Die Ökologiebewegung kommt voran
Das neue Gesellschaftsparadigma wird praktisch
Ercan Ayboğa, Mitglied der Ökologiebewegung Mesopotamiens
Die Ökologiebewegung in Nordkurdistan (Bakur) kommt so langsam in Fahrt. Als die Mesopotamische Ökologiebewegung (TEM/MEH) sich ab Anfang 2015 neu zu organisieren begann, bestanden so einige Zweifel, ob sie tatsächlich eine breite ökologische Bewegung werden könnte. Mehr als ein Jahr später kann dies mit absoluter Sicherheit gesagt werden.
Die erste Konferenz im April 2016 ist der endgültige Beleg dafür, dass sich in Nordkurdistan eine ökologisch orientierte soziale Bewegung herausbildet. Etwa ein Jahr lang hatten sich in den meisten Provinzen Interessierte, engagierte Menschen und AktivistInnen der MEH getroffen und diskutiert, wie Strukturen aufgebaut werden könnten. Erst wurden Initiativgruppen gegründet, um dann in einem zweiten Schritt in der jeweiligen Provinz auf einer großen Versammlung einen Ökologierat ins Leben zu rufen. Immer wieder wurden die Strukturen in den Provinzen umgestellt. Es wurde probiert und angepasst, bis vorübergehend eine halbwegs akzeptable Form gefunden wurde. Und diese unterscheidet sich teilweise von Provinz zu Provinz. Vor allem die zahlreichen Kommissionen bzw. Arbeitsgruppen sind dabei wichtig. Bemühungen, auch auf Bezirksebene Gruppen aufzubauen, sind neueste Entwicklungen. Eine vielfältige dynamische und antihierarchische Struktur bildete sich so heraus.
Die Konferenz fand zu einem Zeitpunkt statt, als in allen organisierten Provinzen traditionelles und lokales Saatgut gesammelt und auf ausgewählten Flächen angepflanzt wurde. In jeder Provinz bildeten sich Kommissionen zu Saatgut, Landwirtschaft und Ernährung, welche dies durchführten. Lokales Saatgut zu finden, war nicht schwer, da viele AktivistInnen selbst Familie oder Bekannte in den Bezirken hatten, die teilweise nicht industriell anbauten. Im Vergleich zu Ländern mit intensiv betriebener Agrarindustrie ist Nordkurdistan im Vorteil. Kaum gesammelt, traten die AktivistInnen mit Schulen, Kindergärten und insbesondere mit den Volksräten in den Provinzen in Kontakt. Das gesammelte und vielfältige Saatgut wurde auf Flächen in Schulen und Kindergärten als auch in der und um die Stadt herum gemeinsam angepflanzt mit dem Ziel, in den kommenden Jahren noch mehr von diesem Saatgut zu haben. Allein in Amed (Diyarbakır) geschah dies auf sieben Arealen von je einem Viertel Hektar Größe. Dass diese Flächen nicht von den MEH-AktivistInnen selbst bewirtschaftet werden, ist eine bewusste Entscheidung, um die Bedeutung des Saatguts in die breitere Gesellschaft hineinzutragen. Es ist ein Grundsatz der MEH, ihre Aktivitäten mit der Gesellschaft durchzuführen und nicht losgelöst zu arbeiten. Hinzu kommt noch, dass die Volksräte – Strukturen der radikalen/direkten Demokratie innerhalb des neuen politischen Ansatzes des Demokratischen Konföderalismus – mit der MEH in anderen politischen Sphären zusammenkommen. Diese ökologische Reproduktion lokalen Saatguts ist ein wichtiger Schritt, um dieses so bedeutende und vielfältige Erbe zu bewahren und die Perspektive, die Landwirtschaft von Hybrid-Saatgut und industriellen Pestiziden und Düngemitteln weitgehend zu befreien, aufrechtzuerhalten und umzusetzen. Dabei geht es auch um Lebensmittelqualität und Ernährungssicherheit.
