Über den Zusammenhang von Leben, Tod und Widerstand

Das Recht auf Leben und die Unbetrauerbaren von Kurdistan

Meral Çiçek

Theodor W. Adorno, der sich in seinem Werk »Minima Moralia«, aus dem sein wohl meistzitierter Satz »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« stammt, der Frage nach dem richtigen Leben widmet, erklärt in »Probleme der Moralphilosophie«, dass »das Leben selbst eben so entstellt und verzerrt ist, dass im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, seine eigene menschliche Bestimmung zu realisieren vermag – ja, ich möchte fast so weit gehen: dass die Welt so eingerichtet ist, dass selbst noch die einfachste Forderung von Integrität und Anständigkeit eigentlich fast bei einem jeden Menschen überhaupt notwendig zu Protest führen muss.«

Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler hat 2012 in ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Adorno-Preises in der Frankfurter Paulskirche diese Frage aufgegriffen und mit biopolitischen Fragen verknüpft. Wessen Leben zählt? Auf welche Leben als Leben kommt es nicht an? Welche sind als Leben nicht anzuerkennen oder zweifelhaft? Von diesen Fragen ausgehend gelangt Butler zu den Unbetrauerbaren: »Der Grund, weshalb um jemanden nicht getrauert wird, liegt am aktuellen Fehlen einer Struktur, die dieses Leben stützt; das bedeutet, dass es entwertet ist, nicht wert, durch das herrschende Wertesystem als Leben geschützt zu werden.«

Wenn dem so ist, wie entscheidet das herrschende Wertesystem, welches Leben wertvoll und welches wertlos ist? Welches Leben ist zu betrauern, welches nicht? Hierbei handelt es sich nicht nur um moralphilosophische, sondern zugleich auch um politische und ideologische Fragen. Denn hier scheinen politische Interessen und ideologische Annäherungen eine grundlegende Rolle zu spielen. Die herrschende globale kapitalistische Ordnung wertschätzt das Leben eines Teils, um die materielle und ideologische Grundlage ihrer Existenz zu gewährleisten, während es zugleich die Existenz eines anderen Teils als wertlos erklärt. Die Unterscheidung zwischen »Entwerteten« und »Wertvollen« bildet die Grundlage des herrschenden Systems.

Innerhalb dieser biopolitischen Ordnung weitet sich diese Be-Wertung manchmal auf ganze Menschengruppen aus. Ganze Volksgruppen können Interessen entsprechend zu Unbetrauerbaren erklärt werden. Vor allem das 20. Jahrhundert bietet unzählige Beispiele. Ohne Zweifel stellt auch das kurdische Volk aus Sicht der biopolitischen Ordnung ein Heer von Unbetrauerbaren dar. Die in der Türkei zur offiziellen Politik avancierte Devise »Der beste Kurde ist der tote Kurde« spiegelt diese Realität wider. Die Genozide und Massaker am kurdischen Volk im 19. und 20. Jahrhundert sowie das Schweigen und die Gleichgültigkeit, manchmal auch (direkte oder indirekte) Unterstützung internationaler Kräfte für die mordenden Staaten, zeigen, dass aus Sicht des herrschenden Systems das Recht auf Leben für das kurdische Volk nicht gilt oder wenigstens nicht zu verteidigen ist.

Muhammed Tahir wurde nur 35 Tage alt, als er von türkischen Sicherheitskräften in Cizîr getötet wurdeDiese Wirklichkeit gilt nicht nur für das 19. oder 20. Jahrhundert, sondern auch für die Gegenwart. Man kann sogar sagen, dass wir uns an einem viel schlimmeren Punkt befinden, wenn man sich die veränderten Bedingungen vor Augen hält. Das kurdische Volk lebt auch heute noch weitgehend ohne Status innerhalb der Grenzen der Staaten Türkei, Syrien, Iran und Irak. Dass auch der autonome Status der Kurden in Südkurdistan (Nordirak) sehr zerbrechlich ist, wurde vor allem ab August 2014 mit den Angriffen des Islamischen Staates (IS) klar. Während die Türkei unter den vier Nationalstaaten, die Kurdistan ausbeuten und kolonialisieren, als am meisten entwickelt, fortschrittlich, westlich orientiert gilt, betreibt sie zugleich die brutalste staatliche Politik gegen das kurdische Volk. Und dabei meine ich nicht die Türkei der achtziger oder neunziger Jahre. Die heute von der AKP-Regierung praktizierte antikurdische Politik stellt sogar diejenige aus den Jahren der Militärdiktatur sowie des schmutzigen Krieges der türkischen Regierung in den Neunzigern in den Schatten. Während der Staat in den achtziger und neunziger Jahren Kurden, die für ihre Identität einstanden, von Paramilitärs, Polizisten oder Soldaten erst verschleppen, dann töten und anschließend in Massengräber oder an Straßenränder werfen ließ, mordet er heute öffentlich, unverdeckt, vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Als sei das Töten von Kurden vollkommen legitim und rechtens.

