Flüchtlingscamp Newroz in RojavaLage und Situation der Flüchtlinge nach den Angriffen in Şengal und Rojava

Ein Armutszeugnis

Dr. med. Gisela Penteker, Türkeibeauftragte des Vorstands der deutschen IPPNW-Sektion; Yilmaz Kaba, Vorstandsmitglied der Föderation der Êzîdischen Vereine e. V.

Wir waren zehn Tage lang, vom 14.09.2014–24.09.2014 in Nord-Irak und Rojava.

 

Die humanitäre Situation der Flüchtlinge war nur ein Teilaspekt unserer Delegationsreise. Seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien haben sich viele Angehörige von Minderheiten in die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete im Norden gerettet. In allen Kantonen hat sich durch die Binnenflucht die Zahl der Bevölkerung verdoppelt, zum Teil sogar verdreifacht. Aus Rojava hatte sich das Assad-Regime weitgehend zurückgezogen und die Menschen ihrem »Schicksal« überlassen. Überethnisch und überreligiös organisieren sich die Menschen in Rojava (West-Kurdistan/Nord-Syrien) basisdemokratisch in allen Bereichen des Lebens und haben sogar in jedem Kanton eine Übergangsregierung gebildet. Da sich die Selbstverwaltungsstrukturen weitgehend aus den Kämpfen in Syrien heraushielten, wurde ihnen immer wieder der Vorwurf der Kollaboration mit der Regierung in Damaskus gemacht. Wenn man die Gegebenheiten vor Ort selbst sieht und erlebt, wird deutlich, dass dieser Vorwurf absurd ist. Die drei Kantone in Rojava sind von der Türkei, der Regionalregierung Kurdistan (Nord-Irak), dem Irak und dem restlichen Syrien durch ein totales Embargo abgeschottet.

Als der Islamische Staat IS die Êzîden (êzîdische Kurden) in Şengal (Sindschar) angriff und sie zu Tausenden in die Berge flohen, waren es die Volks- und Frauenverteidigungskräfte YPG/YPJ aus Rojava, die ihnen einen Korridor in die Sicherheit freikämpften, den sie immer noch zusammen mit den Kämpfern der Volksverteidigungskräfte der PKK (der HPG) und der Frauenarmee YJA Star sowie einer neu geschaffenen Einheit der Êzîden, den Verteidigungseinheiten des Widerstandes von Şengal, YBS, frei halten.

Flüchtlinge in Rojava/Nordsyrien

Wir haben das Flüchtlingslager Newroz im Kanton Cizîrê im östlichsten der drei Kantone besucht. Vor den Ereignissen von Şengal hatte es schon ein kleines Lager mit einigen 100 Flüchtlingen gegeben, das dann für die êzîdischen Kurden entsprechend vergrößert wurde.
Die meisten Zelte sind vom UNHCR, das sich aber sonst nicht an der Versorgung beteiligt. Verhandlungen mit Damaskus über den Zugang des UNHCR scheint es nicht zu geben. Auch kein Angebot an die Flüchtlinge, in ein Lager der syrischen Regierung überzusiedeln. Zweimal pro Woche kommen UNHCR-Mitarbeiter aus Damaskus oder Qamişlo (Al-Qamishli) – es gibt keine weitere Hilfe –, da das UNHCR mit dem Assad-Regime zusammenarbeitet, kommt im Newroz-Camp nur wenig an. Sie haben jedoch versprochen, die Zelte nach unten zu isolieren, sprich winterfest zu machen, bevor der Winter kommt. Flüchtlingshilfe wird unter kapitalistischen Bedingungen zum bürokratischen Aufwand. Ansonsten liegt die Versorgung der zurzeit im Lager lebenden ca. 15 000 Flüchtlinge in der Hand der Übergangsregierung des Kantons Cizîrê.

Der Kanton Cizîrê versorgt das Camp mit wenigen Mitteln und kümmert sich um Wasser und Strom. Den freiwilligen Helfern, die vorerst die Verwaltung des Camps übernommen haben, fehlt es auch an Fachwissen und Schulungen. Ab und zu erreichen LKW aus Nord-Kurdistan (Südost-Türkei) das Camp – wenn die PDK [Demokratische Partei Kurdistans unter Mesûd Barzanî] oder die Türkei sie durchlassen. Der kurdische Rote Halbmond (Heyva Sor a Kurdistanê) übernimmt die medizinische Versorgung und psychologische Betreuung – aber auch hier fehlt es an Fachpersonal. Die Bevölkerung von Cizîrê ist dem Aufruf der Übergangsregierung zu spenden gefolgt, obwohl sie selbst wegen des Embargos Mangel an allem hat. Hilfe kommt durch das Embargo selten aus Nord-Kurdistan (Türkei), jedoch bei Möglichkeit von der Föderation der Êzîdischen Vereine in Deutschland und Europa. Zurzeit wird ein Medikamententransport an der Grenze in Nisêbîn (Nusaybin) festgehalten.

