6. Fachtagung von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e.V.

»Genozide im Nahen Osten und Wege zur Aussöhnung – Regionale Autonomie als Modell für Demokratie und Frieden«

Emel Engintepe (Mitglied des Vorstands von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V.)

6. Fachtagung von Kurd-AkadDie 6. Fachtagung von Kurd-Akad. Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e. V., die am 31.01.2015 in Dortmund stattfand, richtete zum einen ihren Blick auf die Analyse der historischen Wurzeln anhaltender Ethnozide im Nahen Osten. Zum anderen wurde erörtert, welche Wege aus den Konflikten herausführen könnten, um die Bevölkerung vor weiteren Gewaltexzessen, ob nun durch hegemoniale Staatskräfte oder auch islamistische Söldnertruppen ausgeführt, langfristig zu schützen. Ohne einen grundlegenden Politikwechsel, regional wie international, fern von konfessioneller und ethnischer Polarisierung, gibt es wenige Chancen auf friedliche und demokratische Lösungsprozesse.

Die Fachtagung befasste sich im Rahmen von zwei Foren mit den in der Vergangenheit durchlebten Genoziden im Nahen Osten sowie den Möglichkeiten zur Aufarbeitung der Verbrechen und der Aussöhnung. Im ersten Forum lag der Fokus insbesondere auf den Genoziden an den Armeniern und den Dersim-Aleviten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber auch auf dem aktuellen Massaker an den Êzîden von 2014. Das zweite Forum widmete sich den gegenwärtigen Modellen von regionaler Autonomie als Möglichkeit zur Sicherung von Frieden und Demokratie. Anhand zweier Beispiele wurden Alternativen jenseits von nationalistischen, religiös-fundamentalistischen und patriarchalen Vorstellungen vorgestellt. Dabei standen auf der einen Seite die durch Wahlerfolge errungenen Kommunalverwaltungen sowie der Aufbau basisdemokratischer Strukturen in Nordkurdistan (Osttürkei) und anschließend die in »Rojava« (Nordsyrien) neu errichteten föderalen Selbstverwaltungsstrukturen in Kantonen im Mittelpunkt. Mithilfe einer abschließenden Podiumsdiskussion wurden anhand der Ergebnisse aus den Analysen der Genozide und der betrachteten alternativen Modelle Perspektiven für den Nahen Osten besprochen.

Von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft blicken!

Genozide im Nahen Osten:
Die systematischen und genozidalen Verbrechen im Osmanischen Reich und der türkischen Republik

Wir haben uns in dieser Fachtagung der Auseinandersetzung mit historischen Genoziden und Gräueltaten gegenüber Ethnien und konfessionellen Minderheiten im Nahen Osten gewidmet, um einen Beitrag zur Aufarbeitung der Verbrechen zu leisten. Die Redebeiträge des ersten Forums stimmten darin überein, dass die Geschichte des Nahen Ostens von Herrschaft, Unterdrückung, aber auch Widerstand geprägt ist.
Während seines Zerfallsprozesses im 19. Jahrhundert setzte das Osmanische Reich verstärkt auf die Zentralisierung und Islamisierung seiner Herrschaftsgebiete. Im Zuge dieser unaufhaltsamen Auflösung Anfang des 20. Jahrhunderts und in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg wurde der Nationenbegriff der Jungtürken zunehmend auf die sogenannte türkisch-sunnitische-Synthese zugespitzt, die keine anderen Ethnien, Konfessionen und Ideologien neben sich duldete. Verfolgung, Vertreibung, Massaker und Völkermord auch an ihren einstigen Unterstützern (Armenier und Kurden) sind die Produkte der von den Jungtürken propagierten rassistischen Überlegenheit der Türken.
Das größte Verbrechen unter der Verantwortung der Jungtürken ist der Völkermord an den Armeniern. Prof. Dr. Dabag rief in Erinnerung, dass dieser Völkermord an den Armeniern stets verleugnet wurde und zu keinem Zeitpunkt Raum zur Trauer bot. Der Völkermord sei im Namen eines eingeengten »vatan«-Begriffs (Heimat) durchgeführt worden, der die Nation als türkisch-nationalen Raum verstehen und einen Besitz- und Erbanspruch über Generationen hinweg sichern wollte. Außer den Armeniern seien auch alle anderen Nicht-Muslime, wie Aramäer und Griechen, als »unintegrierbar« zum Ziel einer nationalen Vernichtungspolitik erklärt worden.

