Transparent bei den Feiern zum 15. August in Gever | Foto: DIHAZum aktuellen Stand des demokratischen Lösungsprozesses in der Türkei

»Die Alternative zur friedlichen Lösung ist der Krieg«

Zübeyir Aydar

Der Vorgang, der von türkischer Seite als »Lösungsprozess« und von kurdischer Seite als »friedlicher und demokratischer Lösungsprozess für die Kurdenfrage« bezeichnet wird, währt nun seit ungefähr zwanzig Monaten. Bekanntlich hatte der Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, Ende 2012 in einer Fernsehsendung einen Dialogprozess mit Abdullah Öcalan bekannt gegeben. Nachdem eine Delegation von Parlamentsabgeordneten am 03.01.2013 Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı besucht hatte und dieser Besuch publik geworden war, erhielt der Prozess öffentlichen Status. Als zu Newroz 2013 Öcalans Botschaft in Amed (Diyarbakır) vor Millionen Menschen verlesen wurde, übernahmen die Bevölkerung und die öffentliche Meinung symbolisch Mitverantwortung für den Prozess.

Die darauffolgenden Entwicklungen, wie die Umwandlung der de facto anhaltenden Waffenruhe in einen Waffenstillstand oder der Rückzug der Guerilla aus den Kriegsgebieten, waren wichtig und haben dem Prozess eine neue Bedeutung verliehen. Dem Rückzug der Guerilla aus den Kriegsgebieten sollte vonseiten der Regierung die Schaffung einer rechtlichen Basis und die Aufnahme von Verhandlungen folgen. Das geschah jedoch nicht und der Prozess wurde durch Ablenkungsmanöver verzögert.

Der »Rat der Weisen«, der von beiden Seiten zusammen hätte gebildet werden sollen, wurde einseitig von der Regierung eingerichtet. Die gebildeten Arbeitsgruppen führten in den verschiedenen Regionen der Türkei Gespräche und trugen zu einer positiven öffentlichen Meinung bei. Ihre Arbeit dokumentierten sie in Form von Berichten an die Regierung. Die darin niedergelegten Ansichten und Empfehlungen hatten kaum Wirkung auf die Regierungspolitik. Der »Rat der Weisen«, der seine Beobachtungsfunktion hätte fortsetzen sollen, wurde von der Regierung auch wieder einseitig aufgelöst.

Übereinkommensgemäß sollten ab Juni 2013 parallel zu den Verhandlungen Rechts- und Verfassungsreformen eingeleitet werden. Die Regierung schob sie auf die lange Bank. Unter dem Vorwand, ein umfassendes Demokratisierungspaket vorzubereiten, zögerte sie jedweden Schritt hinaus. Schließlich präsentierte Herr Erdoğan unter Trommelwirbel sein einseitiges persönliches Paket. Es war keines, das die kurdische Frage lösen sollte, sondern eher ein inhaltsloses zur Augenwischerei. Es blieb bei einem Lippenbekenntnis.

Zwischenzeitlich wurde in Bakûr (kurd.: Norden; Nordkurdistan/Osttürkei) der Waffenstillstand umgesetzt und hält bis heute an. Ohnehin ist der Waffenstillstand der größte Gewinn aus diesem Prozess. Es gibt keine kriegerischen Handlungen. Allerdings beschränkt sich dieser positive Zustand nur auf Nordkurdistan. In Rojava (kurd.: Westen; Westkurdistan/Nordsyrien) hat die Türkei vor allem den Islamischen Staat (IS; bis Ende Juni 2014: ... in Irak und Syrien, ISIS) und die Al-Nusra-Front sowie alle anderen antikurdischen Formationen unterstützt und sie somit befähigt, die Kurden zu bekämpfen. Der Angriff auf die Kurden in Syrien, der Krieg gegen sie, ist ein Werk der Türkei. Die Unterstützung des IS gegen die Kurden dauert an.

Ausseinandersetzungen mit dem Militär in Piran

Im Winter verwies die Regierung auf die Kommunalwahlen im Frühling 2014 und beteuerte ausweichend, nach den Wahlen die Aufgaben anzugehen. Mit der Begründung, innerparteiliche Probleme müssten überwunden werden, wurde der Prozess aufgeschoben.

Nach den Kommunalwahlen wollte die Regierung dieses Gebaren beibehalten. Indes wuchs unter Parteifunktionären wie auch in der Bevölkerung das Misstrauen gegenüber der Regierung und dem Prozess. Infolgedessen verbreiteten sich von April bis Juni Massendemonstrationen, die immer mehr Zulauf fanden. Die Guerillaeinheiten waren ebenfalls mit der Entwicklung nicht zufrieden, was fast zur Einstellung der Verhandlungen geführt hätte. Die Regierung sandte daraufhin panisch Delegationen nach Imralı. Mit Zusicherungen, Schritte einzuleiten und Vorbereitungen für Gesetzesreformen zu treffen sowie das Thema ins Parlament zu tragen, wurde die kurdische Bewegung um Zeit gebeten.

In diesem Rahmen wurde dem Parlament Ende Juni ein aus sechs Paragraphen bestehender Gesetzentwurf vorgelegt. Hektisch wurde er in die Tagesordnung aufgenommen und nach kurzer Zeit am 10. Juli als Gesetz verabschiedet. Es soll den rechtlichen Rahmen für den Lösungsprozess bilden und heißt »Gesetz zur Beendigung des Terrors und der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts«. In der Beratungsphase des Gesetzes im Parlament fanden Kritik und Änderungsvorschläge der kurdischen Seite keine Beachtung. Wie sich schon aus dem Begriff »Terror« im Titel erschließen lässt, lassen sich darin zahlreiche Kritikpunkte finden. Seine Unzulänglichkeit lässt sich weiterhin aus Umständen entnehmen wie den Tatsachen, dass der Begriff »Kurde/Kurdin« nicht erwähnt wird, dass die beteiligten Parteien nicht beim Namen genannt werden und dass das Gesetz zu allgemein gehalten wurde.

