Zuhal Ekmez, Kobürgermeisterin von PîrsûsInterview mit Zuhal Ekmez, der Kobürgermeisterin von Pîrsûs (Suruç)

Den würdevollen Widerstand unterstützen

Dersim Dağdeviren

Wie viele Flüchtlinge/Menschen aus Rojava befinden sich derzeit in Pîrsûs? Kommen neue hinzu?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass der Begriff Flüchtlinge für die Menschen aus Rojava nicht angemessen ist. Denn wir sind die Kinder derselben Erde. Pîrsûs und Kobanê sind trotz der errichteten Grenze eins [die Städte liegen, durch die türkisch-syrische Grenze getrennt, nah beieinander].

Um uns einen Überblick zu verschaffen, haben wir in den Dörfern und Straßen Kommissionen eingerichtet. Diese haben in Pîrsûs etwa 60000 Menschen aus Rojava gezählt. Diese Zahl unterliegt stets Veränderungen. Während junge Menschen nach Kobanê zurückkehren, kommen mehrheitlich Gruppen älterer Menschen und Frauen nach Pîrsûs.

Sind die Menschen, die von Rojava nach Pîrsûs kamen, auch an andere Orte geschickt worden? Wenn ja, wohin?
Sie sind ins Stadtzentrum sowie in die anderen Stadtteile von Riha (Urfa) gebracht worden.

Unter welchen Bedingungen leben diese Menschen in Pîrsûs? Welches sind ihre grundlegenden Probleme und Bedürfnisse? Von wem und wie wird ihnen geholfen? Gibt es internationale Hilfe?
Sie sind in den von unserer Kommunalverwaltung und auch mit Unterstützung anderer von der Partei der Demokratischen Regionen DBP verwalteten Städte aufgebauten Zeltlagern, in den Kondolenzhäusern unseres Stadtteils, den Moscheen und bei Familien untergebracht. Diese Menschen mussten Rojava aufgrund eines drohenden Massakers unerwartet und zügig verlassen. Sie waren darauf ebenso wie unsere Kommunalverwaltung nicht vorbereitet gewesen. Daher haben wir sie zunächst an provisorischen Orten untergebracht und sie nach der Einrichtung von Zeltlagern dort einquartiert. Da sie ohne jegliches Hab und Gut ihren Lebensraum verlassen haben, geht es in Anbetracht des anstehenden Winters vorrangig um ihre an die Witterungsbedingungen angepasste Unterbringung in Zelten und Containern. Zudem werden Heizstrahler, winterfeste Kleidung, Nahrung, Medikamente u. Ä. benötigt. Als Kommunalverwaltung stellen wir alle notwendigen Güter zur Verfügung. So haben wir eine zentrale Küche für die Versorgung mit Lebensmitteln eingerichtet. Einige internationale Hilfsorganisationen unterstützen uns. Anfangs hatte uns die Regierung bei der Annahme der Hilfsgüter Schwierigkeiten bereitet, was jedoch weitgehend überwunden werden konnte.

Sie haben die Haltung des Staates angesprochen. Es fällt eine enorme Militärpräsenz an der Grenze auf. Zu welchem Zweck ist dort so viel Militär stationiert? Wie bewerten Sie die Haltung der Regierung zu Rojava?
Die Menschen, die hierhergekommen sind, wissen um die unterstützende Haltung des türkischen Staates gegenüber dem Islamischen Staat (IS). In unserem Stadtteil fühlen sie sich sicher und möchten daher hier bleiben. Lediglich 4 500 der 60 000 Menschen aus Rojava leben in den vom staatlichen Krisenzentrum AFAD errichteten Zeltlagern. Doch AFAD drängt die Menschen in diese Lager. Ansonsten wird ihnen trotz sämtlicher Gespräche unsererseits jegliche staatliche Unterstützung verwehrt.

Die Militärpräsenz an der Grenze dient nicht allein der Sicherheit, sondern zielt darauf ab, die Unterstützung des IS zu verdecken. Denn die in Rojava etablierten Kantone, vor allem Kobanê, kennzeichnet ein revolutionärer Charakter mit Vorbildfunktion für alle Staaten, in denen keine Demokratie herrscht. Daher sind sie Staaten wie der Türkei, die kein sauberes Demokratie- und Menschenrechtsprofil haben, ein Dorn im Auge. Aus diesem Grunde unterstützt die Türkei nicht die Bevölkerung von Kobanê, die ihre Existenz und Freiheit verteidigt, sondern den barbarischen IS, der eine Gefahr für alle Völker im Nahen und Mittleren Osten darstellt.

Logo der Partei der Demokratischen Regionen (DBP)

