dominierten Bevölkerungen zu übernehmen, ist voller Frust zu Ende gegangen. Bis auf Saudi-Arabien und Katar hat der türkische Staat keine »Freunde«/Verbündeten mehr. Jetzt führen Erdoğan und sein Regime einen Rachefeldzug gegen die Völker Kurdistans.
Aber das ist ein sinnloses Bestreben. Denn das Volk in Nordkurdistan, wenn auch innerhalb der türkischen Grenzen ansässig, hat dieser militaristischen und faschistischen Syrien-Politik der Türkei eine Niederlage zugefügt. Natürlich haben manche Städte dafür große Opfer gebracht. Das Bewusstsein der Bevölkerung ist zum Teil etwas irritiert. Aber mit einem Blick auf die Landkarte lässt sich leicht ein Bild des Sieges in der Geschichte Kurdistans erkennen.
Aber es besteht auch eine andere »vorübergehende« Möglichkeit:
Das Erdoğan-Regime könnte gemeinsam mit dem Militär den »Völkermord« im Norden forcieren, die Angriffe auf andere Städte ausweiten, die im Moment nicht berührt sind. Die Abgeordneten der HDP könnten verhaftet, den Kurden alle rechtmäßigen und legitimen Handlungsmöglichkeiten genommen werden. Es könnte sogar sein, dass sich die PKK »vorübergehend« zurückzieht. Die kurdische Freiheitsbewegung und die türkischen Demokratiekräfte, die an der strategischen Syrienfront siegen, könnten in Nordkurdistan eine taktische Niederlage erleiden.
Was passiert dann?
Auf der Basis der Gedanken der kurdischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan wird die kurdische Freiheitsbewegung neu geboren, aber das System in Europa wird gefährdet sein. Weil ein Kurdistan, in dem sich die PKK zurückzieht und die demografischen Verhältnisse durch die verstärkte arabische Präsenz durcheinandergeraten, rasch von Daisch überrollt werden wird. In einem solchen Fall – statt einer PKK, welche die muslimische Bevölkerung mit einem aufrechten Säkularismus bereichert – würde es bedeuten, dass die blutrünstigen Hisbollah und Daisch in diesem Gebiet an Stärke gewinnen und ihren Nährboden finden. Dies wiederum würde heißen, dass sich die Türkei innerhalb weniger Jahre zu einem Land wie beispielsweise Pakistan entwickelt. Die Konsequenzen für Europa wären ein erneutes Ansteigen der Flüchtlingszahlen sowie Busse voller Selbstmordattentäter, die eine Gefahr für die europäische Zivilisation bedeuten würden.
Frau Merkel, die vor dem Regen flieht, käme gleich in die Traufe. Zusätzlich würde eine Niederlage der kurdischen Freiheitsbewegung in Nordkurdistan Millionen Menschen, die sich mit der kurdischen Sache solidarisieren und den Repressalien von Staat, Dorfschützern, Hisbollah und Daisch ausgesetzt sind, veranlassen, sich auf den Weg u. a. nach Europa zu machen.
Deshalb wären nicht nur für das kurdische Volk, sondern für alle europäischen Nationen die Aufhebung des PKK-Verbots, die Freilassung des PKK-Anführers Abdullah Öcalan aus dem Imralı-Gefängnis und die Einstellung der Angriffe in Nordkurdistan von erheblichem Vorteil. Der Deutsche Bundestag darf dieses Mal den Fehler des hundertjährigen Verzugs bei der Anerkennung des Völkermords in Kurdistan nicht wiederholen.
Mit der Bestätigung seiner Mitschuld am Genozid an den Armeniern hat Deutschland einen ehrenvollen Schritt getan. Aber wer »A« sagt, sollte auch »B« sagen können: den Genozid in Kurdistan benennen!