Das 12. Weltsozialforum (WSF) fand in diesem Jahr in Tunesien statt

... diesmal war vieles anders

Meral Çiçek

wsf 2015 meral cicek 1Das 12. Weltsozialforum (WSF) fand vom 24. bis 28. März 2015 in Tunis/Tunesien statt. Unter dem Motto »Eine andere Welt ist möglich« sind über 40 000 SystemkritikerInnen aus aller Welt angereist. Unter dem Hauptschwerpunkt »Würde und Rechte« fanden Hunderte Veranstaltungen zu aktuellen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Problemen und Lösungsansätzen statt. Diesmal, wie auch schon beim letzten Mal, war die Zahl der GlobalisierungsgegnerInnen aus Lateinamerika – wo 2001 das erste Weltsozialforum in Porto Alegre/Brasilien stattfand – eher niedrig. Dafür war die Mehrzahl der TeilnehmerInnen aus den benachbarten Maghreb-Ländern angereist. Kurdistan wurde vertreten von einer 12-köpfigen Delegation aus drei Teilen Kurdistans (Rojava, Nord- und Südkurdistan) sowie Europa. Neben mitorganisierten Veranstaltungen nahmen die TeilnehmerInnen der Kurdistan-Delegation auch als GastreferentInnen an einer Reihe von Veranstaltungen zu verschiedenen Themenbereichen teil.

Wir hatten natürlich erwartet, dass vor allem nach dem erfolgreichen Widerstand in Kobanê das Interesse an Kurdistan, vor allem Rojava und der kurdischen Frauenbewegung, groß sein würde. Aber dass wir auf so immenses Interesse stoßen würden, hatten wir ehrlich gesagt in der Form nicht erwartet. Allein schon die Tatsache, dass wir während der Assemblee der sozialen Bewegungen ohne irgendwelche komischen Blicke, geschweige denn Gegenreaktionen das Poster des kurdischen Volksführers Abdullah Öcalan auf die Bühne hängen konnten, sagt viel aus. Denn auch innerhalb der transnationalen Antikapitalismusbewegung ist der Einfluss der Kriminalisierungspolitik gegen die kurdische Freiheitsbewegung in der Person ihres Führers oft zu spüren. Doch diesmal war vieles anders.

Als kurdische Frauenbewegung haben wir auf dem WSF zur Rolle der Frau in der Revolution in Rojava, dem Frauenselbstverteidigungskonzept der Bewegung, Frauenbefreiungsideologie und Geschlechterkampf in Kurdistan, Errungenschaften der Frauenbewegung in Nordkurdistan, der Situation weiblicher politischer Gefangener in türkischen und iranischen Gefängnissen referiert. Überall bestand sehr großes Interesse, es wurde stark applaudiert, viele Fragen wurden gestellt und anschließend noch lange mit TeilnehmerInnen der jeweiligen Veranstaltung im Flur weiterdiskutiert.

Dieses bisher nicht dagewesene große Interesse von Menschen aus aller Welt ist natürlich ein Ergebnis des Widerstands von Kobanê, der dort und anderswo in Rojava und Südkurdi­stan an vorderster Front kämpfenden Frauen der YPJ sowie der Guerillakämpferinnnen der YJA-STAR. Erst der Widerstand gegen Angriffe des IS im August letzten Jahres in Şengal und Maxmur sowie ab September dann der historische Kampf in Kobanê haben dazu geführt, dass überall auf der Welt Menschen den Kampf der KurdInnen kennengelernt haben. Das Bild der jungen kurdischen Frauen in Uniform, mit geflochtenem Zopf und Kalaschnikow in der Hand, hat sich in vielen Köpfen eingenistet.

Der Widerstand gegen den IS in Kobanê sowie der Selbstverteidigungskampf der Kämpferinnen von YPJ und YJA-STAR hat natürlich die ideologische Hegemonie des kapitalistischen Systems an vielen Stellen nicht nur angegriffen, sondern zum Bröckeln gebracht. Beispielsweise die mit der Waffe in der Hand gegen sowohl Angriffe als auch den systematischen Feminizid des IS kämpfenden kurdischen Frauen haben das schwarz-weiße Bild der Frau in Kriegssituation, das sich auf Opfer- und Täterinnenbilder beruft, aufgelöst. Ebenso ist von sehr großer Bedeutung, dass ein sehr großes gesellschaftliches und politisches Spektrum weltweit das Recht der Völker auf Selbstverteidigung anerkannt und somit dem »Gewaltmonopol« des Staates die Legitimität entzogen hat. Dies sind nur einige der Gewinne des Widerstands in Kobanê für die Menschheit.