Trotz dieser Unzulänglichkeiten ist die Verabschiedung dieses Gesetzes von Bedeutung. Es ist ein erster konkreter Schritt. Die Einbeziehung des Parlaments ist zu begrüßen. Es ist wichtig, dass der nun über anderthalb Jahre andauernde Prozess einen rechtlichen Rahmen erhält. In Anbetracht der vergangenen Ermittlungsverfahren und Strafandrohungen gegen aktiv in den Prozess involvierte Personen stellt der rechtliche Schutz, den das Gesetz nun bietet, eine positive Entwicklung dar. Indem es die »politischen, rechtlichen, sozioökonomischen, psychologischen, kulturellen, menschenrechtlichen und sicherheitsbezogenen« Dimensionen der Problematik beleuchtet, gibt es einen allgemeinen Rahmen vor.

Das Gesetz billigt, »falls erforderlich, den Kontakt zu inländischen und ausländischen Personen, Institutionen und Organisationen in Form von Dialogen, Gesprächen und ähnlichen Arbeitsweisen und befugt Personen, Institutionen und Organisationen, die diese Arbeiten leiten sollen«. Somit überträgt es Funktion und Verantwortung an die Regierung. Ein weiterer Paragraph aus dem Gesetz lautet: »Im Rahmen des Lösungsprozesses werden die Koordinierungs- und Sekretariatsdienste dem Generaldirektorat für Öffentliche Ordnung und Sicherheit übertragen.« Es ist ebenfalls von Bedeutung, dass ein konkretes Amt beauftragt wird.

Ja, das Gesetz wurde verabschiedet. Am 15. Juli 2014 wurde es von Staatspräsident Abdullah Gül ratifiziert und ist in Kraft getreten. Allerdings ist bis dato nichts Weiteres zu seiner Umsetzung unternommen worden. Zusätzlich hat seit diesem Datum kein weiteres Gespräch mit dem Vorsitzenden Apo stattgefunden. Bei Fragen wird auf die Wahlen verwiesen. Wahlen kann es immer geben. Nach neun Monaten wird in der Türkei erneut gewählt [Parlamentswahl im Juni 2015]. Falls Wahlen den Orientierungsrahmen für den Lösungsprozess abgeben, ist dieser Prozess zum Scheitern verurteilt. Der neue Staatspräsident Erdoğan beteuert ständig, dass die Regierung zur Fortsetzung des Lösungsprozesses und zur Problemlösung entschlossen sei. Der zuständige Minister erklärt, mit der Roadmap [verfasst 2009 von Abdullah Öcalan] zu arbeiten. Wir konnten bisher allerdings keine konkreten Schritte feststellen.

Auf kurdischer Seite herrscht durch die Hinhaltetaktik der Regierung ernsthaftes Unbehagen. In der Bevölkerung wie auch in den Parteistrukturen hat sich ein beachtliches Misstrauen gebildet. Und dies beeinträchtigt den Prozess. Die Hinhaltetaktik strapaziert die Toleranzgrenze.

Angesichts dieser hochkritischen Phase erwartet die kurdische Seite die zeitnahe Umsetzung folgender Maßnahmen:

  • Beginn gegenseitiger Verhandlungen. Der bisherige Prozess war ein Dialogprozess. Dafür müssen die Delegationen auf beiden Seiten über dieselben Voraussetzungen verfügen. Der Hauptverhandlungspartner der Kurden und Vorsitzende der kurdischen Delegation ist Abdullah Öcalan. Um mit den ausgewählten Personen in Dialog treten zu können, an Informationen und Referenzen zu kommen, seine eigene Delegation frei zusammenzustellen und Verhandlungen führen zu können, muss für Herrn Öcalan die notwendige Bewegungs- und Informationsfreiheit geschaffen werden.

     

  • Etablierung eines Aufsichtsgremiums mit Revisionsfunktion. Damit der Prozess ungebundener fortgesetzt werden kann, müssen die beschlossenen Maßnahmen unabhängig gewertet und geprüft werden. Somit soll einseitiger Interessenskalkulation vorgebeugt werden.

Im Hinblick auf die Entwicklungen in Irak und Syrien und im Mittleren Osten allgemein kann schlussendlich festgestellt werden, dass die friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei, allen voran für die beteiligten Parteien, aber auch für die Bevölkerung allgemein, gewinnbringend sein wird.

Die demokratische Lösung des Problems in der Türkei wird einen Ausstrahlungseffekt auslösen und zur Stabilisierung der ganzen Region beitragen. Die kurdische Seite agiert und widmet sich diesem Prozess nur aus dieser Überzeugung. Trotz der Hinhaltetaktik und des reformpolitischen Schleichgangs der türkischen Regierung. Die Alternative zur friedlichen Lösung ist der Krieg. Ein Krieg würde die Türkei in einen fragilen Status wie im Irak, in Syrien oder Ägypten versetzen. Dass das für keine Partei vorteilhaft ist, liegt auf der Hand.

Die kurdische Seite hat in diesem Prozess ihre Rolle mehr als erfüllt. Nun ist die Regierung an der Reihe. Die positiven oder negativen Schritte der Regierung werden den Gang des Prozesses bestimmen.