Frauenbefreiungsbewegung in Rojhilat

»Frauen im Norden und im Süden, vereint gegen die Vergewaltigungskultur!«

Birgit Baumeister, Mitarbeiterin bei CENÎ – Kurdisches Frauenbüro für Frieden, 06.08.2015

Die koloniale Haltung der Staaten im Mittleren Osten drückt sich durch die Vergewaltigung von Gesellschaft und Land und insbesondere sexistische Frauenunterdrückung aus. Ihre Angriffe auf ökonomischer, sozialer und ideologischer Ebene sind als Angriffe gegen den Drang der Gesellschaften im Mittleren Osten nach auf und demokratischem Zusammenleben zu verstehen. Die staatliche Vergewaltigungskultur bildet den größten Angriff auf die enorme moralische Aktionsfähigkeit des kurdischen Volkes in der Region, deutlich in seinen Bemühungen um Frieden in der Türkei und dem dortigen zukunftsweisenden Projekt der Demokratischen Partei der Völker (HDP), den multiethnisch-basisdemokratischen und geschlechterbefreienden Gesellschaftsprojekten in Ost- und Westkurdistan (Rojhilat/Iran und Rojava/Syrien) und nicht zuletzt im erfolgreichen Kampf gegen den Islamischen Staat und dessen Gräueltaten.

Vergewaltigung als staatliche Strategie drückt sich in Folter, Haft und militärischer Gewalt ebenso aus wie in grenzenlosen Waldverbrennungen und zerstörerischen Staudammprojekten und zielt darauf ab, dem Individuum und der Gesellschaft die Hoffnung zu nehmen. Deren Willen und Mut für ein anderes Leben, für die Frauenbefreiung, für ein freies Kurdistan, für Frieden und demokratisches Zusammenleben der Völker wird zu brechen versucht. Es wird Verzweiflung gestreut mit dem Ziel, sie zur Aufgabe zu zwingen und damit zum Ablassen vom alternativen Projekt.

Die größten Errungenschaften gegen die staatliche Strategie der Vergewaltigung hat zweifellos, als Erbe militanter Frauenbewegungen und großer Revolutionärinnen, der Widerstand der kurdischen Frauenbewegung hervorgebracht. Die Grundlagen dieses fruchtbaren Widerstandes wurden, lange bevor es zur eigenständigen Frauenorganisierung gekommen war, im Gefängniswiderstand durch Anhängerinnen der Befreiungsbewegung Kurdistans, unter anderen die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız, erkämpft. Dem staatlichen Folterregime stellten sie die Entschlossenheit im Freiheitskampf und den Glauben an die Befreiung entgegen; die Strategie der Vergewaltigung bricht an der Festigkeit des Willens und der Überzeugung der Revolutionärinnen. Ihre Überzeugung im Kampf um Befreiung und die Kraft, die sie aus dem Versprechen ziehen, bis zuletzt für ein freies Leben zu kämpfen, befähigt die Freundinnen unter schwierigsten Umständen zu einem solchen Widerstand, der die Vergewaltiger selbst in ihrer eigenen Zerstörungswut verzweifeln lässt, und gewinnen so ein weiteres Stück auf dem Weg zum freien Leben.

Demonstration für die Freilassung von Zeynep CelaliyanIn derselben Tradition steht der entschlossene Widerstand der jungen Kurdin Zeynep Celaliyan, die seit acht Jahren der Folter des iranischen Staates ausgesetzt ist und angesichts der Gewalt und versuchten Erniedrigung standhält. Trotz erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigung lässt sie sich von staatlicher Seite nicht einschüchtern und behält ihre entschlossene Haltung bei. Die Versuche des Staates, ihr Informationen oder eine sonstige Form der Kollaboration zu entlocken, sind allesamt gescheitert. Die Geiselhaft, in der sie weiterhin gehalten wird, und die verwehrte medizinische Grundversorgung sind Ausdruck der schamlosen Mittel, derer sich ein Staat angesichts eines so bedeutsamen Widerstandes bedient.

Zeynep Celaliyan war als Aktivistin der Frauenbewegung aktiv und klärte viele junge Frauen über Alternativen zum repressiven patriarchalen System auf. Sie besuchte Schulen anlässlich des Internationalen Frauentages, um für ein aktives Eintreten junger Frauen für ihre Rechte und Selbstbestimmung zu werben. Diese »staatsfeindlichen Aktivitäten« führten zu ihrer Festnahme und die Gerichtsbarkeit der Islamischen Republik Iran verurteilte sie als »Feindin Gottes« zur Todesstrafe. Laut ihren Anwälten gleicht unter diesen Umständen die Umwandlung ihrer Todesstrafe in lebenslange Haft im Jahre 2011 einer Entscheidung für den langsamen Foltertod der kurdischen Aktivistin.