Das große Interesse, das dieser Kampf in Kobanê sowie die weibliche Revolution in Rojava geschaffen haben, gilt aber eben nicht dem Widerstand in Kobanê oder den Frauen der YPJ selbst. Dies ist die wichtige Erkenntnis aus dem WSF; dass das eigentliche Interesse der Wirklichkeit gilt, welche Kobanê und die Frauenrevolution hervorgebracht haben. Dies wurde umso deutlicher, als kaum eine der Dutzenden Fragen, die nach unseren Vorträgen in den einzelnen Veranstaltungen gestellt worden sind, sich konkret auf Kobanê und den bewaffneten Widerstand der Frauen bezog. Vielmehr ging es in den Fragen um das Staatsverständnis der kurdischen Freiheitsbewegung, Annäherung an Marxismus-Leninismus, Sozialismus und Kapitalismus, Frauenbefreiung, gesellschaftliche Transformation, Kommunalismus und Demokratischen Konföderalismus, Macht und Demokratie etc. Kurz: Im Zentrum des Interesses lagen Ideologie und Paradigma der Bewegung.

Auf Zusammenkünften wie dem Weltsozialforum finden wir gesellschaftliche Gruppen, die wir grob in zwei Kategorien einteilen können. Auf der einen Seite haben wir nationale Befreiungsbewegungen, wie beispielsweise die palästinensische Bewegung oder auch die baskische, sowie revolutionäre linke Bewegungen, die in ihrem eigenen Land für Umbrüche kämpfen. Auf der anderen Seite stehen systemkritische Bewegungen, die auf der Suche nach einer Alternative sind, wie beispielsweise antikapitalistische, feministische oder ökologische Bewegungen.

Beide zeigen gleichermaßen großes Interesse an der kurdischen Freiheitsbewegung. Erstere aufgrund eines Nichtweiterkommens, welches am Festnagen an einem Paradigma des 20. Jahrhunderts liegt und zur Überwindung ideologischer Neuerung bedarf. Letztere suchen nach Realisierung der von ihnen theoretisch ausgearbeiteten alternativen »anderen Welt«.

Die kurdische Freiheitsbewegung und von ihr umgesetzte Projekte im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus sind natürlich nicht perfekt und fehlerfrei. Sie bietet auch kein Modell, was einfach überall, in gleicher Weise, umgesetzt werden kann. Aber sie stellt ein Beispiel dar und sie inspiriert. Weil sie in Kobanê das, was niemand für möglich gehalten hatte, erreicht hat. Und weil sie mitten im Krieg nicht nur gegenkämpft, sondern zugleich auch aufbaut, inmitten all der Zerstörung etwas Neues erschafft.

Solche Erfolgsmomente brauchen die Menschheit und die universelle Front für ein anderes, würdevolles Leben. Würde Stefan Zweig leben, er würde wahrscheinlich die »Sternstunden der Menschheit« um ein Kapitel verlängern.

Eben deshalb haben wir auf dem WSF vorgeschlagen, dass das nächste Forum in Kurdistan stattfindet. Denn die Lokalität Kurdistans stellt heute eines der wichtigsten Zentren im Kampf gegen das System der kapitalistischen Moderne und für den Aufbau des Systems der demokratischen Moderne dar. Aus diesem Grund würde ein WSF in Kurdistan sowohl den GastgeberInnen (konkret dem Mesopotamischen Sozialforum) als auch den TeilnehmerInnen aus aller Welt den Grund für einen starken Austausch, der Theorie und Praxis in effektiver Weise miteinander verknüpft, bieten. Außerdem wäre dies ebenso ein starkes Zeichen für die Menschen, die gegen den IS Widerstand leisten, als auch an Kräfte, welche diese maskierte Bande der Dunkelheit unterstützen.

Unser Vorschlag ist für das nächste WSF, welches im August nächsten Jahres stattfinden wird, leider nicht angenommen worden. Das 13. WSF wird in Montreal/Kanada stattfinden. Aber trotzdem besteht die Möglichkeit für regionale oder thematische Foren, die in der Vergangenheit auch schon in Kurdistan durchgeführt worden sind. Und wer weiß, vielleicht findet dann das 14. WSF in Amed, der kurdischen Hauptstadt, statt. Die Zeit für solch eine Achsenverschiebung des WSF ist gekommen.