In den letzten vierzig Jahren ist nicht ein Polizist, Folterer, Soldat oder Paramilitär wegen des Tötens von Kurden verurteilt worden. Nicht ein Politiker, Offizier oder Polizeichef ist aufgrund extralegaler Hinrichtungen von Kurden in der Türkei suspendiert oder des Amtes enthoben worden. Und auch heute sind sich die politisch Verantwortlichen sowie die lokalen Todesschwadronen ihrer Immunität, ihrer Straflosigkeit sicher. Sie handeln im Namen des Staates. Ihre Opfer sind »Terroristen«. Und wenn die Opfer zu jung oder zu alt sind, um als »PKK-Terroristen« dargestellt werden zu können, dann wurden sie eben von der PKK selbst getötet. Gibt es doch keine offizielle Instanz, die diesen Verbrechen nachgeht. Alles rechtens. Alles im Rahmen der türkischen Staatsdoktrin.

Aber was bedeutet es auf der anderen Seite für einen Menschen, ein »entwertetes« Leben zu führen? Was, wenn schon vor der Geburt vom herrschenden Wertesystem und dessen lokaler Ausformung festgelegt wird, dass man des Lebens nicht wert ist? Was, wenn das Recht auf Leben für einen nicht gilt? Wenn dieses Recht noch im Mutterleib aufgrund der Muttersprache abgesprochen wird? Wenn dieses entwertete Leben jeden Moment beendet werden kann und die Person, die auf den Abzug drücken wird, keine Rechenschaft ablegen muss? Was bedeutet es, mit diesem Bewusstsein zu leben? Und was, wenn diese Realität nicht auf Individuen beschränkt ist, sondern eine ganze Volksgruppe betrifft? Was, wenn das Recht eines gesamten Volkes auf Leben entzogen, geleugnet, für überflüssig und entbehrbar erklärt wird?

Ohne diese Fragen ist die zusammen mit dem kurdischen Befreiungskampf entstandene Realität des Wiederauflebens (kurdisch: vejîn) nicht zu begreifen. Ebenso nicht die Gleichung Tod = Leben, die in Kurdistan eine neue Form gewonnen hat. Dass diejenigen, deren Leben noch vor der Geburt entwertet worden ist, in dieser Gleichung das Leben so sehr lieben, dass sie bereit sind, dafür zu sterben, wird oft nicht verstanden oder missverstanden. Ebenso die Art und Weise, wie in Kurdistan Leben aus dem Tod geschöpft wird. Dabei ist die Wirklichkeit der Serhildans (kurd. für Volksaufstand) in Nordkurdistan Anfang der neunziger Jahre im Zusammenhang mit der Beisetzung von Zivilisten, die von türkischen Sicherheitskräften getötet wurden, entstanden. Butler nennt dies »öffentlicher Aufstand der Trauer« und erklärt: »Die Unbetrauerbaren versammeln sich gelegentlich zum öffentlichen Aufstand der Trauer, und deshalb lassen sich in vielen Ländern Begräbnisse und Demonstrationen nur schwer unterscheiden.«

