Wer so mit Toten umgeht – wie geht der mit Lebenden um!

Die AKP muss sich vom Terrorismus distanzieren

Oya Baydar, Schriftstellerin und Journalistin

Respekt vor den Toten ist einer der geteilten Werte, die allen Religionen und Kulturen seit Jahrtausenden gemein sind. Der Mensch ist dem Tod gegenüber hilflos und wandelt seine Furcht vor ihm in Respekt vor den Verstorbenen um. Sowohl in den Mythen des Westens als auch in den Legenden des Ostens fallen diejenigen, die einen getöteten Feind schänden, seinen Leichnam über die Erde schleifen oder ihn beleidigen, dem Fluch der Götter anheim. Auch wenn sie Helden sind, können sie sich vor der Rache des Schicksals nicht retten.

Wo Respektlosigkeit gegenüber den Toten und die Erniedrigung von Leichnamen vorkommen, sind die menschlichen Werte marode. Verstand und Gewissen sind auf einen Nullpunkt gesunken, und die Gewalt hat das Ausmaß blinder Zornesorgien erreicht. Eine Gesellschaft, in der solche Taten nicht als Einzelfälle vorkommen, sondern zur Routine werden, ist eine kranke Gesellschaft, die nicht mehr so leicht zur Besinnung kommen wird.

Schaut Euch dieses Foto gut an!

Wenn Ihr mutig genug seid zu einer Auseinandersetzung mit Eurem Gewissen, schaut Euch den leblosen Körper von Hacı Lokman Birlik an, wie er hinter einem Panzerfahrzeug durch die Straßen von Şırnak geschleift wird. Erinnert Euch daran: Wie der noch sehr junge, nackte und leblose Körper von Kevser über die Straßen von Varto geschleift wurde. Erinnert Euch. Es sind höchstens zwei Monate vergangen seither. Erinnert Euch: Wie die »Helden« ihre Stiefel auf den Körper der Toten pressten und Fotos von sich machten. Erinnert Euch. Wenn es altersmäßig hinhaut, kramt etwas in Eurem Gedächtnis und erinnert Euch an die ähnlichen Fotografien aus den 1990er Jahren. Erinnert Euch an die Dokumente, die zeigen, wie die Toten ausgezogen und untersucht wurden, ob sie beschnitten waren oder nicht. Erinnert Euch an diese menschlichen Schandtaten, an diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wer all das damals nicht gehört, nicht gesehen, nicht gewusst hat, muss wissen, dass das, was heute geschieht, der Aufstand derjenigen Menschen ist, die in den 1990er Jahren als hilflose Kinder voller Furcht und Schrecken den erniedrigten und beschmutzten Leichnamen ihrer Väter, Brüder, Nachbarn und Verwandten hinterherschauten. Und die Kevsers und Birliks und die vielen anderen, die heute Opfer des Staatsterrors werden, werden mit ihren hinter Panzerfahrzeugen hergeschliffenen leblosen Körpern den unausweichlichen Aufstand der kommenden Generationen nähren.

»Vergessen Sie dieses Foto nicht, denn wir werden es auch nicht vergessen«, sagt der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtaş. Ja, vergessen wir nicht. Vergessen wir nicht, dass unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk nicht nur eine politische sein soll, sondern dass wir auch mit dem Herzen ohne Wenn und Aber an ihrer Seite stehen und diese Solidarität in der türkischen Bevölkerung verbreiten und stärken müssen. Nicht nur für die Zukunft des kurdischen Volkes, sondern für die Zukunft der gesamten Türkei, für alle Bevölkerungsgruppen.

Bewaffneter und unbewaffneter Terror

Gewalt und Terror bestehen nicht nur aus Waffen. In unserem Land hat jede erdenkliche Form und Ebene von Gewalt das Alltagsleben komplett durchdrungen. Die Frau, die die Schläge ihres Ehemannes nicht mehr aushält und sich trennen will, der Autofahrer, der einem nicht die Vorfahrt lässt, die Journalistin, die Dinge schreibt, die den Machthabern nicht gefallen, die Medienvertreter oder Künstlerinnen, die Herr Tayyip und seine Claqueure nicht ausstehen können, der Jugendliche, der an einer Protestkundgebung teilnimmt, jegliche Person, die anders denkt oder einem anderen Glauben angehört, der Staatsbürger, der sich in der HDP organisiert oder nur kundtut, er wolle die HDP unterstützen, die Person, deren einzige Schuld (!) es ist, als Kurdin geboren worden zu sein oder auch nur für einen Kurden gehalten zu werden, Frauen und Männer, Kinder und ältere Menschen, sie alle bekommen die eine oder andere Form von Gewalt zu spüren. Die Gesellschaft hat diese Situation zunehmend als Normalzustand akzeptiert und Gewalt naturalisiert. Sie beginnt selbst, Gewalt anzuwenden.

