Was haben nun Theorie und Praxis der kurdischen Bewegung mit Anarchismus zu tun?

Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ...

Fragen des anarchistischen Podcast Frequenz A an Lea Basl

Was entsteht denn nun in Rojava und wo sind die anarchistischen Elemente?

Zunächst einmal stellt sich die Frage, was eigentlich anarchistisch ist. Ich denke nicht, dass es darüber eine klare Vorstellung gibt. Meine Verbindung entsteht darüber, dass ich die stärkste Systemanalyse in anarchistischen Ansätzen finde. Ebenso ist es beim Verständnis, was eigentlich Revolution sein kann.

Was haben nun die Theorie und Praxis der kurdischen Bewegung mit Anarchismus zu tun? Das geht einher mit der Überwindung des Staatsparadigmas. Das bedeutet, von der Idee abzuweichen, dass in der Schaffung eines eigenen, sozialistischen Staates die Befreiung aus kolonialer, rassistischer und sonstiger Unterdrückung liegt. Das ist eine Erkenntnis, die nicht einfach so vom Himmel fiel, sondern durch viele Opfer, Erfahrungen und Reflexionen entwickelt wurde. Darin stecken die ganze schmerzhafte Geschichte und Desillusionierung, die antikoloniale und sozialistische Bewegungen, nationale Befreiungsbewegungen und andere in den achtziger und neunziger Jahren durchlebt haben. Auch die kurdische Bewegung durchlebte diesen Bruch. Das Ende des Realsozialismus begründete die Suche nach neuer revolutionärer Praxis. Die neunziger Jahre waren geprägt von strategischen Veränderungen: Statt der militärischen Lösung durch langandauernden Volkskrieg stand nun die Suche nach einer politischen Lösung im Mittelpunkt. Die kolonialen Staaten antworteten mit einem grausamen Vernichtungskrieg.

Mit der Verschleppung Abdullah Öcalans 1999 bekam dieser Bruch eine neue Dynamik. Öcalan forderte in seiner Verteidigung kein unabhängiges Kurdistan, wie viele es vermutet hätten. Das war ein Schlag vor den Kopf für den kurdischen Nationalismus. Er bestand auf eine politische Lösung und forderte zum Rückzug der Guerillakräfte auf. Die Partei wurde im weiteren Verlauf aufgelöst und die Kräfte durchliefen eine intensive Bildungsphase. Die verschiedenen Geistesströmungen innerhalb der Bewegung kristallisierten sich heraus und es fand eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis statt. In dieser Phase war der Wille der Frauenbewegung von besonderer Bedeutung, der sich in den neunziger Jahren kontinuierlich gestärkt hatte.

Die Gefängnisschriften Abdullah Öcalans skizzierten ein neues Konzept gesellschaftlicher Befreiung und inspirierten die Neuorganisierung der Bewegung. Die Bewegung ist dabei nicht von ihrem Ziel abgewichen, dem Aufbau einer freien Gesellschaft. Die bisherigen Methoden stellten sich jedoch als nicht zielgerecht heraus. Diese Analyse ist auf nationale Befreiungsbewegungen anwendbar, ebenso wie auf Staatssozialismus und Sozialdemokratie. Diese sozialistischen Praktiken binden Befreiung an den Staat. Für die Selbstorganisierung der Gesellschaft jenseits von Staatlichkeit verwendet Abdullah Öcalan den Begriff Demokratie. Je mehr Staat, desto weniger Demokratie. Je mehr Demokratie, desto weniger Staat. Revolution ist der Prozess, in dem sich die Gesellschaft von der Staatlichkeit löst und wieder selbst organisiert.

