Über gesellschaftliche Alternativen jenseits der Kategorien Ware, Geld, Markt und Staat

Von Paris nach Rojava und weiter

Manfred Sohn, Autor und Politiker, und Florian Grams, Doktorand an der Universität Hannover

Seit 2005 begann die kurdische Bewegung in Kurdistan ein alternatives Projekt auf der Basis von Kommunen aufzubauen. Der Staat wird dadurch überwunden, dass auf praktischer Ebene alle Strukturen in Selbstorganisation und Selbstverwaltung übernommen werden. Von Anfang an haben Frauenräte diesen Prozess im Kampf gegen patriarchale Strukturen angeführt.

Mit dem Aufbau von Kommunen bezieht sich die kurdische Bewegung auf das Konzept der Pariser Kommune oder der spanischen sozialen Revolution in den 1930er Jahren.

Newroz fand in diesem Zusammenhang eine Veranstaltung der Roten Hilfe e.V. OG Hannover, des Kulturzentrums Pavillon, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen und des Verbands der Studierenden aus Kurdistan in Hannover mit Manfred Sohn, dem Autor von »Der dritte Anlauf: Alle Macht den Räten« (2012), Florian Grams, dem Autor von »Die Pariser Kommune« (2014) und Anja Flach, der Mitautorin von »Revolution in Rojava« (2015) statt.

Thema war, das Erbe der Kommune, Erfahrungen als auch seine Ausformulierung durch die Klassiker für eine erneute emanzipatorische Praxis nutzbar zu machen, sowie die Bedeutung der Kommune für heutige Kämpfe, insbesondere in Rojava/Kurdistan.

Manfred Sohn und Florian Grams haben auf unsere Bitte für den Kurdistan Report einen kurzen Beitrag verfasst.

Die Veranstaltung in Hannover wurde durch Radio Flora dokumentiert:

http://www.radioflora.de/contao/index.php/Beitrag/items/die-pariser-commune-und-rojava-zwei-alternativen-zum-kapitalismus.html

Von Paris nach RojavaZusammenfassung eines Beitrags von Manfred Sohn zum Workshop der Rosa-Luxemburg-Stiftung 145 Jahre nach der Pariser Kommune »Von Paris nach Rojava – Perspektiven emanzipatorischer Gesellschaftsgestaltung« am 19. März 2016 im Raschplatz-Pavillon in Hannover:

Auf den ersten Blick scheinen Welten zwischen den Ereignissen von Paris im Jahre 1871 und den aktuellen Bewegungen in Rojava zu liegen – räumlich wie vor allem zeitlich. Es könnte auch so scheinen, als ob die zeitgleich mit den Kämpfen in Syrien und der Türkei entstandene Bewegung von »O Topos Mou«, auf die in der Zweiwochenzeitschrift »Ossietzky« der hannoversche Journalist Rainer Butenschön hingewiesen hat, damit nichts zu tun hat. Diese Bewegung wurde 2007 in der 80 000 Einwohner zählenden Stadt Katerini gegründet, um Waldbrände zu bekämpfen, hat aber ihre Aktivitäten inzwischen auf soziale und kulturelle Bereiche ausgedehnt. So wurde eine »Soziale Apotheke« gegründet, die inzwischen durch eine kleine Sozialklinik ergänzt worden ist, und da die Troika-Diktate den »Hunger nach Griechenland zurückgebracht haben«, wie Butenschön schreibt, ist eine Bewegung »Ohne Zwischenhändler« entstanden, durch die regionale Produkte direkt an Konsumenten verteilt werden. Das alles wird jenseits von staatlichen Strukturen und Marktstrukturen organisiert. Der Gründer der Bewegung, Elias Tsolakidis, formuliert das so: »Wir sind kein Verein, wir haben keinen Vorstand, wir verwalten kein Geld. Wir sind unabhängig von Staat und Parteien.« Alle Entscheidungen werden basisdemokratisch von Vollversammlungen getroffen und von themenbezogenen Freiwilligen-Kommissionen, die sich übers Internet organisieren, eigenverantwortlich umgesetzt. Vieles davon kommt Rojava-Kundigen bekannt vor.

