Wie die Türkei der AKP Schritt für Schritt zum Militär- und Polizeistaat geworden ist

Die Strategie der kleinen Schritte ...

Zana Azadî, Journalist

Im Türkischen gibt es die Parole »Militär und Nation Hand in Hand« (türk.: ordu millet el ele). Auch der Ausdruck »Militärnation« (ordu milleti) ist gängiger türkischer Sprachgebrauch. Diese Begriffe machen schon deutlich, dass das Machtzentrum im türkischen Staat beim Militär angesiedelt ist. In der Türkei kann keine politische Kraft problemlos ihre Macht gegen das Militär behaupten. Selbst an der Regierung hat eine solche politische Kraft keine lange Lebenserwartung. Die Geschichte der Militärputsche in der Türkei ist Ausdruck dieser Realität.

450x_ Hamburg: Demonstration gegen die nationalistische MobilisierungAuch die AKP war sich bei ihrer Machtergreifung im Jahr 2002 dessen bewusst. Aus diesem Grund wählte sie eine Strategie der kleinen Schritte, um das Militär und die Polizei im Sinne ihrer eigenen Interessen neu zu gestalten. Bei der Umsetzung dieser Strategie arbeitete sie eng mit der Gülen-Bewegung zusammen. Erst als es zum Machtkampf zwischen dem Orden von Fethullah Gülen und der AKP kam, hat die regierende AKP die Polizeichefs aus der Gülen-Bewegung aus dem Sicherheitsapparat entfernt, einige auch festnehmen lassen. In den Reihen der Armee ist es bisher zu keiner ähnlichen Säuberungsaktion gekommen.

Die AKP hat weiterhin Schritt für Schritt und sehr behutsam die rechtlichen Grundlagen gelegt für die Etablierung einer »grünen Gladio« (islamisch geprägt), und einer Gladio, die an den Staatspräsidenten Erdoğan gebunden ist. Gleichzeitig hat sie ihre Kader für eine solche Organisierung aufgestellt und so den Kern eines tiefen Staates unter ihrer Kontrolle geschaffen.

Der AKP-Abgeordnete Galip Ensarioğlu sprach jüngst davon, dass die Legislative, Exekutive und Judikative unter der Kontrolle der Regierungspartei stünden. Und tatsächlich hat die AKP auch in der Justiz in ihrem Sinne »aufgeräumt«. Zunächst schloss sie die Staatssicherheitsgerichte (DGM). Die Auflösung dieser Gerichte, die unter der Kontrolle des Militärs gestanden hatten, propagierte sie als Schritt in Richtung Demokratie. An deren Stelle etablierte sie die Gerichte mit Sonderbefugnissen (ÖYM), deren Kompetenzen diejenigen der Staatssicherheitsgerichte noch überstiegen. Doch dann schaffte sie am 21. Februar 2014 mit ihrem 3. Justizpaket die Gerichte mit Sonderbefugnissen wieder ab. Um die vor diesen Gerichten verhandelten Verfahren kümmerte sich fortan der Strafgerichtshof. Mit der jüngsten Reform im Jahr 2015 schließlich wurden die Sonderfachgerichte (Özel İhtisas Mahkemeleri) eingerichtet, die im Prinzip eine Rückkehr zu den Gerichten mit Sonderbefugnissen unter neuem Namen bedeuten und dem Strafgerichtshof die »Terrorfälle« wieder abnehmen. Neben diesen »Justizreformen« hat die AKP besonderen Wert darauf gelegt, das ausscheidende Personal aus dem Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), verantwortlich für die Kontrolle der Gerichte sowie für Personalfragen, mit eigenen Leuten zu ersetzen. Am 27. März 2015 erließ sie zudem das Gesetzespaket zur inneren Sicherheit, mit dem sie dem Militär das Recht einräumt, ohne richterlichen Beschluss ganze Regionen als Sicherheitsgebiete zu deklarieren. Gleichzeitig wurden die Kompetenzen der Gouverneure ausgeweitet.

