Nur im Internet

Erstversorgung der Flüchtlinge in Qandil | Foto: DIHAAls der IS in Şengal angriff:

Mit den Augen eines Guerilla ...

Cihan Kendal, September 2014, Südkurdistan

Die Abendsonne verschwand gerade hinter den Berggipfeln in Richtung Hewlêr (Arbil), als ich von der Arbeit im Tunnel zurückkehrte. »Der IS ist in Şengal eingefallen.« Ich stand vom Kreischen und Knattern der »Hilti«, der riesigen Schlagbohrmaschine, noch etwas neben mir und verstand nicht, war in Gedanken noch oben im Tunnel bei den Sprenglöchern und der Frage, ob ich sie wohl im optimalen Abstand und Winkel zueinander gebohrt hatte. Ohne den Blick von seinen TNT-rotgefärbten Händen zu wenden, fuhr Heval Hamza fort: »Die Peşmerga der PDK (Demokratische Partei Kurdistans) haben die Stadt ohne Vorwarnung, ohne auch nur eine Kugel abzufeuern, verlassen – sie haben dem Islamischen Staat (IS) die Tür aufgehalten.«

Ich betrachtete die versteinerte Miene meines Freundes, während sich die Schwere seiner Worte in mein Bewusstsein drängte. Die Tragödie, der Verrat und die Massaker an der êzîdischen Bevölkerung Şengals (Sindschars), die in diesen Tagen Anfang August begann, schien sich direkt vor seinem inneren Auge abzuspielen. Mit dem Angriff auf Şengal und der darauffolgenden Intervention durch die Freundinnen und Freunde von den YPG/YPJ (Volks-/Frauenverteidigungseinheiten) aus Rojava und den Guerilla-Einheiten von HPG (Volksverteidigungskräfte) und YJA Star (Einheiten der Freien Frauen Ischtar) hatte der Krieg gegen den IS in Südkurdistan nun auch für unsere Bewegung begonnen.

Die südkurdischen Peşmerga waren trotz einer Truppenstärke von mehr als 100 000 Soldaten, modernster Waffentechnik und der Unterstützung durch regionale Großmächte nicht in der Lage, den Vorstoß des IS zu verhindern, konnten (wie die Patriotische Union Kurdistans YNK) oder wollten (wie die PDK) nicht für die Verteidigung der Bevölkerung des Gebiets aufkommen. Überrascht von Stärke und Breite der feindlichen Offensive, die von Şengal über Maxmur bis Kerkûk reichte und damit auch die Machtzentren beider Parteien in Hewlêr und Silêmanî (Suleymaniya) bedrohte, sah sich die südkurdische »Autonomieregierung« gezwungen, der Guerilla den Weg zu öffnen. Obwohl den FreundInnen gelang, die Einkreisung Şengals durch den IS und damit auch einen Genozid an Hundertausenden zu verhindern, fielen doch Tausende dem barbarischen Vorgehen des IS zum Opfer, wurden Tausende Frauen und Mädchen zum Verkauf als Sklavinnen entführt. Die mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge litten zudem unter der erbarmungslosen Sommerhitze und dem Wassermangel, trafen im Norden auf verschlossene Grenzen und in südkurdischen Städten auf bürokratische Teilnahmslosigkeit – unzählige Alte und Kranke, Kinder und Säuglinge erlagen den Umständen.

Während der ersten Tage des Krieges in Şengal versuchten wir uns mit der Arbeit im Tunnel abzulenken. Wir bohrten, sprengten, schaufelten und schleppten in grimmiger Stille, mieden das Thema. Zu sehr machte es uns zu schaffen, was gerade, wenige Stunden von uns entfernt, passierte. Nur nach den Nachrichten besprachen wir die neueste Lage und diskutierten, wann es wohl endlich auch für uns losgehen würde. Jedes Mal, wenn unser Code über Funk gerufen wurde, durchfuhr uns die Aufregung, erstarben alle Gespräche. Als die Kriegslage im gesamten Süden immer unübersichtlicher und ernster wurde, bekamen wir den Befehl, unsere Arbeit am Tunnel einzustellen – wir sollten uns mit dem anderen Teil unserer Einheit verbinden und bereithalten. Wir brachen unseren Punkt auf dem Gipfel ab und zogen nach unten. Was nun folgte, erinnert mich im Nachhinein an die amerikanischen GIs aus dem Anti-Kriegs-Film »Apocalypse Now« – nur dass wir verrückt wurden, weil wir NICHT im Krieg waren. Ohne die Ablenkung durch die körperliche Schwerstarbeit im Tunnel sollten wir nun in der erdrückenden Hitze und Enge des Tals warten, und unsere Stimmung schwankte zwischen der Hoffnung auf den Marschbefehl und der Angst zu bleiben, nicht in den Krieg gegen den IS zu ziehen. Jeder versuchte sich auf seine Art zu beschäftigen, abzulenken – manche schliefen den ganzen Tag, andere lasen oder spielten Dame und Schach. Ich selbst fing nach fast zwei Jahren Abstinenz wieder mit Zigaretten an, rauchte täglich zwei Päckchen. Mit jedem Tag, den wir nicht gerufen wurden, verstärkte sich die Anspannung, die militärische Disziplin litt, wir vernachlässigten selbstverständliche alltägliche Arbeiten und führten zunehmend unsinnige, gereizte Diskussionen, kurz, unsere Nerven lagen blank. Und das war nicht nur in unserer Einheit so. Von Kandil bis Haftanin, von Ostkurdistan bis nach Botan und Amed (Diyarbakır) im Norden brannten die FreundInnen darauf, nach Şengal geschickt zu werden, schlugen sich vor, und einige wenige machten sich sogar – gegen alle organisatorischen und militärischen Grundsätze – auf eigene Faust auf in Richtung Krieg. Alle wollten den IS vernichten.

