Wir forcieren den Aufbau und die Organisierung der demokratischen Selbstverwaltung

Die AKP-Regierung verfügt über keine demokratische Legitimation

Interview mit Ali Atalan, Demokratische Partei der Völker HDP

Ali AtalanAli Atalan hat viele Jahre in Deutschland gelebt. An der Uni in Bochum studierte er Politik und Soziologie und schloss sein Studium als Diplom-Sozialwissenschaftler ab. Er war Ratsmitglied der Stadt Münster und später Landtagsabgeordneter für die LINKE in Nordrhein-Westfalen. Jetzt ist er Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker HDP. Für den Kurdistan Report beantwortete er einige Fragen zu seiner jetzigen Tätigkeit.

Was umfassen die Aufgaben eines Abgeordneten der HDP?

Die Aufgabe eines Abgeordneten der HDP befasst sich nur sekundär mit der parlamentarischen Arbeit in der Nationalversammlung der Türkei. Primär kümmern wir uns um die Belange der Bevölkerung. Wir forcieren den Aufbau und die Organisierung der demokratischen Selbstverwaltung. Dabei gilt es vor allem, dafür notwendige wirtschaftliche und politische Strukturen zu schaffen. Den Widerstand gegen die Angriffe des türkischen Staates und seiner AKP-Regierung leisten wir an vorderster Front. In dutzenden Landkreisen wurden in den vergangenen Monaten Ausgangssperren verhängt. In diesem Zusammenhang sind seit den Parlamentswahlen vom 7. Juni über 80 ZivilistInnen seitens staatlicher Sicherheitskräfte getötet.

Du hast einen Teil der staatlichen Repression angesprochen. Angesichts der zahlreichen Angriffe der AKP, inwieweit kann von fairen und gerechten Neuwahlen gesprochen werden?

Es gilt, die Neuwahlen im Kontext des Wahlergebnisses vom 7. Juni zu bewerten. Der Wahlerfolg der HDP, die einen Stimmenanteil von 13,1 Prozent erhielt, bescherte der AKP eine historische Niederlage. Die Gesellschaft der Türkei hatte sich in dieser Wahl gegen eine Präsidialdiktatur von Erdoğan ausgesprochen. Jedoch antwortete dieser mit einem brutalen Krieg. Die Gespräche mit dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan wurden abgebrochen. Armee und Polizei wurden in Nordkurdistan mobilisiert. Das Ziel von Erdoğan und der AKP war es, die Neuwahlen in einem Kriegszustand durchzuführen. Dadurch sollte die HDP unter die 10-Prozent-Hürde gedrückt werden. Dies ist der AKP zwar nicht gelungen, doch bekam sie erneut die absolute Mehrheit. Dennoch verfügt die AKP nicht über die notwendige Mehrheit, um eine Verfassungsänderung herbeizuführen. Unter den Umständen des schmutzigen Krieges konnten wir als HDP keinen Wahlkampf führen, den wir nach dem verheerenden Anschlag von Amed eingestellt haben. Es wurden keine fairen, gerechten und demokratischen Wahlen abgehalten. Daher verfügt die jetzige AKP-Regierung über keine demokratische Legitimation.

Die AKP ist als Resultat eines internationalen Konzeptes entstanden. Mittlerweile ist sie auf internationaler Ebene isoliert. Ist das Projekt AKP gescheitert?

Das Konzept des gemäßigten Islams ist nicht nur in der Türkei, sondern im gesamten Nahen und Mittleren Osten gescheitert. Die AKP hat aufgrund ihrer Innen- und Außenpolitik ihre Unterstützung auf internationaler Ebene weitgehend verloren. Das liegt vor allem daran, dass derzeit der sogenannte Islamische Staat und die Al-Nusra-Front faktisch gesehen als engste Verbündete fungieren. Gemeinsam mit den Öl-Staaten Saudi-Arabien und Qatar sowie der Muslimbruderschaft ist die Türkei bestrebt, ein neues Kalifat nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches, mit Erdoğan als Kalifen, zu schaffen. Das betrachten die westlichen Partner der Türkei selbstverständlich mit großer Sorge.

Inwieweit ist die HDP am Aufbau der Selbstverwaltung in Nordkurdistan beteiligt, was unterscheidet sie von der DBP?

Bei der HDP handelt es sich um ein Bündnis zahlreicher linker und demokratischer Kräfte der Gesamttürkei. Sie vertritt in diesem Sinne die Repräsentanz dieser Kräfte für die Gesamttürkei. Die Partei der Demokratischen Regionen (DBP) wiederum hat ihren Fokus vor allem auf dem Aufbau von Strukturen der demokratischen Selbstverwaltung, vor allem in den kurdischen Gebieten. Der Unterschied zur HDP liegt in diesem Sinne in der Funktion. Es besteht keine ideologische Differenz, da die demokratische Selbstverwaltung als Lösungsmodell für die Gesamttürkei einen wesentlichen Punkt in der Programmatik der HDP darstellt. Die HDP und DBP sind daher als sich ergänzende Parteien zu verstehen.