Bereits am 1. Juni 2005 hatte die AKP-Regierung mit einem Gesetz den Einsatz der Konterguerilla im Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung rechtlich abgesichert. Am 29. Juni 2006 folgte im Rahmen des Antiterrorgesetzes die Ausweitung des »Terrorismus«- Begriffs, dem zufolge selbst die Artikulation der Forderung nach grundlegenden Menschenrechten für die Kurdinnen und Kurden durch die Presse oder über die Politik als Terrorismustatbestand gewertet werden konnte. Am 27. Mai 2007 folgte dann ein Gesetz, das die drastische Aufstockung der Zahl der Dorfschützer vorsah und so den Krieg in Kurdistan in einen Dauerzustand versetzte.

Kurz darauf, am 2. Juni 2007, folgte das »Dienstpflicht- und Legitimierungsgesetz für die Polizei« (Polis Vazife ve Salâhiyet Kanunu), dem zufolge es die Polizeikräfte der Konterguerilla aus den 90er Jahren gleichtun konnten und ohne rechtliche Folgen zu außergerichtlichen Hinrichtungen befugt wurden. Dieses Recht der Polizei wurde im Rahmen des Sicherheitspakets vom März 2015 nochmals ausgeweitet. Die Polizei durfte nun auch ohne richterlichen Beschluss und ohne Anweisung der Staatsanwaltschaft Hausdurchsuchungen und Festnahmen durchführen. Die aktuellen Massaker des türkischen Staates in Kurdistan finden ihren rechtlichen Rahmen in diesen Gesetzen.

Die AKP hat in ihrer Regierungszeit schrittweise die Zahl der Polizisten im Land erhöht. Als sie 2002 an die Regierung kam, lag die Zahl bei rund 170 000, bis zum 12. Januar 2015 stieg sie auf 304 831. Wenn man die im vergangenen Jahr Eingestellten hinzurechnet, könnte sie mittlerweile die Grenze von 400 000 überschritten haben.

Da dies der AKP noch nicht ausreichend erschien, siedelte sie an der Generaldirektion für Sicherheit (Zentralbehörde der Polizei; Emniyet Genel Müdürlüğü) ein Sonderdezernat für Sicherheit (Özel Güvenlik Dairesi Başkanlığı) an. Mit dessen Gründung wurde auch neues Sicherheitspersonal ausgebildet. Es wurden 1 333 Sondersicherheitsfirmen gegründet, in denen bis zu einer Million Sicherheitskräfte instruiert wurden. Aktuell sind nach offiziellen Angaben rund 233 000 an dieses Dezernat angebundene Sicherheitskräfte im Dienst. Dadurch verfügt die Generaldirektion für Sicherheit über mehr Beamte als das Bildungsministerium, das zuvor die höchste Anzahl Beamter im Land auf sich vereint hatte.

Doch auch das reicht der AKP nicht aus.

Am 11. Juni 2008 nahm die türkische Regierungspartei Änderungen am Militärgesetz vor. Seitdem dürfen Konterguerilla-Gruppen, ohne jegliche Prüfung ablegen zu müssen, im Auftrag des Staates in Kurdistan eingesetzt werden. Zivil gekleidete Einheiten dieser Gruppen bauen ihre Strukturen seit Erlass dieses Gesetzes auf legaler Basis weiter aus. Die faschistischen Angriffe auf die Bevölkerung haben seitdem zugenommen. Die zuvor der Polizei erteilte »Schieß-Erlaubnis« wurde mit diesem Gesetz auch auf militärische Einheiten ausgeweitet.

Am 10. März 2011 wurde dann das Gesetz über eine Berufsarmee erlassen. Rund 150 000 Mitglieder dieses »Spezialheeres« wurden Schritt für Schritt in Kurdistan stationiert.

Nach offiziellen Angaben vom Januar 2006 beträgt die Zahl der Militärangehörigen in der Türkei derzeit 626 004, davon 293 505 höherrangige Soldaten oder Mitglieder der Berufsarmee.