Aber bei diesen Begräbnissen, wenn Tausende, gar Zehntausende hinter dem Sarg der Getöteten laufend ihnen die letzte Ehre erweisen, geschieht noch etwas anderes. Dem Leben, das aus Sicht der biopolitischen Ordnung und ihres lokalen Vertreters keinen Wert besitzt, wird mit ihrem Tod sein Wert zurückerstattet. Es ist nicht so, dass dieses Leben in den Augen der Trauernden wertlos war, im Gegenteil. Aber sie erteilen dem Leben des Getöteten posthum eine wertvolle Bedeutung, die nicht aufgehoben werden kann. Denn der Getötete hat für ein lebenswertes Leben gelebt. Wenn sein Tod Tausende Menschen dem Kampf für ein selbstbestimmtes, freies Leben näherbringt, dann wird die Rechnung der biopolitischen Ordnung umgedreht. Denn wenn eine Unzahl von Menschen für ein Leben, das vom System für »wertlos« erklärt worden war, auf kollektive Weise einstehen, dann wird ihm ein neuer (und großer) Wert beigemessen. Wenn diejenigen, die aus Sicht des Systems unbetrauerbar sind, sich bei einem Aufstand der Trauer treffen, vervielfachen sie nicht nur den Wert des Getöteten, sondern verteidigen zugleich das Recht des Kollektivs auf Leben. Und dies macht ihr Leben umso wertvoller oder, wie Adorno sagen würde, »richtig«.

Diese Dialektik von Tod und Leben, von Trauer und Widerstand in Kurdistan muss sich vor Augen gehalten werden, wenn wir verstehen wollen, warum der AKP-Staat in Kurdistan nicht nur Lebende, sondern vor allem auch Tote angreift. Vor allem in den letzten Wochen hat diese menschenverachtende Politik des türkischen Staates extreme Formen angenommen. Einige Beispiele:

  • Am 20. August 2015 stellten Sondereinheiten des türkischen Militärs nach der Tötung der Guerillakämpferin Kevser Eltürk (Kampfname Ekin Wan) ihren Leichnam nackt auf den Straßen von Gimgim/Mûş (Varto/Muş) zur Schau und verbreiten anschließend Bilder des geschändeten Leichnams über soziale Medien.
  • Am 3. Oktober 2015 verwundeten Sondereinheiten des türkischen Militärs im Stadtzentrum von Şirnex (Şırnak) Hacı Lokman Birlik, den kurdischen Aktivisten und Schwager der Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Leyle Birlik, mit Schusswaffen. Anschließend erschossen sie den Wehrlosen aus nächster Nähe. Sein später obduzierter Leichnam wies Dutzende Kugeln auf. Polizisten schossen außerdem Fotos mit ihrem Stiefel auf seinem Kopf. Es kam noch schlimmer: Eine Gruppe von Sonderpolizisten band den Leichnam Birliks mit einem Seil um den Hals an einen gepanzerten Wagen und schleifte ihn so durch die Straßen. Dabei wurden Videoaufnahmen gemacht und anschließend über soziale Medien verbreitet. Gegen die betreffenden Sicherheitskräfte wurde anschließend ein Disziplinarverfahren eröffnet; nicht etwa wegen dieses Kriegsverbrechens, sondern wegen der Verbreitung der Aufnahmen.
  • Am 18. Dezember 2015 wurde die 50-jährige Taybet Inan während einer Ausgangssperre in Silopiya/Şirnex (Silopi/Şırnak) mitten auf der Straße von türkischen Scharfschützen erschossen. Da die Sicherheitskräfte keinerlei Hilfe zuließen und Krankenwagen der Weg versperrt wurde, erlag die Mutter von elf Kindern ihren Verletzungen. Ihre Angehörigen nahmen daraufhin Kontakt zum Staatsanwalt und zu Sicherheitskräften auf, die ihnen versicherten, sie dürften den Leichnam Taybet Inans von der Straße holen. Sicherheitskräfte schossen jedoch auch auf die Angehörigen, obwohl die eine weiße Flagge hochhielten. Der Schwager Taybet Inans, Yusuf Inan, wurde dabei schwer verletzt und erlag zwanzig Stunden später seinen Verletzungen, da er nicht ins Krankenhaus gebracht worden konnte. Der Ehemann Taybet Inans, Halit Inan, wurde ebenfalls schwer verletzt. Der Leichnam Taybet Inans lag insgesamt sieben Tage auf offener Straße. Danach konnte sie ins Leichenschauhaus gebracht werden. Allerdings wurde von türkischer Seite der Leichnam ohne Wissen der Familie verschleppt und anonym an einem unbekannten Ort begraben.
  • Am 7. Januar 2016 erließ der türkische Premierminister eine Verordnung, »um zu verhindern, dass Begräbnisse in Terrorpropaganda verwandelt werden«. Demnach dürfen gerichtsmedizinische Institute Leichname, die nicht innerhalb von drei Tagen von Angehörigen abgeholt werden, zur Beisetzung außer an Stadtverwaltungsvertreter auch an Statthalterschaften ausgehändigt werden. Auf diese Weise können staatliche Stellen die Leichname kurdischer Zivilisten und Kämpfer, die während der Ausgangssperren getötet worden sind, ohne Wissen der Angehörigen beisetzen.