Mit Prof. Dr. Kiesers Ausführungen, dass einige regionale antichristliche Kräfte in Kurdistan radikalisierend auf das »Komitee für Einheit und Fortschritt« (Ittihat ve Terakki Cemiyeti) gewirkt und sich sowohl politische als auch wirtschaftliche Interessen gesichert hätten, stellt sich die berechtigte Frage nach der kurdischen Mittäterschaft an dem Völkermord an den Armeniern. Denn diese Akteure bildeten den radikalen Kern vor Ort, der christenfeindliche Ressentiments schürte, die schließlich in eine Gewalt- und Vernichtungspolitik mündeten. Die Armenier wurden Opfer eines Völkermordes mit Schauplatz in den Ostprovinzen. Ihre Hinterlassenschaften an Eigentum und Besitz wurden den Regionalgouvernements der Ostprovinzen übereignet. Zu einer Aufarbeitung der Verbrechen und Enteignungen kam es bis heute nicht.

Aber auch in der frühen Geschichte der Republik Türkei, der Nachfolgerin des Osmanischen Reiches, kam es zu Repressionen und Verbrechen gegen weitere Bevölkerungsteile. Zunächst wurde vor allem die verbliebene nichtmuslimische Bevölkerung des Osmanischen Reiches, wie etwa die Griechen, verfolgt und massakriert oder auch umgesiedelt, so etwa beim Bevölkerungsaustausch von 1923 zwischen griechischem und türkischem Staat.

Vor dem Hintergrund der Erörterungen von Dr. Mehmet Bayrak ist von einer historischen Kontinuität der Vernichtungspolitik auszugehen. Bayrak verwies darauf, dass die Kemalisten nicht nur den türkisch-sunnitischen Nationalismus fortgeführt, sondern dies unter Anwendung der jungtürkischen Methoden ethnisch-konfessioneller Säuberung vollzogen hätten.

Als mit den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg angesichts der Aufteilung der osmanischen Gebiete in Mandatsgebiete durch die europäischen Besatzer die Kurdenfrage aufkam, konzentrierten sich die staatlichen Homogenisierungsmaßnahmen auf die Kurden, so Bayrak. Hierbei spielte es für die Kemalisten keine Rolle, dass der Großteil der kurdischen Bevölkerung, genau wie sie, sunnitische Muslime waren. Vielmehr reagierten die Kemalisten darauf, dass die Bestrebungen der Kurden zur Selbstbestimmung ihr türkisch-nationalistisches Projekt in Gefahr bringen würden.

Die in der Verfassung der türkischen Republik von 1924 festgeschriebene islamische und türkische Staatsdoktrin wurde von den Kurden nicht widerstandslos hingenommen. Es folgte eine Welle von Aufständen, die sogenannten Ararat-Aufstände. Bayrak führte aus, dass mit dem »Reformplan für den Osten« (Şark Islahat Planı) das systematische Vorgehen gegen den kurdischen Widerstand festgelegt wurde. Unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands sah dieser Plan Maßnahmen der Assimilation vor, zu denen Deportationen, Umsiedlungen und Massenmorde gehörten. Mit diesem Plan wurde die Kurdenfrage dem Militär unterstellt, was noch bis in die nahe Gegenwart spürbar ist. Im Rahmen dieses Reformplanes ereignete sich das Dersim-Massaker an den Kızılbaş-Kurden. Dieses Massaker stehe für den Beginn der Aleviten-Verfolgung in der Türkei, die sich bis zur Gegenwart fortsetzen sollte. Im Laufe der Zeit habe sich das staatliche Vorgehen insofern geändert, als die anfänglich auf militärischen Mitteln basierende Verfolgung der Aleviten zunehmend auf faschistoide Trägerschichten verlagert worden sei.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Gegenwart

Am aktuellen Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit an êzîdischen Kurden durch den Islamischen Staat (IS) im Nordirak zeigt sich, dass das Konzept vom Nationalstaat auch in der Gegenwart noch auf Methoden von ethnischer Säuberung, Verfolgung und Versklavung zurückgreift. Dr. Şefik Tagay betonte, dass das Schweigen über und die Verleugnung von Verbrechen dieser Art ein friedliches Zusammenleben auf Jahrzehnte zerstöre. Die Angriffe auf die Êzîden in Şengal, bei denen 7 000 Êzîden massakriert, 5 000 Frauen verschleppt und 40 000 Êzîden zur Flucht gezwungen wurden, beweisen die fehlende Daseinsberechtigung der Êzîden. Tagay forderte von allen nationalen und internationalen Regierungsorganisationen, eine Verantwortung für Schutz, Wiederaufbau und Prävention zu übernehmen. Darüber hinaus müsse die Frage nach der Sicherung von Selbstbestimmungsrechten für die Êzîden beantwortet werden.

