Neue Konzepte für psychotherapeutische Ausbildung in Rojava

Vieles wird sich erst auf dem Weg ergeben

Sabine Zetsche und Meike Nack

Ende September besuchte eine kleine Fach-Delegation auf Einladung der Stiftung der Freien Frau für zwei Wochen Rojava. Ziel der Reise war es, die psychische Situation von Frauen in Rojava kennen und verstehen zu lernen und gemeinsam mit aktiven Frauen vor Ort ein Konzept für eine einjährige psychotherapeutische Ausbildung zu entwickeln.
Das Gesundheitssystem in Rojava ist noch immer weitgehend in staatlicher Hand. Es gibt ein paar wenige private ärztliche Praxen und staatliche Krankenhäuser. Jede Behandlung kostet Geld, ein üblicher Kaiserschnitt nimmt ein ganzes Monatsgehalt in Anspruch. Und es fehlt an Medikamenten, medizinischen Geräten und Ärzt_innen, weshalb viele Leute erst dann ins Krankenhaus gehen, wenn es fast schon zu spät ist.

In Rojava (Nordsyrien) gibt es bisher keine speziellen psycho­therapeutischen Angebote, mit denen eine Aufarbeitung von traumatischen Erfahrungen, eine Unterstützung bei psychischen Krankheiten und auch eine Stärkung gegen die nachhaltigen Belastungen durch den Krieg ermöglicht wird, so beginnt die Stiftung der Freien Frau in Rojava (Weqfa Jina Azad a Rojava, WJAR) demnächst die Ausbildung von Frauen für eine nachhaltige therapeutische Arbeit. Ende September ist eine kleine Fach-Delegation zur Stiftung der Freien Frau nach Rojava gefahren, um dort die psychische Situation von Frauen kennenzulernen, psychotherapeutische Arbeit bekannt zu machen und gemeinsam mit der Stiftung und aktiven Frauen vor Ort ein Konzept für eine einjährige psychotherapeutische Ausbildung zu entwickeln. Die Delegation hat sich im Rahmen ihrer zweiwöchigen Reise über die psychische Situation der Menschen in verschiedenen Teilen von Rojava und Şengal (Sindschar) erkundigt. Gesprochen hat sie mit den Frauengruppen, die ihre Ausbildung an verschiedenen Orten vorbereiten, um einen Einblick in die Bedürfnisse der Frauen zu gewinnen, sowie mit Mitarbeiter_innen der Stiftung, die in deren Gesundheitsarbeiten involviert sind.

Im Rahmen der Reise diskutierten die Delegation und die Stiftung vor allem, inwiefern eine psychotherapeutische Arbeit mit Menschen in einem revolutionären Kontext sinnvoll ist, und auch, in welcher Form sie möglich ist. Für das geplante Pilotprojekt ist es den Projektpartner_innen ein Anliegen, eine therapeutische Arbeit zu entwickeln, die sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Aufarbeitung von jüngeren und älteren traumatischen Erlebnissen sowie eine Fortsetzung des gesellschaftspolitischen Engagements der jeweiligen Betroffenen für ihre Träume von der Freiheit ermöglicht.

In Syrien wie in Rojava gab es bereits vor dem Krieg kaum psychologische Angebote. Psychische Verletzungen aufgrund der Unterdrückung durch das Assad-Regime und seines propagierten arabischen Nationalismus konnten bisher weder angesprochen noch aufgearbeitet werden. Repression, Gefängnisaufenthalte, Folter, Ermordung von Familienangehörigen, Verleugnung der kurdischen, chaldäischen und armenischen Identitäten sowie die Stellung in der Gesellschaft, einer zweiten Klasse anzugehören, wirken sich noch immer auf die Psyche der Menschen aus und haben auch in manchen Fällen zu psychischen Krankheiten geführt. Aktuell belastet der vierjährige Krieg die Menschen in Rojava, es gibt eine Vielzahl von Gefallenen und Verschwundenen und die vielen Flüchtigen sind versprengt. Ähnliches gilt für die Menschen aus Şengal. Die vergangenen Genozide an den Êzîd_innen in Şengal sind noch immer Schreckenserinnerungen in den Köpfen der Menschen. Hinzugekommen sind die Angriffe des Islamischen Staates (IS).

