Zur militärischen Präsenz der Türkei im Irak und Südkurdistan
AKP und PDK treffen sich auf der sunnitischen Achse
Mako Qocgiri, Mitarbeiter von Civaka Azad
Erinnert sich noch irgendjemand an die »Null-Probleme«-Außenpolitik-Doktrin der Türkei? Vor mehr als zehn Jahren erklärte der jetzige Ministerpräsident und damalige Außenminister Ahmet Davutoğlu diese Doktrin zum neuen Maßstab der Außenpolitik einer »neuen Türkei« im Mittleren Osten. Mit der AKP an der Macht sollte die Türkei von nun an null, d. h. keine Probleme mit ihren Nachbarländern haben, ihre freundschaftlichen Beziehungen zu den Herrschern der Nachbarländer aufbauen und so ihren Einfluss in der gesamten Region stärken. Ende 2015 ist von dieser Doktrin nicht viel mehr als ein Scherbenhaufen übrig geblieben. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Beschwerde der irakischen Zentralregierung beim UN-Sicherheitsrat über die türkische Militärpräsenz im Irak, genauer in der Stadt Bashiqa bei Mossul.
Dort halten sich derzeit mit dutzenden Panzern ausgestattet hunderte türkische Soldaten auf. Insgesamt befinden sich derzeit auf irakischem Boden rund 3 000 türkische Soldaten, die meisten von ihnen in der Autonomen Region Kurdistan. Dadurch verfügt die Türkei nach den USA und dem Iran über das drittgrößte ausländische Militärkontingent im Irak. Der einzige, aber besonders wichtige, Unterschied zwischen der Türkei und den beiden anderen Staaten ist, dass das türkische Truppenkontingent von der irakischen Zentralregierung nicht gewünscht ist.
Offiziell hatte das türkische Militär seine Truppen mit dem Auftrag nach Bashiqa entsandt, dort Peschmerga-Einheiten und arabisch-sunnitische Milizen für den Kampf gegen den IS zu schulen. Von Bashiqa aus sollten dann diese von der Türkei geschulten Truppen irgendwann in baldiger Zukunft an einer gemeinsamen Großoffensive gegen den IS in Mossul teilnehmen. Doch die irakische Zentralregierung hat dieses Ausbildungsprogramm, das sie zuvor mit unterstützt hatte, mittlerweile fallenlassen. Denn die im Bashiqa-Camp ausgebildeten arabischen Milizen hatten sich geweigert, an der von Dezember 2014 bis Oktober 2015 andauernden Großoffensive gegen den Islamischen Staat in der strategisch wichtigen Stadt Baidschi teilzunehmen. Die Stadt, die ebenso wie Bashiqa als ein wichtiger Knotenpunkt für eine mögliche Großoffensive auf Mossul dient, wurde ohne Beteiligung sunnitischer Milizen durch das irakische Militär und schiitische Milizen mit Luftunterstützung der USA vom IS befreit. Die Weigerung der sunnitischen Milizen an der Aktion teilzunehmen, führte die Zentralregierung in Bagdad zu dem Entschluss, die finanzielle Unterstützung für die von der Türkei ausgebildete Gruppe »El-Haschd el-Watani« einzufrieren. Die besagte Gruppe ist ein Freiwilligenheer sunnitischer Kämpfer, die vom ehemaligen Gouverneur von Mossul Athil Al-Nudschaifi geführt wird. Laut Bagdad hat al-Nudschaifi ohnehin zu viel Geld von der Zentralregierung kassiert, denn entgegen seinen Angaben, wonach sein Heer aus bis zu 9 000 Kämpfern bestehe, setzt sich die Truppe maximal aus 2 000 Freiwilligen zusammen. Mit deren Weigerung, in Baidschi gegen den IS zu kämpfen, kam es dann zum endgültigen Bruch zwischen Bagdad und Al-Nudschaifi, und somit eigentlich auch zu einem Ende des Ausbildungsprogramms der Türkei.
Doch die türkische Regierung hatte keineswegs einen Rückzug aus Bashiqa im Sinn. Ihr Plan lautete, den Standort im Norden des Irak von einem Ausbildungszentrum zu einem ständigen militärischen Außenposten im Irak auszubauen. Gerade nach dem verlorenen Boden im Syrienkonflikt schien der Standort im Irak für die Türkei zu wichtig, als ihn der Zentralregierung in Bagdad einfach wieder zu überlassen.
Insgesamt geht es dabei um weit mehr als um die Kleinstadt Bashiqa. Die Diskussionen drehen sich vielmehr um die Frage, wer die Kontrolle über ein Mossul in der Zeit nach dem IS haben wird. In dieser absurden Diskussion, vor dem Hintergrund, dass der Start einer solchen Befreiungsoperation noch in den Sternen steht, treffen die viel diskutierte schiitische und sunnitische Achse frontal aufeinander. Und die Türkei will sich als aktiver Teil der sunnitischen Achse bei dieser Frage ein Mitspracherecht erzwingen.
Zu den lokalen Bündnispartnern der Türkei in dieser Frage gehören eben diejenigen Gruppen, die von der Türkei in Bashiqa ausgebildet werden. Neben den Truppen von Al-Nudschaifi, der in seiner Zeit als Gouverneur von Mossul als zwielichtige Persönlichkeit mit durchaus guten Handelsbeziehungen zum IS galt, sind das in erster Linie die Peschmerga-Einheiten von Barzanîs PDK.