Mit der Neugründung der PKK 2003 und Ausrufung des Demokratischen Konföderalismus 2005 hat sich die Bewegung entsprechend dieser Herangehensweise neu formiert. Im Mittelpunkt der revolutionären Praxis steht nun die demokratisch-konföderale Selbstorganisierung der Gesellschaft. In Kurdistan ist das organisatorisch gesehen die KCK, Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Selbstverteidigung. Die Bewegung spricht hier von der »Theorie der Rose«. Um ihre Schönheit zu entfalten und auch zu erhalten, hat sie ihre Dornen. So versteht auch die Demokratische Autonomie ihre Selbstverteidigung. Diese kann sowohl militärischer Art sein wie auch ideologischer, kultureller, ökologischer etc.

Wo liegen jetzt die anarchistischen Grundlagen? Die weitreichende Staatsanalyse und das Verständnis von freier Gesellschaft decken sich zu großen Teilen mit anarchistischen Ideen. Nicht zuletzt hat die Lektüre anarchistischer AutorInnen des Kommunalismus, insbesondere des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin, zu diesen Analysen und Selbstreflexionen beigetragen.

Die Praxis in Rojava entspringt aus dieser Ideologie. Die PKK ist seit den Achtzigern in Syrien präsent und hat die Gesellschaft dort geprägt und organisiert. Die KurdInnen in Syrien haben viel zur Stärke der Bewegung beigetragen und sich an den Kämpfen beteiligt. Auch sie erlebten den Wandel und seit 2005 wird dort intensive Organisierungsarbeit geleistet. Mit Beginn des Aufstands in Syrien konnte die Gesellschaft Westkurdistans mit einer eigenen Strategie mit dem entstehenden Machtvakuum umgehen. Jenseits der Regime- und der Oppositionskräfte entschieden sie sich für einen Dritten Weg: Aufbau einer demokratischen Gesellschaft sowie deren legitimer Selbstverteidigung, die sogenannte Demokratische Autonomie.

Die kurdische Bewegung in der BRD nehmen wir nicht unbedingt als anarchistisch wahr, doch derzeit häufen sich Berichte aus Rojava, die in der dort mitten im Krieg entstehenden Gesellschaft anarchistische Grundlagen beobachten. Wie geht das zusammen?

Wenn wir uns nun die kurdische Bewegung in Deutschland oder Europa allgemein anschauen, stehen wir an einem ganz anderen Punkt. Das spiegelt einerseits die gesellschaftliche Realität vor Ort wieder, andererseits ist es auch Ausdruck einer enormen Repression gegen jegliche Organisierungsarbeit. Das Leben im Exil ist mit einem gewaltigen Assimilierungsdruck verbunden. Kapitalismus und Liberalismus sind wie Opium für einen radikalen Charakter. Es hat dem Kontext hier entsprechend bisher nur ungenügende Theoriebildung gegeben, die die Grundlage einer revolutionären Organisierung bilden kann. Eine Bewegung muss Methoden entwickeln, die unter den vorliegenden Gegebenheiten und Umständen wirkungsvoll sind. Das ist hier nicht mit der Praxis in Kurdistan zu vergleichen. Insbesondere bei der Frauenorganisierung in Europa bewegen wir uns in einem Kontext, wo ein wirkungsstarker Mythos von Freiheit der Frau besteht. Entlang dieser patriarchalen Umdrehung hat sich bisher noch keine revolutionäre feministische Bewegung wieder formiert. Das beziehe ich auf jegliche feministische Bewegung in Europa, nicht nur die kurdische Frauenbewegung.

Ebenda greift auch die solidarische Kritik der kurdischen Bewegung an den anarchistischen Kräften, die als strategische Partnerinnen im Aufbau einer demokratischen Moderne gesehen werden. Der Anarchismus, der so radikal in seinen Analysen ist und in seinem Verständnis von Revolution, hat die dementsprechende Praxis bisher nicht entwickelt. Was bedeutet das, anarchistische Praxis?

