Erdoğan installiert seine Diktatur

Vor allem Machterhalt

Ferda Çetin, Anfang Oktober 2015

Stimmzettel der Parlamentswahlen vom 1.11. | Foto: DIHAVergleicht man die politische Atmosphäre in der Türkei vor knapp einem Jahr mit der heutigen, wird man viele Veränderungen feststellen. Am 28. Februar 2015 hatten SprecherInnen der AKP-Regierung gemeinsam mit VertreterInnen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Dolmabahçe-Palast eine Erklärung zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage abgegeben. Darin wurden die zwischen den Konfliktparteien zu verhandelnden Themen und eine Roadmap benannt. Die aus zehn Paragraphen bestehende Deklaration sah ein Stufensystem vor, das synchron von beiden Seiten beschritten werden sollte. Gemeinsamer Nenner für Regierung und kurdische Seite war, dass alle militärischen Mittel ausgeschlossen werden sollten und der demokratisch-politische Raum geöffnet werden sollte.

Um abzusichern, dass der Prozess gut voranschreiten kann, sollte für schwierige Etappen eine unabhängige Beobachtungsgruppe zusammengestellt werden, die ggf. als Mediatorin in die Verhandlungen einwirken sollte. Auch hierüber waren sich beide Seiten im Prinzip einig. Zum Newroz-Tag am 21. März 2015 wurde erwartet, dass der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan in seiner Botschaft auf diese Einigung zu sprechen kommt. Die AKP-nahen Medien hingegen schürten die Erwartung, dass seine Botschaft einen Aufruf an die PKK zum Niederlegen ihrer Waffen und zum Rückzug aus der Türkei beinhalten werde. Die AKP-Regierung hat allerdings weder bei der Gründung der Beobachtungsgruppe noch bei einer ihrer anderen Aufgaben im Lösungsprozess irgendeinen Schritt getätigt; stattdessen legte sie ihren Fokus vollständig auf das Niederlegen der Waffen durch die PKK.

Und so ließ Öcalan zum Newroz-Fest am 21. März 2015 keine Botschaft verlautbaren, die den Wünschen der AKP entsprach, sondern eine, die auf einen Fortgang der Einigung vom Dolmabahçe-Palast abzielte. Er machte darauf aufmerksam, dass diese Übereinkunft nur dann zur Geltung kommen könne, wenn beide Seiten die dafür notwendigen Schritte gingen. Eine Aufforderung an die PKK, die Waffen niederzulegen, war der Botschaft hingegen nicht zu entnehmen.

Tayyip Erdoğan war über die Verlautbarung aus Imralı nicht recht glücklich. Denn er wollte sein »Präsidialsystem« verwirklicht sehen und hätte dafür bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 400 Abgeordnete benötigt. Diesen Wunsch äußerte er mehrfach öffentlich. Dagegen brachte neben der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) auch der ehemalige Staatspräsident und Weggefährte Erdoğans, Abdullah Gül, seine Gegnerschaft zum Präsidialsystem zum Ausdruck.

Erdoğan war davon überzeugt, dass es der AKP einen großen Stimmenzuwachs einbringen würde, wenn die PKK die Waffen niederlegte. Deshalb plante er, die PKK zu diesem Schritt zu bewegen, ohne selbst großartig etwas leisten zu müssen. Er wollte seine dreizehnjährige Herrschaft, in der er viel versprochen und wenig umgesetzt hatte, was letztlich auch zu kontinuierlichen Stimmenverlusten führte, damit krönen, dass er als der Mann in die Annalen eingeht, der dem »Terror« in der Türkei ein Ende bereitet hat.

Sowohl die PKK als auch die legalen kurdischen Strukturen entlarvten diese Absichten Erdoğans und ließen sich nicht für die Pläne der AKP instrumentalisieren.

Als Erdoğan merkte, dass seine Träume sich bis auf Weiteres nicht erfüllen ließen, setzte er seinen Schwerpunkt in der kurdischen Frage wieder auf die militärische Karte, die ohnehin nie wirklich vom Tisch gewesen war. Bereits am 27. März 2015 ließ er das Parlament das »Gesetzespaket für die Innere Sicherheit« verabschieden. Damit wurden die Befugnisse der Polizei nochmals deutlich ausgeweitet. Seitdem dürfen die »Sicherheitskräfte“ auch ohne juristischen Bescheid Wohnungen durchsuchen und Menschen vorübergehend festnehmen. Auch die GouverneurInnen wurden dadurch mit Rechten ausgestattet, die zuvor lediglich StaatsanwältInnen und RichterInnen vorbehalten gewesen waren.

