Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn ihr diese Ausgabe des Kurdistan Reports in der Hand haltet, liegen die Wahlergebnisse der Parlamentswahlen in der Türkei vom 1. November bereits vor. Doch auch ohne Berücksichtigung dieser Ergebnisse möchten wir anlässlich der letzten Ausgabe des Jahres 2015 ein erstes Resümee aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung für das auslaufende Jahr ziehen.

2015 stellt für die Bewegung ohne Frage ein Jahr dar, in dem die Errungenschaften des Freiheitskampfes nicht nur gegen vielseitige Angriffe verteidigt, sondern einen Schritt nach vorn transportiert worden sind. Die Kurdinnen und Kurden sind zu einem entscheidenden Akteur im Mittleren Osten herangewachsen, die Ideologie des demokratischen Konföderalismus hat sich zu einer breit akzeptierten gesellschaftlichen Alternative zum bestehenden nationalstaatlich-kapitalistischen Gesellschaftssystem entwickelt. Im Jahr 2015 hat sich die Vision einer radikaldemokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft in Kurdistan bewährt und ist so auch zu einem Keim der Hoffnung für viele Menschen geworden, die jenseits der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen nach einem alternativen Leben suchen.

Die Verteidigung und Ausweitung der Rojava-Revolution und die gesellschaftliche Akzeptanz der Demokratischen Partei der Völker (HDP) als eine fortschrittliche Kraft in der gesamten Türkei können in diesem Sinne im auslaufenden Jahr 2015 als wichtigste Errungenschaften hervorgehoben werden.

Ohne Zweifel mussten für den Freiheitskampf auch in diesem Jahr große Opfer gebracht werden. Die jüngsten Bombenanschläge in Ankara stellen den vorläufigen Höhepunkt der Angriffe gegen die fortschrittlichen Kräfte in der Region des Mittleren Ostens dar. Doch Fakt ist auch, dass gerade das Voranschreiten der kurdischen Freiheitsbewegung in diesem Jahr die rückständigen und machtfokussierten Kräfte in der Region zu schierer Verzweiflung getrieben hat und weiterhin treibt. So sind die Machtpläne Erdoğans und seiner AKP gestoppt und der Mythos der Unschlagbarkeit des Islamischen Staates in diesem Jahr gebrochen worden. Die Verzweiflung dieser Kräfte drückt sich gegenwärtig in der Aggressivität aus, mit der sie blindwütig um sich schlagen.

Natürlich wünschen wir, dass diese hoffentlich letzten verzweifelten Angriffe der Gegner des Freiheitskampfes in Kurdistan und dem Mittlerem Osten so schnell wie möglich abgewehrt werden, damit friedvollere Zeiten anbrechen und die Keime des Freiheitskampfes, die in den letzten vierzig Jahren gesät wurden, im vor uns liegenden Jahr noch schönere Blüten entfalten können.

Das alte kurdische Sprichwort »Wir Kurden und Kurdinnen haben keine Freundinnen und Freunde außer die Berge« verliert immer mehr seinen traurigen Inhalt, seine traurige Bedeutung. Noch nie zuvor wurden so viele Freundschaften in eben diesen Bergen geschlossen. Sie sind überall dort, wo Menschen zusammenkommen, um die kurdische Revolution zu verteidigen und sie mit ihrer Kraft weiterzutragen, auf den Gipfeln oder in den Schluchten der unwegsamen Berge, den Hügeln oder den endlosen Ebenen, in den Häusern und auf den Straßen der vom Feind belagerten Städte ... Sie sind eine Hoffnung geworden, für mehr und mehr.

Die Redaktion