Im Falle der Verfolgung und Vertreibung der Êzîden im Staatsgebiet des Iraks lassen sich erneut Kontinuitäten wiedererkennen, die aus dem unzureichenden Verständnis einer Staatsnation resultieren und deren Bürger daher dem Terror von Söldnertruppen widerstandslos aussetzen.

Wege zur Aussöhnung:

Die Aufarbeitung und Bewältigung der Verbrechen aus der Vergangenheit
Die in der Fachtagung zur Sprache gebrachten Verbrechen aus der Vergangenheit des Nahen Ostens sind kaum in Ansätzen aufgearbeitet, was benennbare Gründe hat. In Anlehnung an Prof. Dr. Sancar hat dieses Defizit zuallererst damit zu tun, dass der türkische Staat befürchte, in seinen Grundfesten, wie seinem Entstehungsmythos, erschüttert und einer Neuordnung des Staatssystems ausgesetzt zu werden. Daher hätten sich der Staat und seine Mittäter aus den Reihen der Gesellschaft auf bestimmte Strategien geeinigt, um sich vor Strafverfolgung zu schützen. Dazu gebe es Argumentationslinien, die von der Leugnung der Fakten bis zur Relativierung und Verharmlosung der Verbrechen reichen.

Die Bestrebungen, die Gesellschaft zu homogenisieren, konnten, laut Sancar, nur unter Gebrauch der Techniken sozialer Manipulation, politischer Manipulation und der Manipulation der kollektiven Erinnerung (kollektives Gedächtnis) umgesetzt werden.

Hinzu käme, dass gerade der Völkermord an den Armeniern auf der einen Seite ein systematisches und staatlich organisiertes Verbrechen war, doch auf der anderen Seite, wie Prof. Dr. Kieser in ähnlicher Weise anmerkt, auf der Beteiligung breiter regionaler Bevölkerungsteile basierte. Die Aussicht auf Plünderungen, die Verteilung der Beute, die Aneignung von Besitz und Eigentum seien die stimulierenden Faktoren hierfür gewesen, was bestimmte kurdische Bevölkerungskreise zu Mittätern mache. Eine Konfrontation der beteiligten Menschen und Familien mit diesen Wahrheiten erfordere Mühe und ein rückblickendes Schuldeingeständnis. Auch Kieser erklärt, dass das Erbe des Völkermordes an den Armeniern damit auf den Kurden laste, er würdigt aber zugleich, dass einige Kurden in den letzten Jahren versöhnliche Schritte gewagt haben, wie etwa der Politiker Ahmet Türk von der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der sich öffentlich für die Verbrechen an den Armeniern und assyrischen Christen durch Kurden entschuldigt hat.

Erste Ansätze einer Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern seien in jüngster Zeit in der Türkei ins Rollen gebracht worden, so Sancar. Auch wenn sich die Initiativen zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern noch in ihren Anfängen befinden, so sei doch sicher, dass die Türkei und ihre Gesellschaft sich den anstehenden Fragen zu stellen haben.

Im Laufe der Podiumsdiskussion wurde das Augenmerk auf den zukünftigen Umgang mit dem damals erfolgtem Raub von armenischem Besitz und Eigentum, dessen Konfiszierung und Übereignung, gerichtet. Eine angemessene Aufarbeitung und eventuelle Wiedergutmachung durch Entschädigungen oder gar Rückführungen werde eine besondere Herausforderung für alle Beteiligte darstellen.

Sancar verwies darauf, dass die ereignis- und individualgeschichtliche Aufarbeitung von Genoziden zur Versöhnung zwischen den Ethnien und Konfessionen beitragen könne. Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung von Genoziden und der Versöhnung von Tätern und Opfern müsse der Blick auch für Präventionsmöglichkeiten geschärft werden, um Genozide erst gar nicht entstehen zu lassen. Zu ihrer Abwendung bedürfe es zunächst eines Gesellschaftskonzepts, das der ethnischen und religiösen Pluralität durch rechtliche Absicherung Rechnung trägt. Ein solches Konzept, das sich dem statischen Verständnis von Homogenität widersetze, finde sich aktuell in dem Modell Rojava.

