Die demokratische Moderne aufbauen – der kommende Aufstand und die Revolution im Westen

... sich vom Staat zurückziehen, um sich die eigene Kraft der Problemlösung und Perspektivfindung anzueignen

Initiative zur Verständigung / Philologischer Flügel der Imaginären Partei

Während der kurdische Aufbruch den Mittleren Osten umgestaltet und die Idee des demokratischen Konföderalismus zu einem Lösungsentwurf für die ganze Region geworden ist, erscheint es in Europa nach wie vor schwierig, einen Ausweg aus der kapitalistischen Moderne zu denken und zu leben.

unsichtbares komiteeSpätestens seit Beginn des Jahres 2014, der offiziellen Ausrufung der demokratischen Autonomie in den kurdischen Gebieten Nordsyriens und der Gründung der Kantone Rojavas besteht kein Zweifel mehr an der politischen Renaissance der demokratischen Kräfte des Mittleren Ostens. Grund dafür mag auch die Rolle der Region als Austragungsort globaler Machtkämpfe gewesen sein, die an der Peripherie verschiedener Einflusssphären liegt – stellvertretende Kräfte der NATO, Bündnispartner Russlands sowie regionale Mächte wie die Türkei und der Iran haben zwischen militärischen Invasionen, politischen Provokationen und kolonialen Eingriffen eine Leerstelle hinterlassen, in der sich die Gesellschaft wieder selbst organisieren kann und muss. In Gebieten, die der Kontrolle der großen zentralistischen Staatsgebilde entgleiten (ob durch eigene Vernachlässigung wie im Norden Syriens, oder weil sie militärisch verdrängt wurden, wie in Gebieten des Nordirak) haben sich Experimente gesellschaftlicher Selbstverwaltung entwickelt. Wenn die Organisierung des Staates geschwächt ist oder zurückgedrängt werden kann, hat die Gesellschaft die Chance, sich selbst zu organisieren und nach eigenen Maßstäben Welten aufzubauen. Die Richtungen sind nicht notwendigerweise demokratisch oder ethisch begründet, wie das Beispiel der Taliban in Afghanistan, das Anwachsen religiösen Fundamentalismus oder organisiertes Bandenwesen in Mittelamerika und anderswo vor Augen führen. Allerdings zeigen die Kämpfe demokratischer Kräfte wie indigene Widerstände in Lateinamerika, Bäuer_innenorganisierung in Asien und Afrika und die nicht-staatlichen sozialistischen Bewegungen wie die kurdische eindrucksvoll, was möglich wird, wenn sich Gesellschaften ein eigenes historisches Bewusstsein schaffen und in eigenen Strukturen das Leben und die Verteidigung organisieren. All diese Widerstände und Aufbrüche stellen den Kampf der demokratischen Moderne dar: die Notwendigkeit einer anderen Welt, die Überwindung der kapitalistischen Moderne.

In den Zentren des Westens der kapitalistischen Moderne, in Europa und Nordamerika, stellt sich die Frage des Aufbaus der demokratischen Zivilisation in anderer Form. Wie kann ein demokratischer, ein revolutionärer Aufbruch inmitten einer umfassenden Verwaltung durch staatliche Bürokratie vorangehen? Wie kann ein Leben organisiert werden, das die Unterordnung unter die Sachzwänge des Marktes überwinden muss? Wie den Betonwüsten, den Industriekomplexen und der Architektur der Entfremdung eine Welt der ökologischen und gesellschaftlichen Verbundenheit entgegensetzen?

Das 20. Jahrhundert endete für die revolutionären Kräfte innerhalb Europas durchaus traumatisch: Die Aufbrüche der anarchistischen Bewegungen, die sozialistischen und kommunistischen Parteien, die Friedens-, Protest-, Frauen-, Jugend-, ökologischen und nationalen Widerstandsbewegungen fanden keine Antworten, die der kapitalistischen Misere eine wirkliche gesellschaftliche Alternative hätten entgegensetzen können – mehr noch, viele Erfolge konnten vom System vereinnahmt werden, wurden von den Faschismen zerschlagen oder gingen in Staatssozialismen auf, die sich wieder gegen die eigenen Gesellschaften richteten. 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ist klar, dass das Ende der Geschichte ausgeblieben ist. Vielmehr ist seit den Jugendaufständen in Frankreich, England und Griechenland, den arabischen Revolutionen von Tunesien bis Syrien und der Revolution in Kurdistan eine chaotische Situation entstanden, die klarmacht, dass die bestehenden staatlichen und überstaatlichen Strukturen demokratische Lösungsprozesse behindern, und selbst nur mit autoritärem Krisenmanagement und Ausnahmezustand, Aufbau von paramilitärischen Repressionsstrukturen und faschistischen Banden sowie Abschottung nach außen reagieren. Eine wirkliche Lösung im Sinne der Gesellschaften kann auch in Europa und den großen parlamentarisch-bürokratischen Staaten nur durch die Schaffung eines widerständischen Bewusstseins, Aneignung der Initiative von unten und den Aufbau kommunalistischer Strukturen herbeigeführt werden.