Was ist unter dem Begriff »Selbstverteidigung«, der in Nordkurdistan derzeit den Alltag bestimmt, zu verstehen?

Leben im Ausnahmezustand - Ein zerschossenes Haus in Farqîn | Foto: ANFDie Bevölkerung von Nordkurdistan hat aufgrund der staatlichen Übergriffe und Angriffe Maßnahmen der Selbstverteidigung geschaffen. In diesem Sinne wurden Strukturen der Selbstverteidigung aufgebaut. Nach der Beendigung des Friedensprozesses, intensivierte die AKP die Angriffe auf die Gebiete, in denen DBP und HDP über eine klare Mehrheit verfügen. Sie wollte sich für die Nicht-Wahl der AKP an der Bevölkerung rächen. Den Angriffen auf die Zivilbevölkerung folgte die Ausrufung der demokratischen Selbstverwaltungen. Um die Rechte der Menschen, die Strukturen, die aufgebaut worden sind, zu wahren, ist ein Selbstverteidigungs-Mechanismus entwickelt worden. Man darf hierbei nicht vergessen, dass kurz nach der Wahl am 7. Juni über 1000 Funktionäre und Funktionärinnen aus HDP und DBP festgenommen worden sind. Es sind demokratisch legitimierte, vom Volk gewählte Stadträte, Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister aus dem Amt entfernt und festgenommen worden. Das heißt, dass die Selbstverteidigung als Folge dieser staatlichen Unterdrückungspolitik entstanden ist.

Die AKP sagt selbst, dass die jetzige Verfassung überhaupt keine Legitimation mehr besitzt. Sie führt ihre Unterdrückungspolitik nicht auf Grundlage einer Verfassung durch.
Darum ist das kurdische Volk auch berechtigt, eine eigene Verfassung nach eigenem Verständnis auszuhandeln. Natürlich auf Basis der Demokratie, was in Kurdistan eigentlich direkte bzw. unmittelbare Demokratie heißt und tatsächlich auch so umgesetzt wird. Wie man es z. B. auch in Rojava sieht. Dort nimmt die Bevölkerung ihr Schicksal selbst in die Hand. Demokratische Strukturen werden aufgebaut.

Die Frauen und die Jugend stellen seit Jahren die Avantgarde der kurdischen Befreiungsbewegung dar. Inwieweit ist die Jugend in die Arbeiten der HDP in Nordkurdistan eingebunden?

Selbstverständlich hat die Jugend auch in den Arbeiten der HDP eine Führungsrolle inne.

Trotzdem ist aufgrund der Entpolitisierungstendenzen, der Entsolidarisierungstendenzen im Kapitalismus auch die HDP davon negativ betroffen. Aber wir müssen das selbstkritisch reflektieren und Konsequenzen daraus ziehen. Die Jugend muss viel aktiver werden. Ohne die Jugend hätte man den Kampf gegen IS z. B. in Kobanê nicht gewinnen können, man hätte auch den Freiheitskampf überhaupt im Nahen/Mittleren Osten nicht führen können. Von daher hängt vieles davon ab, wie sich die Jugend wirkungsvoller innerhalb der HDP einbringen kann.

Was hat sich die HDP für die anstehende Legislaturperiode als Aufgaben gesetzt?

Ich fange mal an mit dem, was man nicht tun darf, nämlich sich darauf zu beschränken, ausschließlich im Parlament tätig zu werden und zu glauben, dass die Veränderung lediglich im Parlament vonstattengehen. Das wäre der größte Fehler überhaupt.

Wir müssen außerparlamentarisch grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft, Kultur, Politik, Geschlechtergerechtigkeitsfrage, Ökonomie und in allen anderen wichtigen Lebensbereichen schaffen. Wir müssen grundlegende Veränderungen mit anderen Beteiligten erreichen. Auf gleicher Augenhöhe müssen wir die Gesellschaft neu organisieren und neu orientierten. Die Hauptaufgabe der HDP in den nächsten 2 bis 3 Jahre, ist, die Struktur der demokratischen Selbstverwaltung mit aufzubauen. In den Dörfern, in den Städten, in den Wohnvierteln, überall wo das Potential dazu da ist, müssen wir etwas beitragen.

Im Parlament müssen wir bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung prägend mit tätig werden. Wir müssen auch alle gesellschaftlichen Probleme in der gesamten Türkei angehen. Besonders in der Westtürkei müssen wir aufklären, was demokratische Selbstverwaltung bedeutet. Insbesondere was wir mit unseren basisdemokratischen, radikaldemokratischen Ansätzen meinen, dass dies im Interesse aller in der Türkei lebenden Menschen ist und es nicht nur um demokratische Selbstverwaltung für KurdInnen oder für Kurdistan geht.

Du warst lange Zeit in Deutschland, hast dort studiert und lange für die Partei Die LINKE in verschiedenen Gremien gearbeitet. Was hat Dich dazu bewogen für die HDP zu kandidieren?