Nun hat die HDP, die zuvor bei Wahlen aufgrund der Zehnprozenthürde auf unabhängige KandidatInnen gesetzt hatte und dadurch mit 36 Abgeordneten im Parlament vertreten war, bei der Wahl vom 7. Juni den Schritt gewagt, als Partei anzutreten. Erdoğan und die AKP fühlten sich durch diese Entscheidung gestört und propagierten das Scheitern der HDP an dieser Hürde. In diesem Falle hätte die AKP nach der Wahl mit vierzig bis fünfzig Abgeordneten mehr im Parlament vertreten sein können.

So setzte der eigentlich »unabhängige« Staatspräsident Erdoğan höchstpersönlich alles daran, um die HDP unter der Hürde zu halten, und organisierte eine Vielzahl von Wahlkampfveranstaltungen, auf denen er Stimmen für die AKP forderte und die HDP als »Unterstützerin des Terrorismus“ darstellte. Bei der vorangegangenen Parlamentswahl hatte die Vorgängerin der HDP gerade einmal 6,3 % Stimmenanteil ergattern können, bei der Präsidentschaftswahl hatte der HDP-Co-Vorsitzende Demirtaş knapp 9 % Stimmenanteil gesammelt, und die Umfragen vor der Wahl deuteten darauf hin, dass die HDP sich gerade so an der Schwelle der Wahlhürde bewegen würde. Es bestand also ein reales Risiko des Scheiterns.

Ob die AKP und Erdoğan allein weiterregieren würden, hing also in erster Linie davon ab, ob die HDP den Sprung ins Parlament schaffte. Denn bei einem Stimmenzuwachs von vier bis fünf Prozent gegenüber der letzten Wahl hätten die CHP oder die MHP nur mit sechs bis acht Abgeordneten mehr rechnen können. Ein solcher Stimmenzuwachs bei der HDP hingegen hätte siebzig bis achtzig Abgeordnete im Parlament bedeutet, was gleichzeitig jedem AKP-Kalkül einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte und letztlich auch gemacht hat.

Die Wahlergebnisse vom 7. Juni waren eine Katastrophe für die AKP. Im Vergleich zur Präsidentschaftswahl, die Erdoğan mit 51 % gewonnen hatte, waren nun knapp zehn Prozent Stimmenverluste zu verzeichnen. Von einer verfassungsändernden Mehrheit sprach niemand mehr. Denn der AKP fehlt nach dem 7. Juni selbst die zur Alleinregierung notwendige Mehrheit von 276 Abgeordneten.

Die HDP hingegen ging als Siegerin aus der Wahl hervor. Die Wahlhürde war von der Militärjunta des 12. September [1980] erlassen worden, um die KurdInnen aus dem Parlament zu halten. Auch von der AKP wurde sie nie außer Kraft gesetzt. Doch nun ist es der HDP gelungen, diese Hürde zu nehmen und der AKP und Erdoğan eine empfindliche Niederlage beizubringen. Mit einem Stimmenanteil von 13,1 % errang sie achtzig Sitze, und ihr an Erdoğan gerichteter Wahlslogan »Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen« wurde damit wahr. Wichtig ist auch anzumerken, dass in vielen Orten Kurdistans, in denen die AKP zuvor stärkste Kraft gewesen war, nun die HDP einen deutlichen Stimmenzuwachs verzeichnete.

Nach der Wahlniederlage vom 7. Juni setzt Erdoğan nun erneut alles daran, an der Macht zu bleiben, auch weil er ansonsten eine juristische Abrechnung aufgrund des Korruptionsskandals vom 17. Dezember 2014 zu befürchten hätte, in den neben vier AKP-MinisterInnen auch sein Sohn Bilal Erdoğan verwickelt ist. Untersuchungen zu dem Fall beweisen eindeutig, dass Gelder aus der Staatskasse entwendet wurden. Selbst der Mitschnitt eines Gesprächs, in dem Erdoğan seinen Sohn dazu aufgefordert haben soll, die »dreißig Millionen Dollar zu verstecken«, tauchte in der Öffentlichkeit auf. Allein aus dieser Sachlage heraus wird verständlich, weshalb sich Erdoğan seit dem 7. Juni so vehement an seine Macht klammert und seine Amtspflichten verletzt hat, indem er nach dem Scheitern der AKP bei den Koalitionsgesprächen nicht der CHP den Auftrag zur Regierungsbildung gab. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu hatte in den Koalitionsgesprächen mit der AKP als Bedingung für die Regierungsbildung die Aufhebung der Immunität von Erdoğan und dessen Familie gefordert.