Was verbindet Paris, O Topos Mou und Rojava? Offensichtlich sind dort Menschen aktiv geworden, die weniger durch theoretische Studien, sondern vor allem durch praktische Erfahrungen ihren Glauben an die Segnungen von Staat und Markt verloren haben und nun beginnen, ihre Angelegenheiten jenseits etablierter Strukturen in die eigenen Hände zu nehmen. Das ist an und für sich schon bewundernswert, könnte aber von uns, wo diese Staats- und Marktstrukturen für die meisten Menschen noch leidlich zu funktionieren scheinen, eben mit der Bewunderung eines Zuschauers betrachtet werden. Verfochten sei hier aber eine andere Betrachtungsweise, die so formuliert werden könnte: In diesen Beispielen scheint etwas auf, was für uns in Deutschland eminente praktische Bedeutung für unser eigenes politisches Handeln haben wird. Das ist deshalb so, weil die Strukturen, die die Notwendigkeit des Handelns in den genannten Beispielen hervorriefen bzw. -rufen, dieselben sind, die unvermeidlich und für aufmerksame Menschen jetzt schon sichtbar auch bei uns ihre Wirkungen zu entfalten beginnen. Dies sei im Folgenden anhand von vier kurzen Thesen angerissen, deren Entfaltung ich in den Büchern »Der dritte Anlauf« und »Am Epochenbruch« versucht habe:

I) Die Pariser Kommune stand am Beginn der Konstitution dessen, was wir heute Kapitalismus nennen. Im Zentrum dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystems steht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nicht mehr durch direktes Handeln der Menschen miteinander, sondern vermittelt über die Herstellung von Waren und ihren Austausch. Indem das geschieht, rückt in das Zentrum eines solchen Systems anstelle der Befriedigung dieser Bedürfnisse die Herstellung von Waren mit dem Ziel, aus dem Geld, das aufgewendet wurde, um die Dinge zu kaufen, die zur Herstellung von Waren benötigt wurden, mehr Geld zu machen. Kapitalismus ist auf die Formel zu bringen, aus G immer G‘ – mehr Geld – zu machen. Die Konstitutionsgeschichte dieses Systems ist voll von blutig niedergeschlagenen Versuchen, sich dieser Unterwerfung aller menschlichen Beziehungen unter die Formel G-G‘ zu widersetzen. Die Pariser Kommune war das bis dahin flammendste Fanal, das zu tun, weil es gelang, auf kommunaler Ebene in einer der damals größten Städte der Welt diesem Prinzip dasjenige der Selbstverwaltung entgegenzusetzen.

II) Das kapitalistische System reißt in seiner aufsteigenden Phase historisch alle ihm äußerlich gesetzten Schranken – religiöse, regionale, staatliche Grenzen, Zunftorganisationen usw. – nieder und bricht erst dann zusammen, wenn es an seiner »wahren Grenze«, wie Marx in den »Grundrissen« schreibt, anlangt. Sie ist erreicht, wenn alle nichtkapitalisierten Regionen der Welt und alle nicht in Warenform gepressten Bedürfnisse der Völker unter das Joch der Selbstzweckmaschine G-G‘ gezwungen sind.

III) Die Pariser Kommune war wie der große Versuch, der 1917 von der russischen Oktoberrevolution ausging und 1989 so kläglich endete, zum Scheitern verurteilt, weil er eine Rebellion in der noch aufsteigenden Phase dieses Systems war. O Topos Mou wie die Kämpfe in Rojava sind deshalb ein Fanal, weil sie die bisher kämpferischsten Erhebungen gegen die Zumutungen des Kapitalismus am Beginn der 2008 begonnenen finalen Krise dieses Systems sind, also sich schon in seiner absteigenden Phase entfalten. Dies ist der Fall, weil die von Marx analysierten Bedingungen, die die Grenze seiner Entwicklungsfähigkeit festlegen, eingetreten sind: Seit 1989 gibt es keine nennenswerten Regionen mehr, die noch zu kapitalisieren sind, und seit der sogenannten dritten industriellen Revolution werden beständig mehr Arbeitskräfte aus der Mehrwertproduktion herausrationalisiert, als neue Industrien sie wertbildend absorbieren können – deshalb die weltweit unentwegt ansteigende Zahl von dauerhaft Arbeitslosen in Griechenland, Nordafrika, Türkei, Spanien und zunehmend auch in den kapitalistischen Zentren selbst. Die große Wanderung der Millionen Menschen ist folglich keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise des global gewordenen und an seine wahre Grenze gekommenen Kapitalismus, die sich an den Fliehenden exekutiert.