Der IS verkörpert mit seiner dunklen Herkunft im Umfeld von Al-Qaida und westlichen Geheimdiensten, seiner Rolle als williger Söldnertrupp regionaler Eliten und internationaler Hegemonialmächte sowie seinen barbarischen Methoden psychologischer Kriegsführung all die Abscheulichkeit der kapitalistischen Moderne, welche den freien Willen der Völker der Region seit Jahrzehnten versucht in blutigem Chaos zu ersticken – so rückständig der IS sich mit Massenköpfungen und öffentlichem Sklavenhandel auch präsentiert, so modern ist diese Organisation doch in Wesen und Vorgehen. Unter dem ideologischen Deckmantel des radikalen Islam verbirgt sich eigentlich eine völlig fremdgesteuerte, rein Machtinteressen anderer dienende Ansammlung von Gewaltbereiten und Fanatikern, die in Aussicht materieller Beute und religiöser Versprechungen zu allem bereit sind, ohne überhaupt zu wissen, wessen Interessen sie dienen. Militärisch betrachtet verbindet der IS Stadtguerilla-Taktiken (getarnte Sprengfallen, Scharfschützenanschläge, Bewegung unter falscher Flagge) mit klassischem Stellungskrieg (schwere Waffen wie Dotschka, Panzer und massiver Artilleriebeschuss) und technisch modernster psychologischer Kriegsführung – die im Internet verbreiteten Propagandavideos erinnern in Schnitt und Aufnahmequalität eher an Hollywood als an die irakische Wüste. Die blutigen Massaker und grausam inszenierten Hinrichtungen sind dabei eiskalt kalkuliertes Mittel, Angst und Schrecken zu verbreiten, Widerstandswillen zu brechen.

Auch auf unsere Gefühle machte dieser Stil Eindruck. Zwar versetzte uns der Anblick ihrer schwarzen Fahnen nicht in Panik und veranlasste uns auch nicht zur Flucht, war jedoch Auslöser einer extrem emotionalen Annäherung. Wir ließen uns durch die vom IS getriggerten emotionalen Reflexe leiten, anstatt nüchtern zu analysieren und sich kollektiv und organisiert anzunähern. Wir waren zwar alle voller Opferbereitschaft und Entschlossenheit, doch im Kriege reichen gute Vorsätze allein nicht aus, führen emotionale Annäherungen nur zur eigenen Vernichtung. All dies zu vermitteln, war mal wieder Aufgabe der FreundInnen in verantwortlichen Positionen und der KommandantInnen in den Einheiten. In unzähligen Einzelgesprächen und Versammlungen wurden unsere emotionalen Annäherungen an diesen Krieg thematisiert, die richtigen Positionen, d. h. die Positionen der Organisation vermittelt. Auch unsere Einheit schaffte es in einem kollektiven Prozess aus Diskussion, Kritik und Selbstkritik, wieder zu gewohnter Disziplin und Organisierung zu finden, den Umständen und Entscheidungen der Organisation die entsprechende Bedeutung beizumessen – im Endeffekt gingen wir sogar gestärkt und mit noch mehr ideologischem und militärischem Bewusstsein aus diesem Prozess hervor.

Auch die Kriegslage in Südkurdistan hat sich stabilisiert. Guerillas, Peşmerga der YNK und kleinerer Parteien sowie hunderte Freiwillige haben eine Verteidigungslinie aufgebaut und den Vorstoß des IS gestoppt, in Celawla und Kerkûk kämpfen Peşmerga und Guerillas Seite an Seite. Dies ist ein erster und wichtiger Schritt, reicht aber noch lange nicht aus. Der IS muss aus Kurdistan vertrieben werden, das ist der einzige effektive Schutz für ÊzîdInnen, TurkmenInnen, ChristInnen und andere religiöse und ethnische Minderheiten. Außerdem muss dem IS die Operationsbasis im südkurdischen/nordirakischen Grenzgebiet genommen werden, um weitere Angriffe auf Rojava zu verhindern. Dazu braucht es eine weitreichende politische und militärische Kooperation der verschiedenen kurdischen Kräfte, also den schon lange von der Freiheitsbewegung geforderten Nationalkongress und gemeinsame Verteidigungskräfte. Zwar bekundet die YNK immer wieder öffentlich die eigene Bereitschaft, ist aber praktisch genauso wie die PDK bemüht, die Einsatzgebiete der Guerilla zu beschränken bzw. unter eigener Kontrolle zu lassen – beide Parteien befürchten massive Einflussverluste angesichts der vom Volk gefeierten »Rettung Başurs« [Başur: kurd. f. »Süden«] durch die Guerilla der PKK. Es ist also völlig offen, wie sich die Lage in Südkurdistan weiterentwickeln wird – genau wie der gesamte Mittlere Osten ist auch Başur ein politisches und soziales Pulverfass, eine Region im Chaos. Wir als Guerilla der HPG sind jedenfalls, wie unsere gesamte Bewegung, dazu bereit, Freiheit und Sicherheit der Menschen in der Region zu erkämpfen und zu verteidigen, eine Vorreiterrolle im Kampf der Völker für Demokratie, Sozialismus und Frieden im Mittleren Osten zu spielen.