Und während sich die Neuwahl am 1. November unaufhaltsam nähert, geraten Erdoğan und die AKP immer stärker in die Bredouille. Erdoğan scheint die Pläne für sein Präsidialsystem erst einmal über Bord geworfen zu haben und setzt nun auf eine weitere Legislaturperiode, in der die AKP zumindest allein weiterregieren und seine Immunität schützen kann. Dafür installiert er derzeit seine Diktatur im Lande. So werden Geschäftsleute, die nicht die AKP unterstützen, mit Steuerstrafen überzogen, oppositionelle MedienchefInnen und JournalistInnen bedroht, AKP- und erdoğankritische Zeitungen und Zeitschriften durch die Polizei gestürmt und durchsucht und gegen ihre JournalistInnen Untersuchungen eingeleitet. Erdoğan hat über seine eigenen Medien selbst den Medienmogul der Doğan-Gruppe, Aydın Doğan, öffentlich bedroht. Wie weit es tatsächlich gekommen ist, demonstriert die jüngste körperliche Attacke auf den Hürriyet-Kolumnisten Ahmet Hakan durch vier AKP-Mitglieder.

Erdoğan setzt in der kurdischen Frage derzeit auf die militärische Karte statt auf eine politische Lösung. Das Ergebnis ist, dass er Nordkurdistan nach dem 7. Juni in einen Kriegsschauplatz verwandelt hat. Allein im letzten Monat [September] sind in den acht Provinzen Nordkurdistans 140 Gebiete zu militärischen Sperrzonen erklärt und dadurch Ackerbau, Gärtnerei und Tierzucht – allesamt Haupteinahmequellen der örtlichen Bevölkerung – verboten worden.

Im Schatten der sich nähernden 1.-November-Wahl hat das türkische Militär auf Direktive Erdoğans in Gimgim (Varto), Cizîr (Cizre), Silopi, Colemêrg (Hakkâri), Amed (Diyarbakır), Wan (Van), Gever (Yüksekova), Elkê (Beytüşşebap), Farqîn (Silvan), Hênê (Hani) und weiteren Orten die Zivilbevölkerung bombardiert. Das führte allein im letzten Monat zum Tod von achtzig ZivilistInnen, darunter vielen Kindern. Auf der Grundlage eines Rundschreibens des türkischen Innenministeriums wurde der Beschluss zur Zerstörung von 14 Friedhöfen verlautbart, auf denen die Überreste von GuerillakämpferInnen bestattet sind. In Gimgim, Dîxor (Digor), Nisêbîn (Nusaybin), Hênê, Bidlîs (Bitlis) und Wan wurden daraufhin die Friedhöfe bombardiert und zerstört.
Die AKP-Regierung hat für den Wahltag für viele Orte, in denen die HDP am 7. Juni mit deutlicher Mehrheit gewonnen hatte, aus »Sicherheitsgründen« beschlossen, keine Wahlurnen aufzustellen und so die Bevölkerung zu zwingen, für den Urnengang weite Strecken auf sich zu nehmen. So soll die Wahlbeteiligung in jenen Orten verringert und die Kontrolle über die Wahlurnen verschleiert werden. Bis jetzt gilt dieser Beschluss für Gebiete in Cizîr, Farqîn, Gever, Êlih (Batman), Silopi, Colemêrg, Nisêbîn und Bismil. Dass er allein gegen die WählerInnenschaft der HDP gerichtet ist, bedarf keiner weiteren Erwähnung.Türkische »Sicherheitskräfte« in der Innenstadt von Farqîn | Foto: DIHA

Allein im letzten Monat wurden acht BürgermeisterInnen der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) und rund 2300 aktive HDP-Mitglieder festgenommen. Die AKP hat bewusst diejenigen HDPlerInnen festsetzen lassen, die bei der vergangenen Wahl besonders aktiv waren und am Wahltag Aufgaben im Namen der HDP übernommen hatten.

Erdoğan und die AKP-Regierung haben die de facto bereits im Frühjahr 2015 getroffene Entscheidung zum Krieg seit Juni dieses Jahres auch in die Tat umgesetzt. Derzeit sind etwa zwei Drittel des türkischen Militärs und praktisch alle türkischen Spezialeinsatzkräfte in Nordkurdistan im Einsatz und führen einen gewalttätigen Krieg. Somit ist unzweifelhaft klar, dass Erdoğan sich in Sachen kurdische Frage für den militärischen Weg entschieden und die seit hundert Jahren anhaltende Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegen die KurdInnen wiederbelebt hat.