Leichenschändungen an kurdischen Widerstandskämpfern und Aktivisten durch türkisches Sicherheitspersonal hat es auch in den neunziger Jahren und nach 2000 gegeben. Auch in den vergangenen Jahren versuchten Militärangehörige durch das Schänden der Leichname getöteter PKK-Kämpfer, die Wirkung der staatlichen Brutalität zu erhöhen und den Schmerz und die Wut der Angehörigen sowie des kurdischen Volkes zu maximieren. Es soll ein kollektives Gefühl von Hilflosigkeit geschaffen werden. Ziel ist es, die Angehörigen in extremer Weise zu traumatisieren und so zur Kapitulation zu zwingen, indem ihr Widerstandswille und ihre Kampfmoral gebrochen werden.

Aber aktuelle Beispiele von Leichenschändung in Kurdistan gehen in ihrer Brutalität über Praktiken der neunziger Jahre weit hinaus. Beispielsweise wurden Anfang Februar sechs Personen, darunter eine junge Frau, von türkischen Sondereinsatzkommandos in Cizîr/Şirnex (Cizre/Şırnak) unter ungeklärten Umständen ermordet. Auf Bildern, die über Twitter-Accounts paramilitärischer Kräfte verbreitet wurden, ist zu sehen, dass der Körper der getöteten jungen Frau unterhalb der Hüfte abgerissen ist. Ebenso wurden im August 2015 in Agirî (Ağrı) die Leichname getöteter PKK-Kämpfer angezündet und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Dass der türkische Staat nun als neue Praxis versucht, Begräbnisse zu verhindern, indem er Leichname verschleppen und heimlich beisetzen lässt, hat mit der oben beschriebenen Dialektik von Trauer, Wut und Widerstand in Kurdistan zu tun. Das kurdische Volk leistet trotz jeglichen Staatsterrors seit vier Jahrzehnten pausenlosen Widerstand. Dieser Widerstand wird trotz aller Massaker fortgesetzt, weil sich das kurdische Volk seinem Schmerz nicht ergibt. Es weiß Schmerz und Wut in eine Quelle von Widerstand zu verwandeln. Wenn es sich seinem Schmerz ergeben würde, könnte es nicht weiterleben. Und so wird in Kurdistan Widerstand zu Leben, schöpft der kurdische Widerstand Kraft aus Schmerz und Leben aus dem Tod.

Dass ein Volk dazu gezwungen ist, aus dem Tod Leben zu schöpfen und das Recht auf Leben sterbend zu verteidigen, ist furchtbar und schrecklich. Dass ein Volk so viel sterben muss, um zu leben, ist unvorstellbar. Aber das ist Realität in Kurdistan. Und es ist eine Scham für diejenigen, die dem zusehen. Der einzige Weg, diese Scham aufzuheben und dementsprechend das Töten in Kurdistan zu beenden, ist, das Recht auf Leben aktiv zu verteidigen. Und Leben bedeutet nicht nur Überleben. Es bedeutet, ein lebenswertes Leben leben zu können. Beim Widerstand in Kurdistan geht es genau darum.


Meral Çiçek, Vorsitzende des REPAK – Kurdisches Frauenzentrum für internationale Beziehungen, mit Sitz in Hewlêr (Arbil), studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Frankfurter Goethe-Universität. Von 2004 bis 2013 war sie als Journalistin für die kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika tätig.