medyaZwanzig Jahre als Internationalistin und Gesundheitsarbeiterin in Kurdistan

Mehr Möglichkeiten, die eigenen Vorstellungen umzusetzen

Interview mit der Internationalistin Hevala Medya in Qandîl

Im Mai 1993 machten sich InternationalistInnen auf den Weg in die Berge Kurdistans, unter ihnen auch Medya. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. In Qandil traf ich Doktor Medya, wie sie hier liebevoll von der Bevölkerung genannt wird, nach langer Zeit wieder. In der Gemeinde Binari Qandil arbeitet sie in einer selbstorganisierten Krankenstation und ist auch im Gemeinderat aktiv tätig.

 

Heval Medya, kannst Du Dich noch daran erinnern, wie wir vor zwanzig Jahren losgezogen sind; was fällt Dir ein, wenn Du daran zurückdenkst?

Aufregung, ich habe mich doll gefreut, dass es endlich losgeht. Ich hatte schon ein Jahr vorher losgewollt, aber irgendwie nicht den richtigen Weg dorthin gefunden. Und dann sollte es endlich losgehen. Ich hatte eine feste Entschlossenheit zu gehen und auch zu bleiben.

Mittlerweile sind zwanzig Jahre vergangen, eine lange Zeit; was waren die tiefsten Einschnitte oder Entwicklungen in dieser Zeit?

Ich hatte die Vorstellung, dass alle, die zur Guerilla kommen, es eigentlich ideologisch voll drauf haben, alles wissen und eben aus dieser Überzeugung, das Leben opfern zu wollen, um der gerechten Sache beizustehen. Da musste ich aber feststellen, dass das gar nicht so ist, dass es eine Volksbewegung ist. Eine Volksbewegung beinhaltet auch, dass Menschen teilnehmen, die irgendwas ändern möchten, die mit etwas nicht zufrieden sind oder aus Rachegefühlen gekommen sind, weil der Bruder getötet oder jemand aus der Familie gefoltert worden ist. Das sind auch Gründe, warum Menschen hier an der Guerilla teilnehmen. Und dann kommt es so, dass Menschen aus verschiedensten Hintergründen herkommen und alle zusammen und alle aus völlig verschiedenen Klassen, aus verschieden Farben und Orten, mit verschiedenen Kulturen, und alles kommt zusammen, und sich da erst einmal einzufinden, damit mit diesem Gemisch mit unterschiedlichen Sachen Einklang zu finden, ist erst einmal nicht leicht, aber wenn man dann sieht, dass es dann doch klappt, wenn es auch hier oder da zu Konflikten kommt oder irgendwie mal etwas nicht zusammenpasst …

Was waren das denn für Probleme?

Zum Beispiel Vorurteile gegeneinander oder andere religiöse Hintergründe in der Kultur, es gibt ja auch Kulturunterschiede, die überwunden werden müssen, wo jede/r die eigenen Werte als die richtigen empfand und die der anderen falsch. Da stoßen dann so Gegensätze aufeinander und das wird dann in Tagesauswertungen überwunden oder mit Ausbildungseinheiten, wo erst mal die Werte der Organisation dargestellt werden, vorgestellt wird, was, welche Werte, welcher Bezug aus der Gesellschaft heraus wachsen.

Hast Du Dir hier das Leben so vorgestellt?

Ich hatte eigentlich eine sehr vage Vorstellung, ich hätte es mir auch nicht so vorstellen können, schon, dass es lange dauern wird, viele haben damit Schwierigkeiten, weil sie meinen, dass es nicht so lange dauern würde, wir werden kämpfen, wir werden sterben, also auch kein richtiges Ziel …

Also das Sterben war das Ziel und nicht das Gewinnen?

Ja, nicht nur, aber dabei sein, etwas zu machen, was verändern, aber eben so lange, wie es geht. Da hatten viele nicht die Aussicht, dass sie vielleicht sogar noch ein Ziel erreichen, um es auch erfahren zu können.

Du hast ja relativ schnell Deine Arbeit im Guerillakrankenhaus aufgenommen; wenn Du Dich an damals erinnerst und es mit heute vergleichst, was ist da anders geworden?