Eine holländische Krankenschwester, die sich gleichzeitig im Frauengesundheitszentrum der Stiftung in Serê Kaniyê (Ras al-Ain) engagiert, berichtet aus ihrer Arbeit in den staatlichen Krankenhäusern: Die Zahl der psychosomatischen Erkrankungen unter den Patient_innen im Krankenhaus ist sehr hoch. Auch die anderen Mitarbeiter_innen des Gesundheitszentrums verzeichnen psychische Krankheiten wie Depressionen, Angstzustände, Panikattacken und auch Schizophrenie. Viele psychische Krankheiten sind als Folge der jahrzehntelangen unaufgearbeiteten Repressionen des Baath-Regimes entstanden. Zudem ist die bisherige syrische Gesellschaft stark von einem feudalen Patriarchat geprägt gewesen; wie in jeder patriarchalen Gesellschaft litten und leiden Frauen und Mädchen unter sexualisierter und körperlicher Gewalt. Viele Patient_innen, darunter auch zahlreiche Kinder, werden mit Angststörungen, Ohnmachtsanfällen, Panikattacken oder Schmerzen, für die es keine körperliche Ursache gibt, ins Krankenhaus eingeliefert.
Der Krieg hinterlässt seine Spuren, die schwierige Lebenssituation sorgt die Menschen. Die gesellschaftliche Zusammensetzung hat sich durch Immigration und Emigration verändert, durch das Embargo gibt es kaum Arbeit und die Lebensmittel sind knapp und teuer geworden. Zudem trauern die Menschen: In fast jeder Familie gibt es Gefallene oder Angehörige, die bei den Selbstverteidigungs- oder Sicherheitskräften kämpfen. Viele haben die Angriffe des IS direkt erlebt, eine äußere Bedrohung ist nach wie vor vorhanden.

Im Flüchtlingscamp Newroz in der Nähe der Stadt Dêrik (Al-Malikiya) leben ca. 500 êzîdische Familien (insgesamt über 6 000 Flüchtlinge). Im August 2014 hatte der IS Şengal angegriffen, viele Angehörige der Flüchtlinge wurden massakriert. Angehörige fast aller Familien befinden sich noch in den Händen des IS. Viele haben gesehen, wie ihre Angehörigen ermordet, vergewaltigt und verschleppt wurden. Auf der schwierigen und langen Flucht unter brennender Sonne sind viele verdurstet und verhungert. In den Gesprächen mit Frauen und Familien wird deutlich, dass alle Frauen unter diesen traumatischen Erfahrungen und ihren Folgen leiden. Die kulturellen, künstlerischen und musikalischen Aktivitäten im Camp sowie die Bildung über Frauenrechte, Selbstverteidigungskurse, der Unterricht in kurdischer Sprache erleichtern die Situation und unterstützen die Flüchtlinge. Sie sind vom Volks- und dem Frauenrat initiiert worden.Seminar im Camp Newroz |Foto: Delegation

Für die jungen Frauen bieten diese Strukturen ganz neue Möglichkeiten. Sie können die Enge des Hauses und der ihnen zugedachten Rolle als Frau verlassen und neue Perspektiven entwickeln. Dennoch sehen insbesondere die älteren Frauen keine Zukunftsperspektive. Auch hier belasten die anhaltende bedrohliche äußere Situation, die Gedanken an die Angehörigen in Gefangenschaft. Dies macht psychotherapeutische Arbeit schwieriger und gleichzeitig dringlicher. Bei einem Treffen mit einigen Frauen aus dem Camp fragen sie uns immer wieder, wie sie glücklich sein können, wenn ihre Verwandten noch in Gefangenschaft sind. Bereits eine Sekunde ohne Schmerz fühlt sich an wie ein Verrat an den Angehörigen. Es besteht großer Bedarf, über die Erfahrungen und Schmerzen zu reden. Für die Delegation stellt sich die schwierige Frage, wie eine stärkende, solidarische, therapeutische Arbeit für diese Dimension an Ungerechtigkeit und Leid gestaltet werden kann.