Entschlossen und konsequent auf eine befreite Gesellschaft hinzuarbeiten. Die Methoden zu entwickeln, die Flexibilität zu beweisen und vor allem den Mut und die Opferbereitschaft, tatsächlich Revolution zu machen. Rojava ist ein Ort, an dem das angepackt und entwickelt wird. Es ist ein Ort, an dem tatsächlich anarchistische Ideen in der Praxis bewiesen werden. In Europa beispielsweise treiben Individualismus, Liberalismus und Staatsverbundenheit die Kräfte auseinander, die solche Prozesse potentiell anführen. Einen solchen Prozess hier zu ermöglichen, müssen die ideologischen und organisatorischen Werkzeuge entsprechend den Umständen hier entwickelt werden.

Dabei ist der Kontext zu beachten, dass Öffentlichkeit, Literatur und Organisierungsarbeit der Bewegung speziell in Deutschland seit den Neunzigern enorm kriminalisiert werden. Antiterrorliste und PKK-Verbot bieten dem Staat alle Werkzeuge der Repression. Insbesondere Bildungsarbeit der Bewegung wurde systematisch bekämpft. Familien leiden unter willkürlicher Kriminalisierung aufgrund ihrer kurdischen Identität, zusätzlich zum enormen Assimilationsdruck des Kapitalismus. Der Staat hat es also geschafft, die kurdische Gesellschaft von Selbstorganisierung abzuschrecken. Überall, wo Organisierungsarbeit an Dynamik zunimmt, schlägt die Repression zu. Vorladungen, Hausdurchsuchungen, Diskriminierung bei den Aufenthaltsbehörden und flächendeckende Überwachung stehen auf der Tagesordnung. Die Bewegung in Europa ist insbesondere in diesem Kontext zu verstehen.

Besonders der Bezug auf Öcalan wird in der deutschen Linken in der Regel mit Kopfschütteln wahrgenommen. Nun gibt es Texte, die das zu erklären versuchen, den Führerkult relativieren und darstellen, warum dieses Verständnisproblem auch an der Sozialisation liegen kann. Wir haben es trotzdem nicht kapiert – kannst du uns zum Abschluss noch einmal erläutern, wieso die kurdische Bewegung diese Leitfigur braucht? Oder ist dies vor allem in den Exilgemeinden präsent und in Kurdistan schon längst Geschichte?

Um dieses Phänomen zu verstehen, ist es notwendig, die Figur Abdullah Öcalan mit Inhalt zu füllen. Was ist seine Bedeutung für die kurdische Gesellschaft? Es ist notwendig zu verstehen, dass er revolutionäre Ideen entwickelt und mit vollem Einsatz an der Umsetzung dieser Ideen gearbeitet hat und arbeitet. Im Kontext des revolutionären Aufbruchs der sechziger, siebziger Jahre war das die Analyse, dass in Kurdistan koloniale Unterdrückung herrscht und ein kurdischer Befreiungskampf notwendiger Bestandteil sozialistischer Bestrebungen in der Türkei sein muss. Damit polarisierten er und die Kurdistan-RevolutionärInnen enorm, denn die sozialistischen Kräfte dieser Zeit taten den Kampf um kurdische Identität und Selbstbestimmung als Nebenwiderspruch ab. Trotz aller Repression hat die Gruppe der »Kurdistan-RevolutionärInnen« an ihrer Überzeugung festgehalten und einen enormen antikolonialen Befreiungskampf geschaffen. Die Bewegung ist der Grund dafür, dass die Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Identitäten und Lebensformen Kurdistans heute lebendiger ist denn je. Jahrzehntelang haben eine Verleugnungs- und Assimilationspolitik sowie Vernichtungskriege zur aggressiven Homogenisierung der Gesellschaft nach der türkisch-nationalistischen Idee von »einer Nation, einer Flagge, einer Religion, einer Sprache« geführt.15.-Februar-Demonstration in Amed | DIHA

