Die kurdische Frauenbewegung und der Islamische StaatZwei gegensätzliche Systeme in Kobanê

Die kurdische Frauenbewegung und der Islamische Staat

Dilar Dirik

In den vergangenen Wochen ist durch die akute Situation in Kobanê der Widerstand der Kurden – vor allem der der kurdischen Frauen – gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) ins Licht der Medien gerückt worden. Orientalistische Auffassungen haben sich natürlich sehr simplifizierender Analysen bedient.

Die Parole »Die Dschihadisten haben Angst vor kurdischen Frauen, weil sie, wenn sie von Frauen getötet werden, nicht in den Himmel kommen« wiederholt sich heutzutage in fast jedem Artikel oder jeder Reportage. Natürlich banalisiert das die Komplexitäten des Widerstands der kurdischen Frauen gegen das ultrapatriarchale System des IS.

Einerseits war es natürlich höchste Zeit, dass die Weltöffentlichkeit endlich die kurdische Frauenbewegung kennenlernt. Doch andererseits eignet sich nun der Mainstream – und sogar Modezeitschriften – den Überlebenskampf kurdischer Frauen für seine Zwecke an. Statt sich mit den radikalen Implikationen auseinanderzusetzen, die der Widerstandskampf kurdischer Frauen vor allem angesichts der feudal-patriarchalen Strukturen Kurdistans ausmacht, exotisieren viele diese Frauen als mysteriöse Amazonen, ohne ihre politischen Motive zu betrachten. Vielen soll auch aufgefallen sein, dass ausländische Reporter oft Frauen für Interviews aussuchen, die sie für besonders attraktiv halten.

Doch hinter dem Kampf kurdischer Frauen steckt viel mehr als nur eine militärische Schlacht gegen eine mörderische Mentalität: In vielerlei Hinsicht ist der Islamische Staat das genaue Gegenteil der kurdischen Frauenbewegung. Man kann davon sprechen, dass sich zurzeit vor allem in Kobanê nicht nur zwei unterschiedliche Kampfparteien gegenüberstehen, sondern zwei komplett polare Gedankensysteme und Weltverständnisse.

Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass der IS explizit einen Krieg gegen Frauen angesagt hat. Er nutzt sexuelle Gewalt als systematisches Kriegsmittel durch Verschleppungen, Zwangsehen, Vergewaltigungen und Sexsklaverei. Er instrumentalisiert Religion für seine Zwecke und beutet den Begriff der »Ehre«, der in der Region vor allem um den Körper und die Sexualität von Frauen formuliert wird, aktiv aus. Beispielsweise weiß er, dass viele Frauen wenn sie vergewaltigt worden sind, von ihren Familien abgelehnt werden. Die Dschihadisten wissen, dass sie dadurch religiöse und ethnische Gemeinden »verunreinigen«. Allein in Şengal wurden tausende êzîdische Frauen verschleppt, vergewaltigt und auf Sexsklavenmärkten verkauft oder Dschihadisten als Kriegsbeute geschenkt. Diese systematische Zerstörung von Frauen ist ein explizites Kriegsmittel, eine spezielle Form der Gewalt: Feminizid.

Der mörderische IS mit seinen monopolistischen, hegemonialen, ultrapatriarchalen und repressiven Absichten und Aktionen verkörpert in vieler Hinsicht das System der kapitalistischen Moderne. Der IS ist zudem ein Produkt der kapitalistischen, patriarchalen internationalen Ordnung selbst. Durch ungerechte Kriege im Nahen Osten, fabrizierte Islamophobie, die Ausbeutung sektiererischer Konflikte und der natürlichen Ressourcen in der Region wurde überhaupt erst der Nährboden für die Entstehung des IS geschaffen.

Viele sind der Meinung, man solle den IS nicht als «Staat« bezeichnen, weil es ihm Legitimität verschaffen würde. Doch der IS findet das Konzept des Staates anreizend und man sollte sich fragen weshalb. Abgesehen davon sollte man nicht auf die Idee reinfallen, das Staatensystem habe sich durch »zivilisierten, modernen Fortschritt« entwickelt. Viele Nationalstaaten haben sich ebenso brutal, faschistisch und gewaltsam wie der IS etabliert.  

Der IS wird oft als rückständig bezeichnet. Ohne Zweifel greift er zu sehr primitiven schrecklichen Ideen und Handlungen. Doch viele der Methoden und Mechanismen des IS sind Kopien der dominanten nationalstaatsorientierten, kapitalistischen, patriarchalen Weltordnung, die im Jahr 2014 überall auf der Welt herrscht. In vielerlei Hinsicht ist der IS eine extremere Version der Gewalt an Frauen überall auf der Welt, der Welt, die als fortschrittlich betrachtet wird. Der IS bedient sich derselben Mechanismen der Rückständigkeit des globalen Patriarchats und seiner kapitalistischen Ausdrücke.

