Für den Wiederaufbau von Kobanê braucht es jegliche Unterstützung

Ein Kampf für die Menschheit

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V., 18.02.2015

Am 26. Januar vermeldete Idris Nassam, stellvertretender Außenminister des Rojava-Kantons Kobanê, die Befreiung der Enklave. 135 Tage nach dem Beginn der Großoffensive des sogenannten Islamischen Staates (IS) verdrängten ihn die widerstandleistenden Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) aus der Stadt. Tags zuvor war der strategisch äußerst wichtige Hügel Girê Kanî zurückerobert worden, auf dem der IS schwere Artillerie stationiert hatte, die sein Vorrücken aus dem Stadtviertel Kanîya Kurdan ins Zentrum absicherte. Gemeinsam mit den YPG, YPJ, Peschmergaeinheiten, den FSA-Brigaden Sems El-Semal und Suwar El Rakka, zahlreichen freiwilligen internationalen Kämpferinnen und Kämpfern zelebrierten Tausende in die Stadt zurückgekehrte Menschen die Befreiung Kobanês (Ain al-Arabs).

Indessen häuften sich Stimmen aus der Türkei, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Es handelt sich dabei wahrhaftig um eine tragische Komödie. Auf der einen Seite hatte der türkische Staatspräsident im Oktober über Wochen hinweg erklärte, dass Kobanê im Begriff stehe zu fallen und die Invasion des Islamischen Staates nicht mehr aufzuhalten sei. Adressatin dieser Behauptungen war nicht die Bevölkerung der Türkei. Erdoğan, der selbst anlässlich von Gastauftritten in Europa auf eine Übersetzung seiner Ansprachen verzichtet, richtete seine ins Arabische übersetzte Rede an die Menschen in Syrien und die syrischen Flüchtlinge im Publikum. Dabei versäumte er es keinesfalls, exzessiv zu betonen, dass er in den Widerstandleistenden in Kobanê die größte Gefahr und die gefährlichsten TerroristInnen sehe.1 Ironischerweise war es dann der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der einen Tag vor der Verkündung der Befreiung Kobanês auf einem Städteparteitag seiner Partei AKP in Amed (Diyarbakır) die Widerstandleistenden in Kobanê grüßte: »Ich küsse allen meinen Brüdern und Schwestern aus Kobanê die Stirn«,2 so Davutoğlu in Bezug auf diejenigen, in denen Staatspräsident Erdoğan die »größten TerroristInnen« sieht, die die Türkei mit allen Mitteln bekämpfen müsse.

Am 03.02.2015 gab der IS offiziell seinen Rückzug bekannt. Sein bisheriger Mythos, unbesiegbar zu sein, ist gebrochen. Trotz waffentechnischer und zahlenmäßiger Unterlegenheit, trotz Umzingelung durch IS und Embargo der Türkei haben die KurdInnen bewiesen, dass sie in der Lage sind, die von ihnen verwalteten Gebiete gegen jeglichen Angriff zu verteidigen. Ein weiterer und bedeutender Schritt in Richtung [offizieller] Status ist getan. Dieser Schritt ist sehr wichtig, denn das von der Bevölkerung Rojavas repräsentierte Gesellschaftssystem, im Vergleich zum Status der KurdInnen als Volksgruppe, spielt in diesem Kontext die eigentliche Rolle. Dieses Gesellschaftssystem, das sich in Form der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus artikuliert, ist es, das konträr zu den strategischen Interessen der hegemonialen Kräfte des Weltsystems und somit im Widerspruch zu diesem steht.

Kobanê wurde nahezu vollständig zerstört | DIHADie Hegemonialmächte versuchen, das Projekt Demokratische Autonomie im Mittleren Osten auf die unterschiedlichste Art und Weise zu blockieren oder zumindest zu behindern. Denn der Mittlere Osten steht erneut an einem historischen Scheideweg.