So oder ähnlich ließen sich einige zentrale Thesen eines Vorschlages zusammenfassen, den einige Freund_innen als unsichtbares Komitee in ihrem Pamphlet »Der kommende Aufstand« 2007 unterbreiteten, das in der westlichen Welt für einiges Aufsehen sorgte. Von weiten Kreisen der klassischen Linken wurde es mit harscher Kritik und Feindseligkeit beantwortet, von Feuilletons entweder als nihilistische Weltuntergangsromantik, als bloße Provokation und kunstfertige Stilübung oder als bedenkliches, aber folgenloses Gedankenspiel abgetan.

Die Ansätze und Analysen des Komitees können dagegen aus Perspektive jener, die sich wieder selbst organisieren wollen, einen Schritt in Richtung eines neuen revolutionären Paradigmas und einer ganzheitlichen Perspektive für Europa darstellen; in Ausrichtung, Ideologie und Ziel dem neuen Paradigma Abdullah Öcalans und der PKK sehr ähnlich. »Der kommende Aufstand« stellt nicht ein isoliert stehendes Werk dar, sondern knüpft an Schriften an, die unter dem Namen »Tiqqun« bereits seit Mitte der neunziger Jahre erschienen sind. Der Name »Tiqqun« stammt aus der jüdischen Mystik, und bezieht sich auf die Einswerdung, Reparatur der Welt. Die Herleitung verweist auch auf eine Notwendigkeit revolutionärer Organisierung: gemeinsame Mythologie, Werte und Bezugspunkte. In verschiedenen Annäherungen nehmen sie in ihren Schriften eine tiefe philosophische und ideologische Analyse der Situation der westlichen Gesellschaften vor: unter anderem eine Analyse des Staates, seiner Geschichte und Mentalität (»Anleitung zum Bürgerkrieg«), eine Analyse der Regierungswissenschaft und postmodernistischer Staatsideologie (»Kybernetik und Revolte«), eine historische Annäherung an die und Kritik der revolutionären Erfahrungen der italienischen Autonomia-Bewegung der 80er Jahre und westlicher Feminismen (»Alles ist gescheitert, es lebe der Kommunismus!«) sowie eine Analyse der liberalen Persönlichkeit der westlich-kapitalistischen Staatsbürger_innen-Mentalität (»Theorie vom Bloom«): Der »Bloom« als das leere, losgelöste Wesen des Westens, das kein Begehren mehr kennt außer den kleinen Bedürfnissen und sich in seinem Individualismus von der Gesellschaft losgesagt und dem Nichts zugewandt hat.

2014 veröffentlichte das unsichtbare Komitee weitere Beiträge unter dem Titel »An unsere Freunde«, diesmal strategischer und praktischer ausgerichtet. Sie betonen, dass die kleineren und größeren Aufstände der letzten sieben Jahre zu Erfahrungen mit revolutionärer Selbstorganisierung geführt haben, einerseits, was konkrete Praktiken und Techniken der Selbstverteidigung und Selbsthilfe betrifft, wie sie die kurdische und andere Bewegungen seit Jahrzehnten entwickelt haben. Andererseits gab es in den letzten Jahren Widerstände, die einer anderen Logik als die großen idealistischen Projekte der sozialistischen Parteien und anarchistischen Gruppen folgten: lokale Kämpfe, regionale Widerstände gegen staatliche Infrastrukturprojekte und damit einhergehende kommunale Organisierung. Was sich als erfolgreich herauskristallisiert, ist für Europa nicht die große einheitliche Bewegung, wie es noch die kommunistischen Projekte am Anfang des letzten Jahrhunderts versuchten, sondern die Organisationsform des Kommunalismus. Denn im Grunde spielt sich in verschiedenen Gegenden innerhalb Europas etwas ab, das stark an die Situation des Mittleren Ostens erinnert: der Rückzug des Staates als flächendeckende Kontrolle und der Versuch punktueller Besatzungen, ähnlich den großen Staudamm-Projekten im Südosten der Türkei und anderen Regionen. So entstanden innerhalb der Metropole widerständische Territorien: das besetzte Gelände eines Großflughafens in Nordfrankreich, das Susa-Tal in Norditalien im Widerstand gegen eine Hochgeschwindigkeitsbahntrasse, das deutsche Wendland oder das französische Bure als Castor-Widerstandszentren, die kalifornische Oakland-Kommune, selbstorganisierte Dörfer und Kommunen in Andalusien und Katalonien, selbstverwaltete indigene Gebiete von Chile bis Mexiko. Die Betonung liegt dabei nicht darauf, revolutionäre Projekte in kleinen, abgeschotteten Gebieten aufzubauen, sondern vielmehr darauf, diese als strategische Ausgangspunkte mit einer großen Strahlungskraft und als Experimentierfelder der Selbstverwaltung zu nutzen, ähnlich dem, was die Medya-Verteidigungsgebiete, das Camp Maxmur oder die Kantone Rojavas für die kurdische Bewegung sind: Gebiete, in denen die Formen der Selbstverwaltung, Kommunikation und Verteidigung am stärksten ausgeprägt sind, und von denen ausgehend mit anderen Gebieten, Freund_innen und Gesellschaften Austausch und Unterstützung organisiert werden können.