Wenn ein Mensch davon überzeugt ist, dass grundlegende Veränderungen weltweit stattfinden müssen, und daran mitwirken will, dann war diese Entscheidung für mich wichtig. Hinzu kommt meine Person als ein Kurde aus Kurdistan, als kurdischer Êzîde. Jetzt ist eine revolutionäre Stimmung in Kurdistan. Das Potential für grundlegende Veränderung in Kurdistan ist vorhanden und die Freiheitsbewegung arbeitet stark an der Veränderung. Es ist eine große Ehre und auch Pflicht für mich, persönlich daran mitzuarbeiten, dass Freiheit, Gerechtigkeit und die Solidarität verbreitet werden.

Zusammen mit Deiner Parteikollegin Feleknas Uca seid Ihr die ersten ÊzîdInnen im türkischen Parlament. Was bedeutet diese Identität im türkischen Parlament für Dich?

Ich bin als Vertreter der kurdisch-êzîdischen Minderheit im Parlament. Ich habe eine Mission und Funktion, die ich wahrnehme. Ich habe aber nicht nur diese Aufgabe. Wir sind selbst KurdInnen, daher sind wir für das gesamte kurdische Volk da. Aber nicht nur das, eigentlich sind wir für die gesamte Menschheit im Sinne der Grundsätze der demokratischen Selbstverwaltung aktiv. Ich möchte persönlich dem Frieden, der Freiheit und der Gerechtigkeit dienen und zum Frieden im Nahen und Mittleren Osten so gut ich kann beitragen. So sehe ich meine Funktion. Und das ist für mich persönlich eine große Ehre, Aufgabe und Herausforderung, der ich mich gerne stelle.

Wie bewertest Du die Befreiung Şengals?

Es ist eine große Freude, dass Şengal zum größten Teil befreit worden ist. Gleichwohl bin ich der Überzeugung, dass Şengal nicht nach dem alten Muster regiert werden kann und regiert werden darf. Mit den alten Strukturen und dem alten Verständnis würde man Şengal keinen Gefallen tun. Darum müssen sowohl gesellschaftlich als auch politisch grundlegende Veränderungen in Şengal stattfinden. Das heißt, ein Sonderstatus mit eigener Selbstverwaltung, mit eigener Volkswirtschaft, mit eigener Verwaltung, mit eigenem Selbstverteidigungsmechanismus. Diese drei Säulen müssen mit eingebaut werden. Was jedoch Barzanîs PDK vorhat, ist das alte Modell. Das ist für die ÊzîdInnen keine akzeptable Lösung für ihre Probleme, das ist eine höchst gefährliche und nicht zu akzeptierende Vorstellung. Ein Status für Şengal, in dem demokratische Strukturen aufgebaut werden, würde den ÊzîdInnen guttun.

In Deutschland wurde die HDP in den Medien an vielen Stellen sehr positiv aufgenommen. Wie geht die HDP damit um?

Wir freuen uns natürlich über jegliche Unterstützung. Das unterdrückte kurdische Volk, die Freiheitsbewegung und die HDP benötigen jede Unterstützung. Über Solidarität können wir uns nur freuen.
Wir freuen uns sehr über humanitäre, politische Unterstützung für Rojava, die anderen Teile Kurdistans und die Freiheitsbewegung. Momentan erwarten wir von allen Parteien aus Deutschland und Europa Unterstützung, im Besonderen von den linken und fortschrittlichen, emanzipatorischen Strömungen und Organisationen.

Inwieweit könnte sich das Konzept der HDP auf Europa bzw. Deutschland übertragen?

Es ist in erster Linie ein Projekt für den Nahen und Mittleren Osten, eine Revolution für sich. Demokratische Selbstverwaltung, Emanzipation, Geschlechtergleichheit, nicht nur in der Theorie, sondern auch praktisch, Dezentralisierung der Macht, kulturelle Veränderung, diese Ansätze sind auch in Europa aus meiner Sicht notwenige Schritte. Es ist wünschenswert, dass auch fortschrittliche linke Kräfte das Konzept der HDP sehen und die Erfahrungen, die gemacht werden, analysieren. Das Ganze muss auch kritisch verfolgt werden. Das wäre für uns eine große Hilfe.

Hast Du noch abschließende Worte und Anregungen?

Solidarität mit der HDP, mit der kurdischen Freiheitsbewegung darf nicht nur in Worten und in der Theorie erfolgen, sondern es müssen Taten folgen. Wir erleben insbesondere im gesamten Mittleren Osten einen revolutionären Prozess, bei dem der so genannte Dritte Weg, der Weg der Freiheit, Gerechtigkeit und der internationalen Solidarität, stark vorangeht. Insbesondere die Jugendlichen sollten diesem Prozess gegenüber überaus sensibel und aufmerksam sein. Das wäre meine Anregung, meine Bitte. Sich dieser Entwicklung stärker zu widmen, politisch diesen Prozess zu begleiten und aktiv mitzuwirken.