Regionale Autonomie als Modell für Demokratie und Frieden:

Lösungskonzepte und aktuelle Versuche ihrer Umsetzung
Reimar Heider, Vertreter der Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«, betonte, dass die kurdische Bewegung in den letzten Jahren die vergangenen, aber auch die in die Gegenwart reichenden Genozide, Massaker und Repressionen gegen Nicht-Muslime und von der Staatsdoktrin abweichende Ethnien, Konfessionen und Ideologien stark reflektiert habe. Aus dieser Reflexion heraus habe sie ein Bild einer befreiten Gesellschaft geschaffen, das auf Vorstellungen einer ethnisch, religiös und genderneutralen Ordnung basiere, die im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus mit Selbstverwaltungsstrukturen auf Grundlage einer Demokratischen Autonomie umzusetzen sei.

Dieses Gesellschaftsmodell wurde von Abdullah Öcalan im Kontext seiner »Roadmap« als ein Lösungsmodell für die Neuordnung des Nahen Ostens konzipiert. Die ernüchternden Erfahrungen aus den postkolonialen, realsozialistischen, aber auch sozialdemokratischen Staaten hätten einen Paradigmenwechsel vom Nationalstaat hin zum Demokratischen Konföderalismus nötig gemacht. Ein nennenswerter Teil der Staaten des Nahen Ostens (Türkei, Irak, Iran, Syrien) würde, wie auch von Kieser und Sancar erläutert, ihre Nation auf eine Sprache, eine Ethnie und homogene staatsloyale Bürger reduzieren und damit Intoleranz gegenüber gesellschaftlichen Unterschieden forcieren.
Öcalan nenne vier parallel verlaufende Handlungswege, um eine freiheitliche und staatsfreie Ordnung einer pluralistischen Gesellschaft zu schaffen: Es müsse eine demokratische Republik mittels in der Verfassung verankerter Demokratisierungsmaßnahmen, eine demokratische Autonomie von territorial flexiblen Selbstverwaltungen mit verschiedenen Gruppenvertretungen (z. B. Frauen, Jugend, Religionen) und auch Wirtschaftsmodellen, die sich basisdemokratisch über Rätestrukturen beteiligen, ein demokratischer Konföderalismus als dezentrale Kooperation der verschiedenen Selbstverwaltungen und eine demokratische Moderne als alternatives Gesellschaftsmodell von beispielsweise kommunal und regional organisierten sozialen Wirtschaftsformen aufgebaut werden.

Föderale Strukturen in Westkurdistan (Rojava)

In der Osttürkei und in Nordsyrien sind Versuche der Umsetzung des von Öcalan inspirierten Lösungsmodells zu beobachten. In Nordsyrien erleben wir derzeit den Aufbau von föderalen und wehrhaften Selbstverwaltungsstrukturen, die das bisherige enge Staatsverständnis durch ein alternatives Modell von regionaler und demokratischer Autonomie aufbrechen.

Der seit einigen Jahren anhaltende Bürgerkrieg in Syrien habe sich, so Sheruan Hassan, außenpolitischer Sprecher der PYD-Europa (Partei der Demokratischen Union), an ethnischen und konfessionellen Linien entzündet, die durch den Nationalismus und Zentralismus der Baath-Regierung zu Konflikten geschürt worden waren. Hassan betonte, dass die PYD intendiert, in Rojava (kurdisch: Westen) einen dritten Weg jenseits von nationalstaatlicher oder islamistischer Interessenpolitik einzuschlagen, um das »Zeitalter der Nationalstaaten« zu überwinden. An dem regionalen Selbstverwaltungssystem Rojavas würden nicht nur die Kurden, sondern auch alle anderen Bevölkerungsgruppen beteiligt werden. Konkret habe man in den Kantonen Cizîrê, Afrîn und Kobanê Selbstverwaltungsstrukturen mit geschlechterparitätischem Führungsmodell eingeführt und Volks- sowie Frauenhäuser errichtet, die mittels Delegierter aus allen gesellschaftlichen Bereichen an der Selbstverwaltung teilhaben.

Demokratische Selbstverwaltung in Nordkurdistan

Auch in einigen Kommunen Nordkurdistans (Osttürkei) finden sich seit 2009 Umsetzungsbeispiele für die Installation von demokratischer Selbstverwaltung. Zu diesem Zwecke wurden basisdemokratische Volksräte für diverse Bevölkerungsgruppen eingerichtet und durch den »Demokratischen Kongress der Völker« (HDK) auf die ganze Türkei, vor allem auf die Metropolen und Großstädte, ausgeweitet. Daraus entstand schließlich ein Zusammenschluss zu einer Partei, der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi – HDP).