Da hat sich vieles geändert. 1993, das war die Zeit des ersten einseitigen Waffenstillstands der PKK, als wir in Botan angekommen sind, und trotz des Waffenstillstands gab es aber Operationen und Luftangriffe. Bei einem Luftangriff haben wir uns nach Elkê (Beytüşşebap) zurückgezogen, wo eine neue Verteilung der Kräfte stattfand, und dadurch, dass niemand etwas in der Region dort von medizinischer Versorgung verstanden hat, es schwierig war, jemand zu finden, der oder die sich für die Gesundheitsversorgung dort verantwortlich fühlte oder was machen wollte. Das war der Ausgangspunkt für mich, da kann ich was machen, da können wir etwas aufbauen. Es war für mich der Punkt, damit anzufangen, und in der Operation, das muss man sich mal vorstellen, die Mittel, die wir hatten, waren eine Plastiktüte mit einer angebrochenen Binde, einer Tablette und etwas Kaliumpermanganat, das war es dann auch.

Gab es viele ÄrztInnen bei der Guerilla?

Es gab schon welche, drei bis vier gab es im Hauptquartier von Botan, aber auch in allen anderen Regionen gab es FreundInnen, die mal ´ne Spritze geben konnten oder einen Verband anlegen …

Gab es Krankenstationen?

Ja, die Krankenstation, wir kamen im Sommer dort an, das war so ein schöner Platz unter einem Baum, auf der Plastikplane lagen noch Wolldecken und das war dann das Krankenhaus.

Und heute?

Und heute haben wir richtige Krankenhäuser …

In allen Gebieten oder nur in Qandîl?

Nicht nur in Qandîl, sondern auch in anderen Gebieten, aber in Qandîl ist ein größeres, das Zentrum, es ist stufenweise. In jeder militärischen Einheit gibt es mindestens eine/n, der oder die Erste Hilfe machen kann, und dann gibt es in jedem Gebiet ein Krankenhaus, kleine, aber welche, die auch stationär aufnehmen und die erste Stufe der medizinischen Versorgung durchführen können. Und wenn eine weitere Versorgung dort nicht möglich ist, dann können sie den Fall nach Qandîl schicken, wo es mehr Möglichkeiten gibt. Hier gibt es auch schon technische Geräte wie Ultraschall, Röntgen, Labore, und da geht es schon weiter, und wenn das nicht reicht, dann gibt es noch weitere Möglichkeiten in den Städten.

Das heißt, dass Operationen nicht durchgeführt werden können?

Doch, kleine schon. Wir wollen das aber weiter ausbauen.

Momentan läuft ja mit der Türkei ein sogenannter Friedens- und Lösungsprozess, kannst Du ihn einschätzen? Glaubst Du, dass es zu einem gerechten Frieden kommen kann?

Es könnte zu einem gerechten Frieden kommen, es liegt eigentlich mehr an unserer eigenen Kraft, an der Kraft des kurdischen Volkes, als daran, ob die Türkei etwas macht oder nicht. Das ist der wichtige Punkt, die Bevölkerung muss sehen, dass sie ihr eigenes System aufbaut. Sie muss sich auf allen Ebenen, sozial, politisch, ökologisch, militärisch, auf allen Ebenen muss sie sich aufmachen und für das Land und die Menschen, für das eigene System verantwortlich fühlen, aktiv mit aufbauen. Wenn wir jetzt darauf warten, dass die Türkei irgendwann ein Demokratiepäckchen öffnet, was im Moment ziemlich leer aussieht, das hält uns nur hin und bringt uns nicht weiter.

In dieser Region ist relativer Frieden, die Waffen schweigen momentan. Auch wenn wir wissen, dass die Türkei hier jederzeit wieder Angriffe fliegen kann. Gibt es hier in Qandîl den Aufbau der Demokratischen Autonomie so, wie es für die Gebiete Kurdistans vorgesehen ist?

Hier gibt es diesen Aufbau, hier kann man z. B. den Gemeinderat sehen, der es hier mit aufbaut, er ist ein Teil der Bevölkerung, der von der Bevölkerung gewählt wird …

Sind hier alle Parteien vertreten oder nur die PÇDK [Partei für eine Demokratische Lösung in Kurdistan]?