Mit dem »Staatssekretariat für öffentliche Ordnung und Sicherheit« (Kamu Düzeni ve Güvenliği Müsteşarlığı, kurz KDGM) hat die AKP eine Nachfolgeinstitution für das Amt für besondere Kriegsführung (Özel Harp Dairesi), das Zentralorgan der türkischen Gladio-Strukturen war, ins Leben gerufen. Die Verantwortung für das Entwerfen von Strategien der psychologischen Kriegsführung wurde dem KDGM übergeben, das der Kontrolle der AKP-Regierung untersteht. Somit hat die AKP ihre eigenen Strukturen eines Tiefen Staates, einer »grünen Gladio«, geschaffen. Das Erschaffen einer solchen Struktur bedurfte selbstverständlich des Einverständnisses der USA als führender Kraft der NATO. Dieses Einverständnis holte Erdoğan bei einem Treffen mit George Bush im Jahr 2007 ein. Das entsprechende Gesetz zur Etablierung dieser Struktur erließ die türkische Regierung dann am 17. Februar 2010. Die Gesetzesverabschiedung wurde im türkischen Parlament von kontroversen Debatten begleitet. Einige Abgeordnete sprachen davon, dass die AKP nach dem Vorbild Hitler-Deutschlands ihre eigene Gestapo kreiere, anderen zufolge ihre eigene »grüne Gladio« anstelle des bisherigen Tiefen Staates.

Nach der Verabschiedung des Gesetzes stellte das neugegründete Staatssekretariat sofort Verhaltensforscher, Soziologen, Psychologen und Anthropologen ein, die damit beauftragt waren, entsprechende Strategien der psychologischen Kriegsführung zu entwickeln. Die Folge war, dass die türkischen Mainstream-Medien quasi zentral dirigiert unisono Kriegspropaganda gegen die kurdische Bewegung betrieben. Es heißt, dass mit der Gründung des KDGM sogar 35 Geheimdienstler aus den USA in die Türkei eingereist seien und seitdem in diesem Amt mitwirkten.

Obwohl das Budget des Staatssekretariats rund 24 Mio. US-Dollar beträgt, soll es zusätzlich durch einen Geheimfonds mitfinanziert werden. Dass aus diesem sogenannten Geheimfonds die Kriegsführung des türkischen Staates in Kurdistan gespeist wird, ist hinlänglich bekannt. Interessanterweise fließt der größte Anteil des Geldes in diesen Fonds aus den Kassen des Ministerpräsidialamts der Türkei, seit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Erdoğan auch Gelder aus dem Amt des Staatspräsidenten. Während bei der Übernahme der Regierungsmacht der AKP der Anteil der Geheimfondseinlagen im Haushaltsplan mit 103 Mio. TL (Türkische Lira) beziffert wurde, ist dieser Betrag im Haushalt von 2015 auf 1,8 Mrd. gestiegen. Das ist eine rund 17-fache Steigerung seit der Regierungsübernahme der AKP. In deren 13 Jahren Regierungszeit bis 2015 flossen insgesamt 9,2 Mrd. TL. Wie der Name des Fonds schon preisgibt, wird selbstverständlich nicht gefragt, wofür diese Gelder ausgegeben werden, allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass sie einen Teil des Budgets im Kampf gegen die kurdische Bevölkerung darstellen. Hinzu kommen bei einem Gesamthaushalt von 587 Mrd. TL für das Jahr 2016 22 Mrd. für die Generaldirektion für Sicherheit (Polizei), 28 Mrd. für das Verteidigungsministerium, 9 Mrd. für die Jandarma, 5 Mrd. für das Innenministerium und 2 Mrd. für den Geheimdienst. Der Blick auf den Haushalt reicht also, um deutlich zu machen, dass die AKP die Türkei in einen Militär-, Polizei- und Geheimdienststaat verwandelt hat.