Die Netze patriarchaler Gewalt sind im Iran eng mit staatlichen Interessen verbunden. Geheimdienstangestellte benutzen Vergewaltigung als alltägliches Repressionsmittel, um die Selbstbestimmung der Frauen und somit die moralischen Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens anzugreifen. Die Gemeinschaft der Freien Frauen Ostkurdistans (Komeleya Jinên Azad ya Rojhilatê Kurdistanê – KJAR) erklärte am 8. Mai 2015 angesichts des Todes der jungen Kurdin Ferînaz Xosrowanî (sie kam ums Leben, als sie, sich der Vergewaltigung durch einen Geheimdienstangestellten entziehend, aus dem 4. Stock stürzte): »Daran wird der Stand der Vergewaltigung und Grausamkeit des staatlichen Denksystems im Iran deutlich. Diese Vorfälle sind keine gewöhnlichen Vorfälle, sondern staatlich produziert.« 8. Protest in Mahabad gegen die Vergwaltigungspolitik nach dem Tod der jungen Kurdin Ferînaz Xosrowanî

»Das HERRschende Gesetz, das im Interesse des patriarchalen Staates und Feind der Frauen« ist, befeuert somit rückständige Männerbünde und sexistische Gewalt in der Gesellschaft; gesellschaftlicher Sexismus wird angesichts dieses staatlich organisierten Bedrohungsszenarios gegen Frauen weiter ausgeprägt. Dieses Vorgehen ist im Kontext der erstarkenden Frauenorganisierung im Mittleren Osten und der Vorreiterinnenrolle der Frauenorganisierung beim Aufbau des demokratisch-konföderalen Modells in der Region als Alternative zu den rassistischen Nationalstaaten zu verstehen. Sowohl für die Staaten als auch für die feudalen Familienstrukturen bedeutet sie eine Gefährdung der Macht und alten Ordnung.

Insbesondere die Errungenschaften der Frauenrevolution in Rojava beweisen eine Befreiungsperspektive, die von Frauen weltweit aufgegriffen und auf vielfältige Weise umgesetzt wird. Die Stärke der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und ihr erfolgreicher Widerstand gegen den Islamischen Staat gründen sich auf einer Tradition großer Kämpferinnen und ideologischer Festigkeit der kurdischen Frauenbewegung. So sehen sich die jungen Kämpferinnen der YPJ, genauso in den anderen Teilen Kurdistans die YJA Star und die ostkurdischen HPJ, als Erbinnen der Revolutionärinnen Zîlan, Bêrîtan, Bêrîvan, Ronahî, Nûda, Sakine und vieler weiterer, die im jahrzehntelangen Befreiungskampf des kurdischen Volkes gegen die koloniale Leugnungs- und Vernichtungspolitik einen bedeutenden Platz eingenommen haben.

Die Gemeinschaft der Freien Frauen Ostkurdistans KJAR erklärte in ihrem Dokument vom 8. Mai 2015: »Immer wenn die Freiheitssuche der Frauen stärker wird, Frauen beginnen, sich zu organisieren, ihr Bewusstsein für Selbstverteidigung und die Verteidigung ihrer Würde sich vergrößert, wird ihnen mit immer grausameren Angriffen geantwortet.« Angesichts der prägnanten Rolle der Frauenbewegung im gesellschaftlichen Aufbruch des Mittleren Ostens ist ein verstärkter Angriff auf Frauen zu vermerken. Von der enormen Gewalt des Islamischen Staates gegen Frauen auf allen Ebenen über die vermehrten Feminizide in der Region und insbesondere der Türkei bis hin zum grausamen Folter- und Vergewaltigungssystem in den Knästen und die zunehmende Zahl der Festnahmen von Aktivistinnen – die Repression nimmt zu.

Auch der Widerstand nimmt neue Formen an; die Bündnisse unter Frauen und der gesamten Gesellschaft stärken sich und eine gemeinsame Entschlossenheit und Solidarität im Kampf gegen patriarchale Gewalt formieren sich, insbesondere in der Türkei, als Ergebnis des beharrlichen und offensiven Kampfes der kurdischen Frauenbewegung. Die Bevölkerung von Mahabad/Ostkurdistan setzte nach dem Tod von Ferînaz Xosrowanî ein bedeutendes Zeichen gegen die staatliche Vergewaltigungskultur, indem sie das Hotel Tara, Tatort der versuchten Vergewaltigung, in Brand steckte und die Region in einen Ausnahmezustand versetzte. Eine solche Konsequenz und Haltung sind wegweisend für ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein und soziale Kämpfe um Geschlechterbefreiung.