Es scheint, als sei es der Türkei endgültig gelungen, Barzanî für die eigenen Territorialansprüche in der Region und als Teil der sunnitischen Achse einzuspannen. Die Demokratische Partei Kurdistans (Partiya Demokrata Kurdistanê PDK) ist die einzige kurdische Partei, welche die Truppenpräsenz der Türkei in Südkurdistan und dem Irak ausdrücklich begrüßt. Der südkurdische Regierungssprecher Sefin Dizayi verteidigte die türkische Militärpräsenz in aller Öffentlichkeit und stellte sich hinter die Behauptung, dass diese zur Ausbildung der Peschmerga in der Region diene. Überhaupt funktioniert die türkische »Null-Probleme«-Außenpolitik in der Region derzeit scheinbar nur mit der südkurdischen PDK. So stattete der türkische Außenminister Feridun Sinirlioğlu seinen ersten Auslandsbesuch nach den Wahlen am 1. November direkt Barzanî und seiner PDK ab. Im Gegenzug reiste Barzanî selbst Mitte Dezember in die Türkei und besuchte zunächst den türkischen Geheimdienst, dann den Staatspräsidenten Erdoğan und den Ministerpräsidenten Davutoğlu, bevor es auch zu einem Zusammentreffen mit der Demokratischen Partei der Völker (HDP) kam.
Erdoğans AKP und Barzanîs PDK sind derzeit bei vielen politischen Themen in der Region einer Meinung, weshalb die enge Zusammenarbeit nicht verwundern sollte. Neben den wirtschaftlich engen Beziehungen, den Erdöldeals und der gemeinsamen Gegnerschaft zur irakischen Zentralregierung fühlen sich beide Parteien auch von der kurdischen Freiheitsbewegung gestört, wenn nicht gar bedroht. Beiden Parteien ist die führende Rolle der Partei der Demokratischen Einheit PYD in Rojava ebenso ein Dorn im Auge wie die Rolle der HPG (Volksverteidigungskräfte) bei der Befreiung der êzîdischen Stadt Şengal. Kurz nach der Befreiung der Stadt vom IS, bei der neben den HPG verschiedene êzîdische Kampfeinheiten und Peschmerga-Einheiten teilnahmen, trat Barzanî in der Nähe von Şengal gar vor die Kameras und behauptete, die Peschmerga hätten die Stadt allein befreit. Doch allen voran den ÊzîdInnen, aber auch weiten Teilen der südkurdischen Bevölkerung war klar, dass diese Aussagen Barzanîs lediglich einen verzweifelten Versuch darstellten, die Schande ein wenig vergessen zu machen, welche seine Peschmerga-Einheiten verursachten, als sie beim Sturm des IS auf Şengal die dort lebenden Menschen schutzlos zurückließen.
Barzanîs Stand ist derzeit in Südkurdistan äußerst schwer. Seine verfassungsmäßige Zeit als Präsident der Autonomen Region Kurdistan ist bereits länger abgelaufen, doch er weigert sich strikt, seinen Posten abzugeben. Seine Sympathieverluste in der eigenen Bevölkerung versucht er wohl deshalb wettzumachen, indem er seine Beziehungen zu den Machthabern in der Region stärkt. Das sind neben Erdoğan und seiner AKP insbesondere die Machthaber in Saudi-Arabien. Vom saudischen König Salman wurde Barzanî in ganz besonderer Weise empfangen, als dieser ihn Anfang Dezember mit der halben Königsfamilie in Riad begrüßte.
Die neuen politischen Bündnislinien im Mittleren Osten scheinen klarere Konturen anzunehmen. Anstelle ihrer »Null-Probleme«-Außenpolitik versucht die Türkei über ihre aktive Rolle in der sunnitischen Achse in der Region an Einfluss zu gewinnen. Doch mit dieser Rolle ist das Regime Erdoğan derzeit maßgeblicher Instabilitätsfaktor in der Region und droht sich selbst und den gesamten Mittleren Osten weiter ins Chaos zu stürzen. Die Unterstützung des IS und weiterer dschihadistischer Gruppen in Syrien, die Spannungen mit Russland nach dem Abschuss des russischen Kampfjets an der syrisch-türkischen Grenze und nun die Konfrontation mit Bagdad, das die Präsenz der Türkei im Irak als Besatzung betrachtet, sind nur einige Facetten dieser Außenpolitik. Insbesondere die Eskalation mit Russland, bei der sich die Türkei vergeblich mehr Rückendeckung von der NATO gewünscht hätte, erweist sich für sie als Super-GAU, dessen wirtschaftliche und politische Folgen für das Land noch gar nicht genau abzusehen sind.
Hält die AKP an ihrer aggressiven Außenpolitik fest, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach fallen und als großer Verlierer aus der derzeitigen Chaossituation in der Region hervorgehen. Und fällt die AKP, werden auch alle politischen Kräfte verlieren, die ihrem außenpolitischen Kurs gefolgt sind. Das gilt auch für Barzanî und seine PDK.
Mako Qocgirî ist Politikwissenschaftler (M.A.) und seit 2011 Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.