Zum Geheimdienst muss noch ergänzt werden, dass die AKP seinen Handlungsrahmen in zwei Gesetzesnovellen von 2014 und 2015 deutlich erweitert hat. So dürfen Mitglieder des MIT inner- und außerhalb der Türkei an Operationen teilnehmen. Gesetzlich abgesichert wurde mit den Gesetzesänderungen auch, dass die türkischen Geheimdienstmitarbeiter für ihre Teilnahme an Operationen keine rechtlichen Schritte befürchten müssen. Sie dürfen noch nicht einmal befragt werden.

Und eine weitere nennenswerte Struktur im »Sicherheitsbereich« wurde durch die AKP geschaffen. Unter der Regie der Regierung wurde nach dem Vorbild des US-Unternehmens Blackwater [heute »Academi«] die »Sicherheits- und Beratungsfirma«, kurz SADAT, ins Leben gerufen. Ihren Sitz hat die Firma in Istanbul, besonders aktiv ist sie hingegen im Krieg des türkischen Staates in Rojava. Verantwortlich für Massaker und Operationen dort hat SADAT ein Hauptquartier in der syrischen Stadt Idlib errichtet. Über diese Organisation unterhält die AKP enge Beziehungen zum sogenannten Islamischen Staat (IS), zur Al-Nusra-Front, zu Ahrar al-Scham (Islamische Bewegung der freien Männer der Levante) und anderen islamistischen Bandenorganisationen. Getarnt als Flüchtlinge hat die AKP nicht nur führende Islamisten verschiedener dschihadistischer Gruppen in der Türkei beherbergt, sie hat diese Gruppen auch im Kampf gegen Rojava eingesetzt und gelenkt. Gegenwärtig benutzt sie sie außerdem auch in Nordkurdistan, wo sie unter der Bezeichnung »Esadullah-Team« (Esadullah arab. für »Die Löwen Allahs«) agieren.

Ein ehemaliger Emir von Ahrar al-Scham namens Mustafa E. Z. gab der Nachrichtenagentur Dicle (DIHA) zu diesem Thema ein vielsagendes Interview. Demnach habe eine Delegation des türkischen Geheimdiensts MIT in der Stadt Til Rifat eine Versammlung mit verschiedensten islamistischen Gruppierungen, die in Syrien kämpfen, abgehalten. Ergebnis dieses Treffens sei gewesen, dass rund 750 Dschihadisten, darunter Mitglieder des IS, von Al-Nusra, Ahrar al-Scham und anderen Gruppen, in die Türkei gebracht und dort im Kampf gegen die kurdische Bevölkerung in Amed-(Diyarbakır-)Sûr, Nisêbîn (Nusaybin), Cizîr (Cizre), Farqîn (Silvan) und Silopiya eingesetzt wurden. Und so sollen bislang 42 Mitglieder der Islamisten im Krieg in Nordkurdistan ums Leben gekommen sein, von denen 12 Leichname nach Saudi-Arabien, 21 nach Katar, 7 nach Syrien (Bab und Cerablus/Dscharabulus) und zwei weitere in die nordkurdische Stadt Sêmsûr (Adiyaman) gebracht worden seien. Auch laut Angaben der lokalen Bevölkerung und der Zivilverteidigungseinheiten (YPS) werde sich in den Reihen der türkischen »Sicherheitskräfte«, die im Krieg in Nordkurdistan eingesetzt werden, auf Arabisch unterhalten.

Zudem ist in einem Krankenhaus in Cizîr, das im Krieg gegen die Stadt kurzerhand in einen Militärstützpunkt umgewandelt wurde, Geld in Währung aus Ungarn, Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Syrien gefunden worden. Wenn man bedenkt, dass aus diesen Ländern oder über diese Länder zahlreiche Dschihadisten in den Krieg nach Syrien gezogen sind, wird auch deutlich, dass dieselben Dschihadisten von der AKP im Kampf gegen die Kurden eingesetzt werden.