Die Frauenverteidigungskräfte Ostkurdistans (HPJ) meldeten sich angesichts des Vorfalls zu Wort, erklärten ihre Solidarität und Rückendeckung für den anhaltenden Volksaufstand: »Für Ferînaz einzustehen bedeutet zweifellos, für die freie und widerständige Identität des kurdischen Volkes einzustehen. Wir gratulieren der Bevölkerung von Mahabad, Şino, Seqiz, Sine, Kirmaşan, Bokan, Urmiye Maku, Serdeşt, Mêrîwan, Pîranşar und ganz Ostkurdistan zu ihrem Aufstand und grüßen ihre Aktionen. Heute ist es Ferînaz und morgen trifft es eine andere. Es ist schon lange eine Grenze erreicht, bereits mit den Morden an Ferînaz, Şeyda und Reyhane (...) Lasst Euch wissen, dass wir als Frauenverteidigungskräfte HPJ und Verteidigungskräfte Ostkurdistans YRK in ganz Ostkurdistan vertreten sind und hinter der Bevölkerung stehen. Wir werden alles Erforderliche zur Verteidigung der Frauen unternehmen.« Sie erklärten, ihre Selbstverteidigungseinheiten hätten am Abend des 10. Mai 2015 eine Verwarnungsaktion gegen einen staatlichen Kontrollpunkt durchgeführt.

Die Jungen Frauen Ostkurdistans stehen beispielhaft für einen genauso gesellschaftlich-organisierten wie entschlossenen Kampf gegen die Vergewaltigungskultur: »Die Jungen Frauen Ostkurdistans organisieren sich autonom innerhalb der Jugendbewegung KCR und arbeiten auf die Bewusstseinsbildung und Organisierung junger Frauen in Ostkurdistan hin. Die Aktivistinnen verstehen es als ihre Aufgabe, die Befreiungsperspektive der Ideen unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan jungen Belutschinnen, arabischen, persischen, assyrischen Frauen und anderen Völkern des Iran näherzubringen. Gegen das Denksystem des Iranischen Regimes und seine Vollstrecker, die den Willen von Frauen brechen, sie töten, prostituieren und ihnen das bedeutungsvolle Leben rauben, organisieren wir uns und fördern die legitime Selbstverteidigung (...) auf der Grundlage der Frauenbefreiungsideologie und des Demokratischen Konföderalismus.«, wie es auf einer Versammlung der Jungen Frauen Ostkurdistans im Juni 2015 beschlossen wurde.

In dieser Auseinandersetzung stellen sich dringende Fragen zur internationalen Solidarität, insbesondere im Hinblick auf die Verteidigung der geschaffenen Werte der Frauenbefreiung. Wie können wir, in aller Vielfalt, die notwendige Einheit schaffen, um die Errungenschaften der Frauenrevolution in Kurdistan gemeinsam zu verteidigen? Wie lange wird der Dornröschenschlaf westlicher Frauenbewegungen und Feministinnen noch andauern, bis sie die Errungenschaften und Potentiale im gemeinsamen Kampf gegen Patriarchat und Vergewaltigungskultur erkennen?

Die Kurdin Seyran Riza aus dem Dorf Enane in der südkurdischen Region Kirkuk brachte es gegenüber der Nachrichtenagentur Roj auf den Punkt: »In der Persönlichkeit der jungen Kurdin von Mahabad verurteile ich zutiefst die Grausamkeit und menschenfeindliche Haltung des iranischen Regimes. Wir akzeptieren Vergewaltigung in keinster Weise und es ist notwendig, dass wir unsere Selbstverteidigung leisten. Wir sind gegen Übergriffe an Frauen und verurteilen deren menschenverachtende Täter. Ich rufe alle Frauen im Norden und im Süden dazu auf, gegen diese Vergewaltiger zu demonstrieren!«

Literaturverweise:
»Sofortige medizinische Behandlung und Freilassung für Zeynep Celaliyan«, Informationsdossier von CENÎ, Juni 2015
»Für Ferînaz einstehen bedeutet, für die eigene Würde einstehen«, Erklärungen von KJAR, 8.5.2015, Übersetzung auf ceni-kurdistan.com
»Die Vergewaltigung in Mahabad richtet sich gegen uns alle!«, Interviews mit Frauen in Südkurdistan, 9.5.2015, Roj News
»Junge Frauen Ostkurdistans versammeln sich«, 30.6.2015, Roj News
»HPJ-Aktion für Ferînaz Xosrowanî«, 11.5.2015, ANF