Im Lager fehlt es an vielem. Sanitäre Anlagen werden gebaut, sind aber noch nicht in Betrieb. Es gibt drei Kochzelte, in denen für alle gekocht wird – Flüchtlinge, sofern sie in der Lage sind, werden bei der Essensvorbereitung mit einbezogen. Ziel ist es, den Menschen die Möglichkeit zu geben selbst zu kochen. Es werden verschiedene Komitees für alle Bereiche gebildet – für Bildung in Kurdisch und Arabisch, für Frauen, für die Versorgung, für die Verwaltung u. v. a. notwendige Bereiche. Ein weiteres Problem ist, dass einige Flüchtlinge gerne auch außerhalb des Camps arbeiten möchten, es jedoch in der ganzen Region an zusätzlicher Arbeit mangelt.
Die Flüchtlinge im Lager sollen sich selbst verwalten. Bisher sind die Flüchtlinge noch kaum in der Verfassung, sich daran zu beteiligen. Es gibt noch keine Schule, aber eine Betreuung der Kinder. Die medizinische Versorgung ist im ganzen Kanton schlecht. Wegen des Embargos gibt es kaum Medikamente. Besonders fehlen Medikamente für chronische Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Herz- und Nierenkrankheiten. Ein großes Problem ist Krätze, eine Krankheit, die bedingt durch den Mangel an Hygiene entsteht. Im Lager leben zurzeit 58 Personen mit Gehbehinderungen, für die es keine Prothesen und Hilfsmittel gibt. Im Lager arbeiten ein Arzt und ein Apotheker, der allerdings kaum etwas abzugeben hat. Der Kanton Cizîrê versorgt auch die Menschen, die sich noch in den Bergen von Şengal aufhalten. In Şengal leben in einigen Dörfern noch ca. 50 000 Menschen – in den Bergen befinden sich noch ca. 15 000. Letztendliches Ziel der Verwaltung im Newroz-Camp ist, dass die Menschen zurück nach Şengal gehen können – deshalb sollte die Region komplett vom IS befreit werden.

Sie werden durch den von den YPG freigekämpften Korridor versorgt und von YPG/YPJ und YBS, den neu gegründeten Verteidigungseinheiten der Êzîden, geschützt. Dabei sind die LKW mit den Hilfsgütern ständigen Angriffen des IS ausgesetzt, und es ist schwer, Fahrer zu finden. Viele Flüchtlinge sind in Rojava auch bei Familien untergekommen. Aufgrund von Propaganda, dass der IS ganz Rojava besetzen werde, waren ebenfalls viele Menschen geflohen – nun wollen sie zurückkehren – die PDK (Regionalregierung Kurdistans/Nord-Irak) verhindert das aber durch bürokratische Vorwände und Abschreckung – den Flüchtlingen werden u. a. Lügen erzählt, dass die Verantwortlichen in Rojava sie nicht aufnehmen wollten – die PDK selbst will sich mit der Flüchtlingsfrage profilieren.

Pläne der Newroz-Camp-Verwaltung sind:
Kurzfristig: Ärzteteams und Psychologen werden sofort benötigt.
Langfristig: Intensive psychologische Betreuung und Trauma-Aufarbeitung soll entwickelt werden.

Flüchtlinge in Nord-Kurdistan/Türkei

Die Situation der Flüchtlinge in der Türkei kennen wir von unseren jährlichen Reisen in die türkische Grenzregion – alleine in Nord-Kurdistan/Südost-Türkei leben über 32 000 Flüchtlinge aus Şengal und werden durch die Angriffe auf Kobanê immer mehr. Die Grenzübergänge zu den kurdischen Kantonen sind geschlossen. Die vielen Flüchtlinge, die die Türkei aufgenommen hat und versorgt, sind hauptsächlich sunnitisch-arabische Syrer. Die kurdischen Flüchtlinge werden meist von Verwandten aufgenommen und von den kommunalen Verwaltungen (DBP, Partei der Demokratischen Regionen) versorgt. Informationen einer Kollegin zufolge kommt im Lager an der Grenze in Silopiya weder internationale noch türkische Hilfe an. Die Ärztekammer von Amed (Diyarbakır) schickt gelegentlich Ärzte und Medikamente.