Die Kämpfe gegen destruktive und ausbeuterische Investitionsprojekte gehen indes weiter, wenn auch in der Regel wenig Erfolg zu verzeichnen ist. Selbst wenn eine Talsperre oder ein Bergbauprojekt verzögert wird, nimmt der Staat von keinem Projekt Abstand. Der Zerstörungswille ist sehr groß.
Auch wenn nicht viele internationale AktivistInnen anreisen konnten (aus diversen Gründen), hat sich die MEH im letzten einen Jahr international gut einbringen und Beziehungen aufbauen können. Sie nahm an einer Reihe internationaler Begegnungen teil (bzw. wird es noch), wurde mehrmals zu diversen Vorträgen eingeladen und hat angefangen, regelmäßig Erklärungen abzugeben und Informationen zu streuen. Innerhalb kürzester Zeit hat sie ein ansehnliches Netzwerk aufbauen können. Und das nicht nur in Richtung Westen, sondern auch mit Gruppen im Mittleren Osten. Internationale Beziehungen sind sehr wichtig, weil das Ziel, die Gesellschaft aus einer ökologischen Perspektive neu zu interpretieren und umzugestalten, ein sehr umfassendes ist und viele Details beinhaltet. Ein erheblicher Teil dessen ist in Kurdistan noch gar nicht diskutiert worden. Und etliche Lösungsansätze sind sich in den Ländern dieser Welt sehr ähnlich.
Auf der Konferenz wurde so viel beschlossen, dass für ausgiebige Diskussionen kein Raum blieb. Die vorgesehenen zwei Tage waren nicht wirklich ausreichend. Den meisten Platz nahmen die Positionen zu acht verschiedenen Themenfeldern ein: Energie, Wasser, natürliche Landwirtschaft, Umwelt und Gesundheit, kommunale Ökonomie, Wald, ökologische Städte, Öko-Technologie. In den Wochen zuvor hatten dazu Workshops stattgefunden, auf denen ausgiebig diskutiert worden war. Nun wurden die Ergebnisse vorgestellt und mit einigen Änderungen angenommen. Zweifellos durchzieht das Bewusstsein über die Befreiung der Geschlechter alle Papiere. Genauso wie beabsichtigt ist, die Gesellschaft komplett einer ökologischen Betrachtungsweise zu unterziehen, ist es schon begonnene Realität, dass sich die Geschlechterbefreiung überall wiederfindet. Diese angenommenen Positionen plus die Grundsätze der MEH werden von nun an die Grundlagen der zukünftigen Arbeit bilden.
Nach der Konferenz hat die MEH eine neue Phase ihrer Aktivitäten eingeleitet. Während im ersten Jahr Aufbau und Grundsätze im Vordergrund standen, wird es nun einen Ausgleich mit der Praxis geben. Die Saatgut-Thematik wird weiter vertieft werden. Einen neuen Schwerpunkt werden die Kommunalverwaltungen ausmachen, an deren Praxis sehr vieles nicht oder kaum ökologisch ist. Neue Kampfformen gegen die destruktiven Investitionsprojekte müssen entwickelt werden. Notwendig ist auch die Ausbreitung der Aktivitäten von den Provinzhauptstädten in die Bezirke. Eine Ökologieakademie in Wan (Van) soll bis zum Frühjahr 2017 aufgebaut werden, was eine Herausforderung sein wird. Sie soll Ausdruck der Weiterführung der Diskussionen und erarbeiteten Grundlagen sein. Der Ansatz der sozialen Ökologie kann in Kurdistan mit einer breiten Praxis verbunden werden. Diese theoretische Auseinandersetzung ist unausweichlich, um Schritt für Schritt voranzukommen.
Überhaupt nimmt das Paradigma einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft mit der sich entwickelnden MEH-Struktur Gestalt an. Während die Frauenbewegung und Erfahrungen mit demokratischen Entscheidungsformen relativ vorangeschritten sind, haperte es immer mit dem ökologischen Ansatz.