Pîrsûs ist auch Zentrum der Mahnwachen. Welche Informationen können Sie uns darüber geben, insbesondere über die Angriffe türkischer Sicherheitskräfte?
Seit dem Angriff des IS auf unsere Geschwister in Kobanê am 15. September suchen wir nach Möglichkeiten, unseren Protest zum Ausdruck zu bringen. Um unsere Solidarität mit den Menschen in Rojava/Kobanê zu bekunden, haben wir an der Grenze, die Dörfer entzweit, Mahnwachen etabliert. Es handelt sich dabei um eine demokratische Aktionsform. Sie dient zum einen dazu, den Grenzübertritt von IS-Milizen zu verhindern, wenn auch nur in geringem Umfang, und zum anderen dazu, den würdevollen Widerstand unserer Geschwister moralisch zu unterstützen. Das hat der türkische Staat nicht verkraften können. Er hat daher seine Sicherheitskräfte aus der gesamten Umgebung nach Pîrsûs verlagert und so eine zusätzliche Trennwand zwischen uns und Kobanê errichtet. Zudem wurden zahlreiche Kontrollpunkte eingerichtet, welche die Ein- und Ausreise von und nach Pîrsûs und damit unsere Reisefreiheit einschränken. Offiziell dient die Militärpräsenz unserer Sicherheit. Doch tagelang wurden wir ohne Rücksicht auf Kinder und ältere Frauen mit Gasgranaten und Schusswaffen angegriffen. Selbst in die Häuser, in denen wir Unterschlupf suchten, wurden Gasgranaten geworfen. Von den Panzerwagen aus wurde uns per Lautsprecher mit Mord und Ausrottung gedroht. Sie waren darauf fokussiert, jemand zu verletzen und zu töten. Während in Kobanê IS-Terroristen ein Massaker verübten, war die türkische Regierung hier um ein Massaker bemüht. Zahlreiche Freunde wurden verletzt. Semra Demir, Mitglied des Parteirates der DBP, wurde am 16. Oktober von einer Gaskartusche am Kopf getroffen und schwer verletzt. Sie liegt noch immer auf der Intensivstation. Trotz all dieser Repressionen setzt das Volk von Kurdistan seine Mahnwachen an der Grenze fort.

Es gibt Aufzeichnungen, wie der IS problemlos die Grenze überquert und wie militärische Güter über sie transportiert werden. Dazu kommt eine Ungleichbehandlung von Verletzten. Was können Sie uns darüber sagen? Wie bewerten Sie das?
Es war bereits bekannt, dass der türkische Staat den IS unterstützt. Es gab stets Presseberichte über die militärische Ausbildung der IS-Milizen sowie ihre militärische Unterstützung. Zuletzt filmte der Sender IMC TV das. Daraufhin gab es Bestrebungen der Sicherheitskräfte, die Medien von der Grenze zu verdrängen. Antidemokratische Kräfte werden demokratische Systeme nicht akzeptieren. Da wir um die Vergangenheit des türkischen Staates wissen, ist eine Unterstützung des IS nicht verwunderlich. Während 13 verletzte YPG-/YPJ-Kämpfer wegen staatlicher Behinderung an der Grenze verstorben sind, werden IS-Milizionäre unter hohen Sicherheitsvorkehrungen in die Türkei eskortiert und in Krankenhäusern behandelt. Auch das ist ein Beweis für die staatliche Unterstützung des IS.

Am Grenzübergang Mürşitpınar wurden über 300 Personen aus Rojava festgenommen. Wie steht es um sie? Viele von ihnen sollen nach Kobanê zurückgekehrt bzw. dorthin abgeschoben worden sein. Gibt es ansonsten Rückkehrer nach Rojava?
Sämtliche Festgenommenen wurden freigelassen. Ein Teil wurde abgeschoben, ein Teil in den staatlichen Zeltlagern einquartiert. Spezialeinheiten befragten die Menschen, die tagelang festgehalten wurden, warum sie ihre Heimat verlassen hätten. Ihnen wurde unterstellt, Kämpfer der YPG/YPJ zu sein. Wären sie tatsächlich Kämpfer, hätten sie Kobanê nicht verlassen. Selbst wenn, so erfüllen sie keinen Straftatbestand in der Türkei. Diese Menschen haben lediglich ihre Heimat gegen den IS verteidigt. Und dann spricht der Staat davon, dass er den Menschen aus Rojava seine Tore geöffnet hat. Das entlarvt die Haltung des türkischen Staates.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, war mit einer Delegation in Pîrsûs. Können Sie uns Informationen über die Gespräche mit ihm geben?
Wir haben diese Delegation gemeinsam mit unseren Abgeordneten betreut und ihnen Informationen über die Lage in Pîrsûs und Kobanê gegeben. Wir haben darauf hingewiesen, dass lediglich 4 500 der 60 000 aus Rojava hinzugekommenen Menschen in den Zeltlagern des AFAD leben, dieser die restlichen Menschen trotz zahlreicher Gespräche unserer Abgeordneten nicht unterstützt und es daher für eine gerechte Verteilung der Hilfsgüter sinnvoll ist, diese der Kommunalverwaltung als von der Bevölkerung gewählten Instanz zu übertragen. Insgesamt verliefen die Gespräche gut. Wir erfuhren jedoch noch am selben Tag, dass die Mitarbeiterin des Generalkonsulats in Ankara der Reporterin der Zeitungen Taraf und Sabah mitgeteilt hatte, 13 Lastwagen mit Hilfsgütern in Dîlok (Antep) dem AFAD übergeben zu wollen.

Was ist Ihr Appell an die internationale Öffentlichkeit?
Kobanê symbolisiert den Kampf für die Existenz und die Freiheit des Volkes dort, Frauen, Männer, junge wie alte Menschen. Es ist der Kampf aller Völker und demokratischen Kräfte des Mittleren Ostens für einen freien und demokratischen Mittleren Osten, der Kampf gegen ein neues faschistisches Massaker und ein Kampf für Würde und Freiheit. Daher rufe ich die internationale Öffentlichkeit dazu auf, die notwendige Unterstützung und Solidarität mit Kobanê zu zeigen.