Die Ausbreitung der Gewalt in den letzten Jahren und die Bedrohung der Gesellschaft durch jede Form von Terror sind keine von selbst auftretenden Phänomene. Ich will sagen: Wir sind nicht in diese Atmosphäre von Gewalt und Zornesorgien geschlittert, weil die Menschen in unserem Land plötzlich böse und wild geworden sind. Vielmehr beginnt es in den obersten Etagen der Macht mit der Ausbreitung einer Sprache der Gewalt und des Hasses, mit einer angefachten militärischen Konfliktsituation, mit der Instrumentalisierung von Gewalt als Mittel der Politik, setzt sich fort mit der bewussten Dämonisierung bestimmter Gesellschaftsgruppen, mit der Darstellung eines Teils der Bevölkerung als legitime Zielscheibe, und endet in den Ängsten, die durch die paranoide Rede von einer umzingelten Türkei geschürt werden – seitens einer Regierung, die mit fast allen Ländern der Welt im Streit liegt. In jedem Bereich werden anstelle von Dialog und Kompromiss gewaltvolle Auseinandersetzungen bevorzugt. Das hat die Menschen in der Türkei in den ungesunden Geisteszustand gebracht, in dem sie heute sind.

Denn die Psychologie und die Sprache der Massen formen sich an den Beispielen der Regierenden, der Führungspersönlichkeiten und Meinungsbildner. Die Sprache und Mentalität der Herrschenden, insbesondere derer an der Spitze des Staates, gehören zu den wichtigsten Faktoren, die eine Gesellschaft zur Gewalt und zum Hass bringen. Dafür reicht es schon aus, dass der Staatspräsident, der ein Symbol der Einheit des Landes und damit betraut ist, diese Einheit herzustellen, bei jedem Ereignis von »denen« spricht.

Wann distanziert sich die AKP-Regierung vom Terrorismus?

Nicht nur die Regierung, nicht nur die Anhänger der AKP, sondern jeder türkische Nationalist, der seinen Mund aufmacht, sogar Politiker, die die HDP einfach nur als Konkurrenz ansehen, nein: Sogar Menschen, die es – so wie ich – gut meinen und sich eigentlich wünschen, dass die HDP erstarke, fordern, die HDP müsse sich vom Terrorismus distanzieren. Wenn wir dieses sattsam bekannte Klischee wiederholen, kommt uns dann jemals in den Sinn, dass es eigentlich die AKP-Regierung ist, die die Fäden in der Hand hält und sich vom Terrorismus distanzieren müsste? Während die HDP jeden Tag etwas lauter und kräftiger erklärt, dass sie Gewalt, Blut und Krieg als Mittel nicht gutheißen, dass – mit Gandhi gesprochen – »man mit blutigen Händen nicht nach dem Frieden greifen kann«, dass demokratische Selbstverwaltung nicht mit Waffen errichtet werden kann und Waffen auch keine Demokratie bringen, werden diese Aussagen allzu oft ignoriert von Menschen, die gegenüber dem Staatsterrorismus schweigen wie Lämmchen. Schlimmer noch: Die gegen die Bevölkerung gerichtete Gewalt der staatlichen Kräfte legitimieren sie mit einem »Aber die haben ja auch ...« – als wäre es etwas ganz Normales.

Wir müssen ganz klar sehen: Wenn die AKP-Regierung die Männer, die Kevsers nackten Körper über den Boden schleiften (die heißen auch noch Sicherheitskräfte), sofort und so hart wie möglich bestraft hätte, wäre wohl niemand ermutigt worden, den Leichnam von Hacı Lokman Birlik über den Boden zu schleifen. Wäre verhindert worden, dass in Cizre die Zivilbevölkerung zu Schießscheiben wird, dann wären all die Verbrechen in Silvan, Şemdinli und Nusaybin nicht geschehen. Wenn die Lakaien der Macht, die die Büros der Zeitung Hürriyet gestürmt haben, nicht auf dem Parteikongress geehrt worden wären, indem sie dazu gewählt wurden, den Vorsitz zu führen, dann wären die finsteren AKP-Mitglieder, die den Journalisten Ahmet Hakan attackierten, nicht so unverschämt gewesen. Wären sie verhaftet worden, anstatt laufen gelassen zu werden, und wäre Anklage gegen die systemtreuen Schreiber erhoben worden, die zu der Tat aufhetzten, oder gegen die involvierten Mafiagrößen – dann hätte man vieles verhindern können. Zumindest wäre dann einmal diese furchtbare Mentalität angekratzt worden, die sich in der Gesellschaft ausbreitet.

Da Erdoğan und die AKP-Machthaber stattdessen aber festgefahren sind in ihrer Sprache, ihren Diskursen und Methoden, mit denen sie unablässig die Massen aufhetzen, sind sie direkt verantwortlich für den Terror der staatlichen Kräfte und die Aggressionen der in ihrem Dienst stehenden Schläger. Es sind in erster Linie die Machthaber, die den Terror zu stoppen und sich von ihm zu distanzieren haben. Tun sie dies nicht, so wird ihre Legitimität fragwürdig und sie müssen sich verantworten für Terrorakte.

(Übersetzung aus: http://t24.com.tr/yazarlar/oya-baydar/oluye-bunu-yapan-diriye-ne-yapmaz-akp-terorle-arasina-mesafe-koymalidir,12883)Kein Erdbeben – dies war ein von der Bevölkerung liebevoll gepflegter Friedhof, bis Erdoğans Truppen über ihn hergefallen sind und ihn verwüstet haben. Foto: DIHA