Nicht alle hier sind PKKler, einige sind AnhängerInnen der PDK [Demokratische Partei Kurdistans], von Goran oder der PUK [Patriotische Union Kurdistans], einige der islamischen Partei. Sie sind im Gemeinderat. Alle werden einmal im Jahr gefragt, welche Forderungen sie haben, was wollt Ihr, was soll die Gemeinde für Euch machen? Jedes der 52 Dörfer von Qandîl hat seine eigenen VertreterInnen, die können das dann in den dreimonatlichen Versammlungen weiter ergänzen, wenn neue Forderungen gekommen sind, und dann wird in der dreimonatlichen geplant, was wir denn nun umsetzen können und wollen, wofür wir von außen Unterstützung benötigen und wer wo Hand anlegen muss. Es ist für die Bevölkerung ein Lernprozess, in dem sie lernt, sich selbst zu verwalten, mitzuwirken und selbst zu gestalten, etwas zu verändern, Neues zu formen …

Und das tut sie auch aktiv?

Nein, das lernt sie, sie sind immer noch so, lass die FreundInnen mal machen, wir stellen nur die Forderungen, lass die mal machen. Es ist ein Lernprozess, es geht nicht durch einen Beschluss, dafür werden Versammlungen gemacht, dafür muss aufgerufen werden, dafür muss Zeit gegeben werden, dass der Prozess gelernt werden kann.

Gibt es etwas, das die Bevölkerung besonders fordert?

Brücken, Moschee, was so kostspielige Dinge sind. Das ist für uns natürlich sehr schwierig, da wir nur geringe finanzielle Mittel besitzen.

Gibt es hier Schulen  für die Kinder?

Wir haben zwei Schulen aufgebaut. Aber es fehlt uns zum Beispiel eine Mittelschule, eine weiterführende Schule. Hier gibt es nur die Grundschule; Eltern, die ihre Kinder auf eine Mittelschule oder ein Gymnasium schicken wollen, müssen von hier wegziehen. Das ist ein richtiges Problem.

Noch eine Frage zum Zusammenleben hier. Du hattest gesagt, dass hier die Bevölkerung politisch sehr unterschiedlich ist, gibt es viel Streit untereinander? Hier fahren Autos durch mit Apo-Fahnen, an einigen Häusern hängen Fahnen mit Talabani drauf oder der PDK, gibt es deswegen Reibereien oder handfeste Auseinandersetzungen untereinander?

Nein, eigentlich nicht. Es kommt schon mal vor, dass die einen die Wahlplakate der anderen abreißen, das ist dann nicht so schön. Es gibt auch Leute von der PDK, die andere unter Druck setzen wollen, dass sie z. B. an unserer Arbeit nicht teilnehmen sollen, oder dass sie eben nicht aktiv sein sollen bei unseren Aktivitäten.

Gibt es da so etwas wie eine Polizei aus dem Volk, die solche Konflikte regelt? Oder wie werden Konflikte hier geregelt?

Es gibt eine Kommission für die Beziehungen der Bevölkerung untereinander, wo auch geschlichtet wird, wo die Konfliktparteien zusammenkommen und diskutieren, um einen Lösungsweg zu finden.

Werden Strafen ausgesprochen? Gibt es so etwas wie Gefängnisse?

Es gibt schon eines, wenn es schwere Verstöße gegeben hat, bis zur Untersuchung des Falles.

Das Gericht ist gewählt, das über den Fall tagt?

Es ist so, dass die Bevölkerung zusammengerufen wird. Dann wird der Fall diskutiert, dann hört man sich an, was der oder die Beschuldigte dazu sagt, und dann kann die Bevölkerung was dazu sagen. Dann wird gemeinsam beschlossen, was gemacht werden kann. Das Ganze wird geleitet von einem gewählten Diwan, einem Podium, das dann auch letztendlich entscheidet.

Noch einmal zurück, Du bist jetzt zwanzig Jahre hier, bist hier als Internationalistin gekommen, es gibt Neue, die in die Berge kommen, was denkst Du darüber, dass immer wieder Neue aus anderen Ländern, aber auch besonders viele aus Deutschland kommen?