Die Behauptung, die charakteristischen Merkmale dieses historischen Moments ähnelten denen der Phase nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, ist hier sogar unzureichend. Wurde durch die Verträge von Sèvres bis Lausanne eine Neuaufteilung des Mittleren Ostens beschlossen, damit eine Integration in das europäische Weltsystem vollzogen, ist derzeit vielmehr eine Transformation des Weltsystems mit mehreren unterschiedlichen Zentren zu verzeichnen. Im Gegensatz zur Ära des Kalten Krieges, in der zwei verschiedene Ideologien und politische Systeme um die Vorherschaft kämpften, ringt stattdessen eine Vielzahl diverser Akteure unterschiedlicher Gattung (u. a. auch konfessioneller und nichtstaatlicher) um die Bestimmung der neuen Weltordnung.

Einen Aspiranten für die Neugestaltung der Ordnung im Mittleren Osten stellen der Demokratische Konföderalismus und die damit verbundene Demokratische Autonomie dar. Für diese Idee steht die kurdische Freiheitsbewegung und sie findet ihre praktische Umsetzung in Rojava. Im Kontext der Demokratischen Autonomie wurde auch der Begriff der Demokratischen Nation entwickelt, die nichts mit einem zentralistischen, nationalistischen Staat gemein hat. Dieses Konzept findet in Rojava seine Realisierung. Im Rahmen der Kantonalverwaltungen der Rojava-Administration findet jede konfessionelle, ethnische und andere gesellschaftliche Gruppierung ihre politische Repräsentanz. Jedem Mitglied der Gesellschaft wird die direkte und aktive politische Partizipation am politischen Leben in Form der Volksräte, die ebenso in autonome Frauen- und Jugendräte unterteilt sind, ermöglicht.

Dieses Modell und die Überzeugung, ein besseres, demokratisches Leben für die Bevölkerung der Region zu schaffen, machen eine der Wurzeln aus für den unbeugbaren Widerstandswillen der Bevölkerung von Rojava und Kobanê gegen die Angriffe aller Feinde, seien sie nun das Regime oder der IS.

Azime Deniz, eine der Kommandantinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), erklärte am 18.02.2015 gegenüber der Presse, dass die vollständige Befreiung Kobanês, samt seiner umliegenden Dörfer, nicht mehr lange dauern würde: »Wir drängen den Feind an allen drei Fronten zurück. Dennoch ist der IS bestrebt, unsere Befreiungsoperation zu stoppen. In kürzester Zeit werden wir die vollständige Befreiung Kobanês verkünden können.«3

Nach der Befreiung der Stadt ist es nach wie vor schwer hineinzugelangen. Die Türkei öffnet nur sporadisch ihre Grenze zu Kobanê. Martin Glasenapp von der Menschenrechts- und Hilfsorganisation medico international gelangte als eine der wenigen ausländischen Personen nach Kobanê. Er berichtete der internationalen Presse, dass Kobanê zwar frei, aber nahezu völlig zerstört sei. Vor allem Krankenhäuser und medizinische Versorgungseinrichtungen würden dringend benötigt. Aber auch die Infrastruktur sei völlig zerstört. Daher bitte die Kantonalverwaltung die vielen Zehntausend Flüchtlinge, die auf der türkischen Seite der Grenze auf ihre Rückkehr nach Kobanê warten, sich noch etwas zu gedulden. Außerdem würden die vorhandenen Nahrungs- und Wasservorräte nicht mehr für den Monat Februar ausreichen. Um die sowieso prekäre humanitäre Lage nicht weiter zu verschlimmern, müsse die Grenze zur Türkei geöffnet werden.4