IV) Die Struktur des Kapitalismus und seine notwendige Negation durch eine Gesellschaft jenseits der Kategorien Ware, Geld, Markt und Staat erklärt auch die besondere Rolle der Frauen, die sie sowohl in der Pariser Kommune als auch in Rojava und allen zukünftigen Kämpfen spielten, spielen und spielen werden: Das System kann nur existieren, indem alle der Verwandlung von Bedürfnissen in die Warenform entgegenstehenden Zusammenhänge abgespalten und an eine Gruppe von Menschen übertragen werden, die diese nicht unter die Formel G-G‘ pressbaren Bedürfnisse befriedigen kann. Dies betrifft vor allem die mit der Reproduktion zusammenhängenden Bedürfnisse und Fähigkeiten. Da keine Gesellschaft ohne Kinder auf Dauer existieren kann, kein Kind aber ohne Mutter auf die Welt kommt, ist diese Abspaltung nicht warenförmig zu machender Bedürfnisse geschlechtsspezifisch erfolgt. Die Rebellion der Frauen von Paris bis Rojava und darüber hinaus ist die logische Konsequenz dieser Abspaltung und weist gleichzeitig auf die Perspektive einer Gesellschaft ohne Markt, Geld und Staat als einer Vereinigung von Menschen hin, die sich auf kommunaler Ebene so organisieren, dass in das Zentrum der Gesellschaft die Befriedigung ihrer Bedürfnisse anstelle des Selbstzwecks G-G’ rückt.


Zusammenfassung des Beitrags von Florian Grams: Die Pariser Kommune – die ruhmvolle Vorbotin einer neuen Gesellschaft:

In der politischen Auseinandersetzung mit marxistischen Positionen stellte der Anarchist Michail Bakunin einmal die rhetorische Frage, ob denn alle Einwohner*innen in einem sozialistischen Staat Mitglieder der Regierung sein würden. Karl Marx entkräftete mit seiner Entgegnung den mitschwingenden Spott. Er antwortete kurz und sachlich: Sicherlich! »Da die Sache mit der Selbstregierung der Gemein[d]e anfängt.« Marx machte an dieser Stelle sehr deutlich, dass es ihm um nichts weniger als um die Befreiung der Menschen aus Verhältnissen ging, die sie erniedrigen und um die Rücknahme des Staates in die Gesellschaft. Ganz deutlich wird an diesem selten zitierten Satz zudem, dass Marx eben kein Anhänger eines blinden Staatsglaubens war. Deutlich wird aber auch, dass seine Vorstellungen von einem neuen Gemeinwesen geprägt waren von den Erfahrungen der Pariser Kommune vom Frühjahr 1871.

Dort wo heute Sacré-Coeur – die Zuckerbäckerkirche auf dem Pariser Montmartre – steht, befand sich lange Zeit ein schmutziges Arbeiter*innenquartier, in dem Proletarier*innen, Tagelöhner*innen und Prostituierte lebten. Es war aber auch die Heimat derjenigen, die Karl Marx als Himmelsstürmer bezeichnete; hier stand die Wiege der Pariser Kommune. Während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 stellte die französische Regierung 100 000 Pariser Bürger*innen zur Verteidigung der Hauptstadt unter Waffen. Diese Nationalgarde veränderte das Antlitz des französischen Militärs: In den Bataillonen wählten die Soldaten ihre Offiziere und schufen demokratische Strukturen. So entstand die Keimform einer Volksarmee, die ihre soziale Basis in den Armenvierteln von Paris besaß.