Nach dem Ende der zweiwöchigen Reise schreibt eine Teilnehmerin der Delegation: »Wir haben gesehen, wie in einer Gesellschaft Revolution und Krieg ein Nebeneinander aus Stärke und Schmerz hervorrufen, und sind beeindruckt von den vielen Strukturen und Projekten, die in den letzten vier Jahren aufgebaut wurden und die an sich bereits psychotherapeutisch wirken. Unsere Aufgabe ist es nun, in den nächsten Wochen und Monaten in enger Zusammenarbeit mit den Frauen vor Ort das Konzept für die einjährige psychotherapeutische Ausbildung fertigzustellen und mit dem ersten Ausbildungsjahrgang zu beginnen.«

In den Diskussionen mit den Frauen im Camp, der Stiftung und des Gesundheitszentrums ist eine spannende Diskussion über neue Wege in der Psychotherapie entstanden:

Eine direkte Übertragung der psychotherapeutischen Konzepte aus Europa ist eindeutig nicht sinnvoll. Die meisten westlichen Psychotherapiekonzepte versuchen, die psychischen Folgen gesellschaftlicher Probleme in individualisierten Einzelsitzungen zu therapieren. Dabei geht das Potential kollektiver Verarbeitungsmechanismen und gegenseitiger Stärkung verloren und gesellschaftliche Strukturen werden nicht in die Veränderung mit einbezogen. Dies wäre für eine kollektive Gesellschaft wie die in Rojava verheerend.

Welche psychologische und therapeutische Arbeit kann also an diese gesellschaftlichen Entwicklungen anschließen?

Frauen, die ihre Ehemänner oder Söhne und Töchter verloren haben, sind nun häufig in der Vereinigung der Familienangehörigen von Gefallenen, in den Frauenräten oder Frauenorganisationen aktiv. Schmerz, Trauer und Angst gehen mit Stärke und Entschlossenheit einher, fließen mit ineinander oder bestehen nebeneinander. Bildung, Selbstorganisierung und Selbstverteidigung sind bereits wichtige Ansätze zur Überwindung von psychischen Belastungen.

Die vielfältigen Bildungsangebote zu Geschichte und Gesellschaft, Geschlechterverhältnis, alten und neuen Rollen der Frau in der Gesellschaft sowie Ansätze zur Selbstorganisierung schaffen bereits eine gute Grundlage, um individuelle wie kollektive psychotherapeutische Angebote anzubinden.

In den Diskussionen wird deutlich, dass bei den vielfältigen Schmerzen, Verletzungen und Ängsten eine Unterstützung dringend notwendig ist. Räume, in denen über Ängste, Schmerzen und psychische Schwierigkeiten gesprochen werden kann, sind nötig. In diesen können gemeinsam eine gegenseitige Unterstützung, Stärkung und Methoden zum Umgang mit den Folgen von psychischen Krankheiten und traumatischen Erfahrungen entwickelt werden. Wichtig ist allen eine Bestärkung der Menschen darin, sich selber zu verstehen, zu befreien und zu entfalten.

In den nächsten Wochen und Monaten werden die Diskussionen in enger Zusammenarbeit mit dem Frauengesundheitszentrum und der Gesundheitskommission der Stiftung um Konzept und Methoden weitergehen. Vieles wird sich erst auf dem Weg ergeben, neue Erfahrungen werden neue Fragen aufwerfen und neue, gemeinsame Lernprozesse nach sich ziehen.

Kontakt für nähere Infos zu dem Projekt und zur Stiftung der Freien Frau in Rojava:
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Mobil: + 49 151 120 70 278
Internet: www.weqfajinaazad.org
Facebook: Weqfa Jina Azad WJAR