Idris Nassan erinnert daran, dass Kobanê trotz Befreiung weiterhin von allen Seiten vom IS umzingelt sei. Nur durch einen freien Zugang über die Türkei könne die Möglichkeit zum Wiederaufbau der Stadt gewährleistet werden. Weiter appelliert er an die internationale Gemeinschaft: »Der IS hat überall Sprengfallen gelegt. Außerdem sind viele uranangereicherte Sprengkörper nicht explodiert. Es bedarf internationaler ExpertInnenteams, die sie entschärfen und entsorgen.« Zudem sei bisher niemand von den UN oder einer sonstigen internationalen Organisation der Staatengemeinschaft in Kobanê gewesen.5

Schon am 10. Oktober 2014 hatte Staffan de Mustura, der UN-Gesandte für Syrien, erklärt, dass Kobanê mit einer schrecklichen Gefahr konfrontiert sei. Anschließend appellierte er in Genf an die Türkei, ihre Grenze zu öffnen, damit kurdische KämpferInnen nach Kobanê gelangen könnten, um ein Massaker an der kurdischen Bevölkerung zu verhindern. Dieser Aufruf folgte einem ähnlichen Appell von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon.6 Dem hat sich die Türkei bekanntlich verweigert und ließ nur ein minimales Kontingent südkurdischer Peschmerga unter großen Schikanen durch die Türkei nach Kobanê ziehen.

Interessant ist jedoch, dass sich die UN nach der Befreiung Kobanês bei der Unterstützung seiner Bevölkerung äußerst reserviert verhalten. Was sowohl Äußerungen in Richtung Kobanê als auch insbesondere praktische Unterstützung angeht. Während die UN und die ihr angehörenden Hilfsorganisationen als einzige Instanzen die Möglichkeit hätten, die türkisch-syrische Grenze zu passieren, ist von ihnen keinerlei Initiative in dieser Hinsicht zu verzeichnen. Obwohl es zum Selbstverständnis der UN-Hilfsorganisationen gehört, in Krisengebieten humanitäre Hilfe zu leisten, ziehen sie die Bewertung von Satellitenbildern einem persönlichen Erscheinen in der Region vor.7

Doch Kobanê hat bewiesen, dass die KurdInnen in Rojava dazu fähig sind, sich gegen jeglichen Angriff zu verteidigen. Denn sie sind nicht erst seit Kobanê Angriffen dschihadistischer Gruppen ausgesetzt. Seit mehr als drei Jahren wird die Region von mehreren Seiten und Kräften angegriffen. Die Befreiung Kobanês haben die KurdInnen mit einem hohen Blutzoll bezahlen müssen. Die seelischen Wunden werden die Menschen noch lange tragen. Die KurdInnen haben in Kobanê nicht nur für sich selbst gekämpft. Sie haben einen Stellvertreterkrieg geführt für die gesamte Menschheit und die Werte unserer heutigen Zivilisation. Es ist das Mindeste, dass die internationale Gemeinschaft nun beim Wiederaufbau der Stadt hilft und ihrer Verantwortung nachkommt. In diesem Sinne gilt die Einladung des französischen Staatspräsidenten François Hollande an die Delegation aus Kobanê von Anfang Februar als positiv zu bewerten. Es gilt, die Zeit, in der nur über KurdInnen gesprochen wurde, hinter sich zu lassen, sie sind samt ihren legitimen VertreterInnen anzuerkennen.

Fußnoten:

1 http://www.hurriyet.com.tr/gundem/27342780.asp

2 http://www.cnnturk.com/haber/turkiye/basbakan-davutoglu-kobaniye-selam-ediyorum

3 http://yeniozgurpolitika.info/index.php?rupel=nuce&id=39269

4 http://www.spiegel.de/politik/ausland/kobane-nach-islamischer-staat-terror-deutscher-helfer-im-interview-a-1016964.html

5 http://civaka-azad.org/kobane-bereits-200-doerfern-befreit-francois-hollande-empfaengt-pyd-und-ypj-paris/

6 http://www.sueddeutsche.de/politik/kampf-um-koban-un-gesandter-warnt-vor-massaker-wie-in-srebrenica-1.2167622

7 http://www.unitar.org/unosat/node/44/2161