Ich finde es erst einmal gut. Es gab mal eine kleine Pause, was die Neuankömmlinge aus Deutschland angeht, aber in der letzten Zeit nehmen wieder neue InternationalistInnen teil, das freut mich sehr. Es könnten noch mehr sein. Die KCK ist ja keine Organisierungsform für KurdInnen, es geht darum, ein System weiterzuentwickeln, das menschlicher ist, ein menschenwürdiges Leben zu gestalten, und da gibt es auch Anknüpfungspunkte für Deutsche oder EuropäerInnen etc.

Ich glaube, die Frage erübrigt sich: Würdest Du dieses Leben hier gegen ein Leben in Deutschland wieder eintauschen wollen?

Nein, mit einem Wort: nein.

Was sind die nächsten Ziele für Dich?

Ich arbeite im Gesundheitsbereich. Da gibt es viel Arbeit, nicht nur im Krankenhaus. Meine Zeit ist immer viel zu kurz. Ich würde mich gern mit anderen ÄrztInnen austauschen, mit anderen zusammen weiterentwickeln. Mir liegt es auch am Herzen, die neuen Schriften von Abdullah Öcalan ins Deutsche zu übertragen, aber das lässt meine Zeit leider nicht zu. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, da liegen wir noch ganz weit zurück, es gibt noch weitere Schriften, die sehr, sehr wichtig sind …

Die nicht nur für KurdInnen wichtig sind?

Ja, das wollte ich gerade sagen, die auch für Europa ganz, ganz wichtig sind …

Was heißt das, für Europa wichtig sind?

Ja, weil der Sozialismus analysiert wird, der Kapitalismus wird analysiert, und dies ist sehr interessant für die Menschen in Europa. Man lebt drin, die Werte, die wir haben, werden hinterfragt. Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen.

Du hattest mich gefragt, warum ich nicht mehr nach Deutschland gehen möchte – weil man hier in Kurdistan die Möglichkeit hat, das eigene Leben selbst zu gestalten.

Aber Du bist doch ebenso äußeren Zwängen ausgesetzt, oder?

Ja, das sind wir überall, äußeren Zwängen sind wir überall ausgesetzt, aber hier haben wir mehr Möglichkeiten, das umzusetzen, was man sich eigentlich vorstellt.

Und wie läuft das im Alltag? Du hast z. B. die Idee, ein neues soziales Zentrum aufzubauen, was machst Du dann?

Dann entwickle ich ein Projekt, muss ich mir überlegen, von wem oder wie dabei Hand angelegt werden kann, wie es finanziert werden kann, an wen man sich wenden kann, und dann wird das organisiert. Ich kann das dann mit einem Rapport oder bei einer Konferenz vorschlagen, und wenn es dann akzeptiert wird, dann kann es umgesetzt werden. Natürlich muss dran gearbeitet werden, um es verwirklichen zu können. Es liegt vor allem daran, wie aktiv man selbst ist, um etwas aufzubauen.

Welchen Stellenwert hat hier die Ökologie?

Ökologie hat hier einen großen Stellenwert. Wir fangen erst einmal klein an, müssen mit vielen Kleinigkeiten kämpfen, weil das Bewusstsein noch nicht in der Bevölkerung entwickelt werden konnte. Und auch in der Bewegung selbst.

Ich bin hier an einem schönen Haus mit Garten angekommen und habe gedacht, hier müsste so etwas wie ein Musterdorf aufgebaut werden, die Häuser mit eigener Energie, ohne Stromleitung quer durch die Natur, die die Landschaft verschandeln, aber das ist ein unrealistischer Traum, oder?

Es ist ein ferner Traum. Die Menschen hier in Südkurdistan kennen noch keine Sonnenenergie und das muss erst mal eine Realität hier bekommen. Wenn es mal so ein Gebäude geben sollte und sich die Menschen hier das ansehen und sich davon überzeugen könnten … Denn es gibt in Kurdistan nichts mehr als Sonne, die hier gut genutzt werden könnte. Allein ein Eimer Wasser, der morgens in die Sonne gestellt wird, ist mittags warm und kann zum Waschen genutzt werden.