Der erste assyrisch-christliche Abgeordnete des türkischen Nationalparlaments seit Jahrzehnten, Erol Dora, gewählt über das Wahlbündnis der HDP, wies im Rahmen seiner Analysen über die Defizite moderner Nationalstaaten auf die ungelöste Verfassungsfrage in der Türkei hin. Seit Anbeginn der Republik habe es keine verfassungsrechtliche Verankerung von Minderheitenrechten gegeben, so dass gemäß staatlichem Homogenitätsverständnis die Verfolgungen, Gräueltaten und Repressionen beispielsweise gegenüber Nicht-Muslimen ungehindert ihren Lauf nehmen konnten.

Die Defizite der demokratischen Verfasstheit der türkischen Republik als Nationalstaat seien auch in anderen internationalen rechtsstaatlichen Sphären spürbar. So seien zwar die UN-Konvention der Menschen- und Bürgerrechte ratifiziert, Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union im Gange und durch die Kopenhagener Kriterien konkret gelenkt, doch mangele es an der Umsetzung der durch die türkische Regierung unterzeichneten Abkommen. Die Kopenhagener Kriterien fordern explizit die Stärkung regionaler und kommunaler Strukturen der Beitrittskandidaten. Dieser Ansatz sei vergleichbar mit den durch die Demokratische Partei der Völker (HDP) formulierten Zielen, funktionierende Selbstverwaltungsstrukturen zur Partizipation und Integration regionaler Akteure zu schaffen. Die zentralistische Regierung konterkariere jedoch jedwede dahingehende Bemühung.

Auch für die HDP sei maßgeblich, dass das Nationen- und Demokratieverständnis grundlegend neu definiert werden müsse, um das bisherige repräsentative Modell mit der Wahl von Abgeordneten durch regionale, somit basisdemokratische Vertretung zu ersetzen. Dieses Bedürfnis der Gesellschaft sei nicht nur in kurdischen Ostgebieten allgegenwärtig, sondern auch in den Westprovinzen der Türkei. Das hätten die Gezi-Park-Proteste in Istanbul aus dem Jahre 2013 bestätigt, als die Bewohner des Stadtviertels gegen den aus der Landeshauptstadt gelenkten Bau eines Einkaufszentrums auf dem innerstädtischen Parkgelände auf die Barrikaden gegangen seien. Tatsächlich richtete sich die Protestbewegung nicht nur vordergründig gegen das Großbauprojekt, sondern vielmehr gegen die von der AKP-Regierung vorangetriebene Privatisierung kommunaler Kultureinrichtungen und die daraus resultierende Gentrifizierung des Stadtteils.

Fazit

Die Aufarbeitung der genozidalen Verbrechen aus der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinreichen, erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit den historisch gewachsenen Kausalitäten nationalstaatlicher Konzepte einer homogenen und staatstreuen Bevölkerung. Für die betroffenen und beteiligten Bevölkerungsgruppen vor Ort muss die Frage ihrer Mitschuld und Mittäterschaft an vergangenen Verbrechen beantwortet werden, was insbesondere für die Kurden von besonderer Tragweite sein wird.

Zur Bewältigung und Aussöhnung sollten Prozesse des Dialogs und der Annäherung, aber auch Prozesse zur institutionellen Aufarbeitung auf den Weg gebracht werden. Dazu sind insbesondere Verfahrensweisen für einen langfristigen Umgang mit den gewaltsamen und illegitim erfolgten Konfiszierungen und Übereignungen zu bestimmen, woraus schließlich Formen der Wiedergutmachung und Entschädigungen entwickelt werden müssten.

Zur zukünftigen Gestaltung einer demokratischen und friedlichen Gesellschaftsordnung müsse die Partizipation der von Ausgrenzung und Benachteiligung betroffenen sowie von Gewalt bedrohten Gesellschaftsgruppen rechtlich und politisch gesichert werden.

Eine Stärkung von Selbstbestimmungsmechanismen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (Geschlechter, Ethnien, Konfessionen usw.) in den Kommunen und Regionen könne als Präventionsmaßnahme gegen zentralstaatliche Willkür und Gewalt wirken.

Die Fachtagungsredner waren sich überwiegend darin einig, dass die Gesellschaft jenseits von Staats- und Machtsphären eigeninitiativ in föderale Strukturen von Selbstverwaltungseinheiten umgewandelt und darüber hinaus durch basisdemokratische Rätestrukturen abgesichert werden sollte, wie in den aktuellen Vorbildern Rojavas und der nordkurdischen Kommunen vorgelebt, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Regionen und ihrer Bevölkerung gerecht zu werden.

Eine ausführliche Dokumentation der Redebeiträge ist auf der Internetseite von Kurd-Akad www.kurd-akad.com zu finden.