Abdullah Öcalan und die ständig wachsende Gruppe von »Kurdistan-RevolutionärInnen« haben Zehntausende persönlich überzeugt und überall den Glauben an Befreiung von kolonialer Unterdrückung gepflanzt. Mit dem Erfolg der Bewegung stehen sein Bild und sein Name für den Glauben an Befreiung und Revolution.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Abdullah Öcalan ein politischer Gefangener ist. Seine Symbolkraft ist auch in diesem Kontext zu verstehen. Für die Gesellschaft stehen er und all die AktivistInnen, die beim Aufbau der Bewegung ihr Leben gelassen haben, für die Entschlossenheit, eine freie Gesellschaft zu verwirklichen. Dass er 1999 in einem internationalen Komplott verschleppt und an die Türkei ausgeliefert wurde, dass er medienwirksam gedemütigt und vorgeführt wurde, dass er hingerichtet werden sollte, dass er seit sechzehn Jahren auf einer Gefängnisinsel festgehalten und gefoltert wird, all das sind äußerst gewichtige Faktoren, die das Bestehen auf dieser Symbolik erklären.

Natürlich ist auch der Kontext der Betrachterin oder des Betrachters entscheidend. In jedem Kontext gibt es unterschiedliche Assoziationen mit »Führung«. Im Kontext antikolonialer Befreiung ist das anders als zum Beispiel im Kontext eines faschistischen Nationalismus. In ersterem Falle gab es immer Personen, deren Lebensweg für die Überwindung rassistischer Denkstrukturen und ein neues Selbstbewusstsein »der Verdammten dieser Erde« stand. Wer beispielsweise durch Kurdistan reist, wird überall Bildern Abdullah Öcalans begegnen, ebenso wie von Symbolfiguren der vielen kurdischen Aufstände. Außerdem Bildern vieler, die im Gefängniswiderstand der Achtziger ums Leben kamen, oder Heval Agits, der die erste bewaffnete Aktion leitete, anderer Guerilla-KämpferInnen und vieler Frauen, die bedeutend für den Aufbau der Frauenbewegung waren.

Die zentralistische Organisierungsform des Marxismus-Leninismus zu überwinden, hin zu einer Graswurzelorganisierung, einer demokratisch-konföderalen Selbstorganisierung der Gesellschaft – das ist ein langfristiger Prozess, eine ständige ideologische Auseinandersetzung. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Neustrukturierung der Bewegung. Abdullah Öcalan kritisiert sowohl die Mystifizierung seiner Person als auch das Abwälzen und somit Zentralisieren von Entscheidungen und Verantwortung auf ihn. Für Individuum und Gesellschaft, die vom vorherrschenden Staatsparadigma geprägt sind, bedeutet der revolutionäre Prozess zunächst einmal zu lernen, sich wieder selbst zu organisieren und ebendiese Verantwortung und Initiative keinen Dritten zu überlassen.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass in der Geschichte stets auch Persönlichkeiten revolutionäre Ideen entwickelt und formuliert haben. Ihre Schriften sind und waren von enormem Einfluss und verändern das Bewusstsein ganzer Gesellschaften. Teilweise sind sie zu ihrer Lebenszeit zu Symbolfiguren der gesellschaftlichen Emanzipation geworden, teilweise erst nach ihrem Tod. Die Schriften Abdullah Öcalans sind von solcher Tragkraft für revolutionäre Theorie und Praxis, sie beinhalten wertvolle Kritiken und Beiträge für die sozialistische Praxis. Sie bilden eine einzigartige Synthese sozialistischer, anarchistischer und feministischer Ideen und Erfahrungen, auch eine tiefgehende Kritik von deren Eurozentrismus. Diese bilden einen wichtigen Beitrag zur weltweiten Demokratiebewegung. Im Mittleren Osten ist der Aufbruch spürbar, getragen durch diesen neuen, »demokratischen Sozialismus«.

Frequenz A, Anarchistischer Podcast: http://frequenza.noblogs.org/