Vor kurzem hat der IS sogar schamhaft und stolz verkündet, dass er Frauen vergewaltigt, verschleppt und als Kriegsbeute oder Sklavinnen verkauft hat. Sexuelle Gewalt wird bewusst und gezielt als systematisches Kriegsmittel benutzt, um den Gegner zu »dominieren« und zu »erniedrigen«. Diese Handlungen basieren auf patriarchalen Vorstellungen von Macht und Gewalt.
Die kurdische Frauenbewegung hingegen möchte, als zentraler Bestandteil der Freiheitsbewegung in Rojava, ein alternatives System erschaffen, das den Weg der demokratischen Moderne einschlägt, basierend auf Ökologie, der Gleichheit und Zusammenarbeit der verschiedenen Volks- und Religionsgemeinden und der Befreiung der Frau. Indem diese Prinzipien als Kernbestandteile eines bedeutsamen Verständnisses der Freiheit betrachtet werden, möchte man nicht nur die äußere Struktur des Systems verändern, sondern ebenfalls die Mentalität der Gesellschaft. Das Ziel ist ein Konzept der Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, jenseits der Primitivität des Patriarchats und des Nationalstaates, der kapitalistischen Wirtschaft und hegemonialer Macht.  

fdgdgdfgdgdDenn die kurdische Frauenbewegung weiß, dass Freiheit alle Elemente des Lebens beinhalten muss. In vielen Freiheitsbewegungen wurden nämlich Frauenrechte »nach der Befreiung, nach der Revolution« vergessen, da sie nicht als Priorität betrachtet wurden. Aus diesem Grund ist die Befreiung der Frau ein zentrales Element im Widerstand in Rojava und es ist auch keine Überraschung, dass viele Frauen in der Region, wie Araberinnen, Turkmeninnen, Armenierinnen und Assyrerinnen, sich den Verteidigungskräften und auch der Administration in Rojava anschließen.

In Kobanê wird also ebenfalls diese Alternative angegriffen, weil sie den Status quo herausfordert. Es ist auch interessant, dass die Rojava-Kantone von Anfang an stärker marginalisiert wurden als der IS. Die türkische Regierung steht offen dazu, diese Bewegung als ebenso terroristisch wie den IS zu betrachten.

Der IS brutalisiert Frauen nicht nur physisch, sondern versucht auch, alles, wofür die Frauenbewegung steht, zu zerstören. Kurdische Frauen, die vor dem Widerstand gegen Assad und den IS gegen patriarchale, frauenfeindliche Regimes gekämpft haben, aber ebenso gegen das Patriarchat in der eigenen Gesellschaft, sind in der Tat der ultimative Feind eines Systems, das für Gräueltaten wie das Abhacken von Köpfen Andersgläubiger 72 Jungfrauen im Himmel verspricht. Nicht weil sie dem IS militärisch-waffentechnisch überlegen sind, sondern weil ihre Ideologie, ihr Freiheitskampf das Potential hat, die Hegemonialansprüche des IS komplett zu zerstören.

Nur politische Mobilisierung und soziale Emanzipation, begleitet durch bewaffnete Selbstverteidigung, können eine lang­anhaltende, nachhaltige transformative gesellschaftliche Kraft sein, die der IS-Mentalität entgegenwirkt. Aus diesem Grund ist der Widerstand der kurdischen Frauen nicht nur militärisch ein existentieller Kampf gegen den IS, sondern eine politische Haltung gegenüber der patriarchalen sozialen Ordnung. Und es ist diese Haltung, die trotz der über Wochen anhaltenden Prophezeiungen, Kobanê würde jeden Moment fallen, die Stadt aufrechterhalten hat.

Es ist sehr gemütlich, kurdische Frauen nun als sympathische Feinde des IS zu porträtieren, ohne die Prinzipien, die ihrem Widerstand zugrunde liegen, anzuerkennen. Es hilft den furchtlosen Frauen Kurdistans nicht, exotisiert und romantisiert zu werden, wenn ihre politischen Ziele, vor allem jetzt in Kobanê, nicht unterstützt werden oder nur gelegen kommen, wenn es um den Kampf gegen den IS geht. Wertschätzung dieser Frauen sollte nicht nur ihrem militärischen Kampf gegen den IS gelten, sondern ebenfalls ihrer Politik, ihrer Motivation und Vision. Wer die mutigsten Feinde des IS ehren will, sollte damit beginnen, den Widerstand in Kobanê zu unterstützen, und die Kantone Rojavas offiziell anerkennen!


Dilar Dirik ist Doktorandin an der Universität Cambridge mit wissenschaftlichem Schwerpunkt auf der kurdischen Frauenbewegung. Auf ihrem Blog »Jin, Jiyan, Azadî« finden sich weitere Texte von ihr.