Dadurch erwuchs der französischen Regierung eine Bedrohung, die sie für gefährlicher hielt als die deutschen Truppen vor den Toren der Stadt. Deshalb versuchten am 18. März 1871 zwei Bataillone der regulären Truppen die Geschütze der Nationalgarde vom Montmartre zu entfernen. Als die Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels diesen Raub verhinderten, kam es zur offenen Konfrontation zwischen der Nationalgarde und der Regierung, die in Panik nach Versailles flüchtete. Die Pariserinnen und Pariser waren in dieser Situation gezwungen, die Regierung und Verwaltung der Stadt neu zu organisieren. Es war das Zentralkomitee der Nationalgarde, das in das Stadthaus einzog und das Stadtleben organisierte. Am 19. März 1871 veröffentlichte das Zentralkomitee seinen ersten Beschluss, in dem es die Wahlen zum Kommunerat – dem Stadtrat von Paris – auf den 22. März 1871 festsetzte. Aus diesen Wahlen ging die erste Arbeiter*innenregierung hervor, die getragen war vom imperativen Mandat ihrer Funktionsträger*innen und von einer weitgehenden Anbindung politischer Entscheidungen an die Basis der Bevölkerung. Der Kommunerat erließ Dekrete, die den Brotpreis fixierten, die Verhängung von Geldstrafen auf den Arbeitslohn verboten, von ihren Besitzer*innen verlassene Fabriken in die Hände von Arbeiter*innengenossenschaften legten und den Schulunterricht unentgeltlich machten. Zugleich wurde auf den Straßen und in politischen Clubs über den richtigen Weg des revolutionären Paris gestritten und die Verteidigung der Stadt gegen die militärische Offensive der Konterrevolution aus Versailles organisiert. Bei alledem spielten die Frauen von Paris eine entscheidende Rolle.

Trotz der tödlichen Bedrohung durch die bewaffnete Konterrevolution verzichteten die Kommunard*innen fast vollständig auf die Anwendung von Repression – vielmehr setzten sie darauf, sich auch in der Wahl der Mittel vom Gegner zu unterscheiden. Nach wochenlangen Gefechten und erbitterten Straßenkämpfen erstickten französische Regierungstruppen die Kommune nach nur 72 Tagen im Blut.

Trotz der Niederlage war die Pariser Kommune der »ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft«. So sparte etwa Karl Marx zwar nicht mit Kritik an den Maßnahmen der Pariser Revolutionär*innen – einen Grund für den blutigen Untergang erblickte er in der mangelnden Entschlossenheit und im Sanftmut der Kommunard*innen –, doch sah er in ihrem Handeln die »[...] endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«.

Heute verteidigen kurdische Kämpferinnen und Kämpfer in Rojava einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch mit ganz ähnlichen Zügen wie im Paris von vor 145 Jahren. Wieder ist es eine Form der Selbstorganisation in überschaubaren Zusammenhängen, die gleichwohl (oder gerade darum) viele Menschen einzubinden vermag, und wieder stehen Frauen in der ersten Reihe bei der Gestaltung und Verteidigung des neuen Gemeinwesens. Wieder einmal ist aber auch die Bedrohung des Neuen durch die Gewalt der alten Ordnung präsent. In Erwägung dieser Situation wird es wertvoll sein, die Pariser Erfahrungen von 1871 genauer zu analysieren, als es dieser kurze Text zu leisten vermag. Zu befragen sind dann die konkreten historischen Ereignisse, die Diskussionen der Kommunard*innen und die Lehren, die spätere Revolutionär*innen bereits aus der Pariser Kommune gezogen haben. Nur so kann es nämlich gelingen, sowohl die Fehler des Frühjahrs 1871 als auch die Fehler des sozialistischen Aufbaus nach 1917 zu vermeiden. Irrtümer und Fehler wird es auf dem Weg in die demokratische, freie und gerechte Welt trotzdem noch zur Genüge geben, denn den verlässlichen »Baedeker der Geschichte« kann es nicht geben. Doch zugleich müssen alle Siege und Niederlagen Erfahrungen sein, »[...] deren keine wir missen dürfen, deren jede ein Teil unserer Kraft und unserer Zielklarheit ist«. Dann muss und wird es gelingen, eine Welt umfassender Freiheit und Gleichheit zu errichten.