Eine große Stärke liegt, abseits aller Analysen und großen Ideen, vor allem in der Art und Weise, der Ästhetik des revolutionären Gedankens und der Verbindung: Die gesellschaftliche Verbindung, aus der jede Selbstorganisierung, jeder Aufstand und jede Revolution geboren wird, ist die Ebene der Freund_innenschaft. Und so wendet sich das Komitee nicht an die Massen, die Gesellschaft als Einheit, sondern – in Kritik und Vorsicht gegenüber all den fehlgeschlagenen Versuchen kollektiver Organisierung in Europa – an die, die die Bereitschaft haben zuzuhören und sich der staatlichen Organisierung entziehen. An die Freund_innen. Wenn der Kapitalismus darauf basiert, die gesellschaftliche Basis anzugreifen, sind die wirkliche Verbindung, die geteilte Verantwortung füreinander und das gemeinsame Lösen von Problemen ein revolutionärer Akt, der sich mit anderen verbünden, zur Bewegung anwachsen kann – es tut, sobald die Wahrnehmung für die gesellschaftlichen Probleme geschärft ist, die sich im Leben aller im Kapitalismus spiegeln. Vor allem ist jede revolutionäre Initiative Ausdruck des Vertrauens von denen, die sich mehr aufeinander und auf ihre eigene Gesellschaftlichkeit beziehen als auf ihre individuelle Sicherheit und ihre Gebundenheit an das System.

Niemand kann in der kapitalistischen Metropole ohne einen gewissen Schutz überleben: der Schutz des unsicheren Versprechens der nahen Rente oder des Erfolgs, das Ausblenden der Realität, die Leugnung der eigenen Verantwortung, Erschaffen von Feindbildern, die Betäubung durch Drogen, Konsum und staatliche Ruhigstellung, Flucht in den Urlaub, die Arbeit, die Freizeit, den Selbstmord. Die Freund_innen des unsichtbaren Komitees schlagen einen anderen Weg vor: die Sicherheit der Selbstorganisierung, ein neues Experimentieren mit dem Schutz, den die Freund_innenschaft und die gesellschaftliche Verbundenheit bieten. Und so bilden die, die sich organisieren, eine neue Kaste von Verbündeten, die sich vom Staat zurückziehen, um sich die eigene Kraft der Problemlösung und Perspektivfindung anzueignen. Eine imaginäre Partei, notwendig dezentral und kommunalistisch organisiert und über ein gemeinsames Bewusstsein verbunden – durch eine Mythologie der Befreiung; und in der Lage, sich über das gegenseitige Erkennen, ihre Betroffenheit und die Notwendigkeiten zu verbünden. So weit wie die staatliche Verwaltung die Gesellschaften durchdrungen und kolonisiert hat, so kleinteilig und von unten muss der Aufbau der ethischen Gesellschaftlichkeit sich selbst organisieren, bis er zur Bewegung werden kann.

Literaturhinweise:

Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, bloom0101.org
Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde, Edition Nautilus 2015
Tiqqun: Anleitung zum Bürgerkrieg, Laika 2012
Tiqqun: Alles ist gescheitert, es lebe der Kommunismus!, Laika 2013
Tiqqun: Theorie vom Bloom, bloom0101.org
Tiqqun: Aufruf, bloom0101.org

Die im Text erwähnten Werke sind kostenlos im Internet in verschiedenen Sprachen verfügbar: http://bloom0101.org/