Flüchtlinge in Süd-Kurdistan/Nordirak

In Süd-Kurdistan – dem Gebiet der autonomen Regionalregierung der Kurden im Norden des Irak – sind ebenfalls viele hunderttausend Flüchtlinge. Sie leben in großen Lagern um Duhok (Dohuk), Hewlêr (Arbil) und Silêmanî (Suleimaniya). Wir haben ein großes Lager direkt hinter der Grenze gesehen, hinter einem hohen Stacheldrahtzaun. Bei der Fahrt durch Duhok sieht man immer noch wilde Camps unter Brücken und viele Flüchtlinge in Hochhausrohbauten, welche dort im wahrsten Sinne des Wortes eine Zuflucht gefunden haben. Aus Duhok kommen immer wieder Flüchtlinge nach Rojava zurück, die dort unter unwürdigen Bedingungen leben. Die Grenzbeamten der Regionalregierung halten sie allerdings oft unter bürokratischen Vorwänden oder mit der Lüge, dass sie in Rojava nicht erwünscht wären, von der Rückkehr ab. Offenbar soll auch auf diese Weise Rojava diskreditiert werden.

Ich, Gisela Penteker, habe in Hewlêr eine Organisation besucht, die normalerweise Rückkehrer berät, Qualifizierungen durchführt und Sprachkurse für den Familiennachzug. Auf dem Gelände sind auch das Goethe-Institut, die Malteser und das Technische Hilfswerk. Die eigentliche Arbeit ist zum Erliegen gekommen. Die meisten Mitarbeiter haben das Land verlassen. Mit Spendengeldern, besonders aus Niedersachsen, beteiligen sie sich mit Essens- und Hygienepaketen an der Versorgung der Flüchtlinge in Hewlêr in Absprache mit der Barzanî-Regierung.

Immer noch leben in Hewlêr viele Flüchtlinge in Schulen, Kirchen und Moscheen. Nur einige Schulen konnten zu Schulbeginn wieder in Betrieb genommen werden. Die Versorgungslage ist auch hier schlecht. Die internationale Hilfe erreicht die Flüchtlinge nur tropfenweise. Der UNHCR-Apparat ist viel zu träge und bürokratisch. Meine Gesprächspartner erklären: Die Barzanî-Regierung tut, was sie kann, ist aber nicht wirklich handlungsfähig, da seit Monaten die Gelder aus Bagdad ausbleiben und die eigene Ölproduktion noch nicht ausreichend angelaufen ist.

Angesichts der desolaten Versorgungssituation und der anhaltenden Kämpfe machen sich viele Flüchtlinge auf den gefährlichen Weg übers Meer nach Europa. Die Zahl derer, die dabei ums Leben kommen, steigt. Wenn sie es bis nach Europa schaffen, müssen sie um ihren Aufenthalt kämpfen, anstatt bei Freunden und Verwandten aufgenommen zu werden, um eine gewisse Ruhe zu finden.
Die Hilfsorganisationen aus Rojava berichten: »Wir haben êzîdische Kinder und Frauen sterben und vor unseren Augen verdursten sehen. Während unserer Hilfsaktionen wurden wir ununterbrochen vom IS beschossen.« Des Weiteren wurde uns berichtet, dass der Weg für die Überlieferung von Gütern, sprich Lebensmittel und alle anderen notwendigen Materialien, sehr gefährlich ist. Bisher haben die Hilfsorganisationen, welche in keiner Weise von staatlichen oder anderen Organisationen unterstützt werden, 56 LKW mit Hilfsgütern nach Şengal gebracht. Die Fahrer müssen in den 7 Stunden Fahrtzeit dauerhaft damit rechnen, getötet zu werden, da sie unter Dauerbeschuss durch den IS stehen. Bei einem LKW wurden die Reifen zerschossen – dieser liegt immer noch brach.

Türkei und PDK verhindern jegliche Transporte wichtiger Hilfsgüter. Das Embargo und die Nicht-Anerkennung der Selbstverwaltungsstrukturen von Rojava sind ein großes Problem, auch und vor allem zurzeit für die zehntausend Flüchtlinge. Êzîdische Flüchtlinge bezeichnen das Vorgehen der PDK in Şengal als Verrat – die Peschmerga hatten sich vor den Angriffen des IS kampflos zurückgezogen und ihnen zum Teil vorher noch die Waffen abgenommen.

Ohne den Einsatz der YPG und HPG hätte es ein weit größeres Massaker gegeben – dessen sind sich alle Betroffenen bewusst.
Es ist ein Armutszeugnis, dass es nicht gelingt, die Flüchtlinge vor Ort menschenwürdig zu versorgen. Waffen an die PDK-Regierung kommen an, humanitäre Hilfe nicht.

Flüchtlinge aus Şengal in Nord-Kurdistan (Südost-Türkei)

Verteilt auf 30 Orte, die größten Camps sind in:
Mêrdîn (Mardin) ca. 6 000
Amed (Diyarbakır) ca. 4 500
Sîlopî (Silopi) ca. 4 000
Şirnex (Şırnak) 2x ca. 2 500
Wêranşar (Viranşehir) ca. 1 500
Êlih (Batman) ca. 1 000