Michael HardtGespräch mit dem Literaturtheoretiker und politischen Philosophen Michael Hardt

Kurdische Bewegung – ein Modell für den Mittleren Osten

Kenan Aydin und Nûhat Muğurtay, Özgür Gündem 26.05.2014

Im Rahmen seines Gastbesuchs an der Boğaziçi-Universität in Istanbul hat der Literaturtheoretiker und politische Philosoph Michael Hardt an einer Reihe von Veranstaltungen und Konferenzen teilgenommen. Unser Gespräch mit Hardt, der in der Türkei und in Kurdistan für seine mit Antonio Negri geschriebenen Bücher »Empire«, »Multitude« und »Commonwealth« bekannt ist, begann einleitend mit dem Begriff »Multitude«. Anschließend sprachen wir über die HDP, das Konzept der »Demokratischen Autonomie«, die Entwicklungen in Rojava und dem Mittleren Osten im Allgemeinen, die Organisierungsform sozialer Bewegungen weltweit und die sozialen Medien. Da Hardt wusste, dass wir eine Zeitung sind, welche die kurdische Politik intensiv verfolgt, und er mehr Fragen hatte als wir, bekam das Interview mehr den Charakter einer Unterhaltung.

In Ihren zusammen mit Antonio Negri verfassten Büchern und in Ihren Artikeln betonen Sie immer wieder den Begriff Multitude. Während die traditionelle Linke im Allgemeinen Ausdrücke wie Volk oder Klasse benutzt, nehmen Sie stattdessen Multitude. Warum hatten Sie das Bedürfnis, diesen Begriff von Spinoza aus dem Staub der Geschichte wieder zu benutzen?

Wir nutzen diesen Begriff, um Konzepte wie Klasse und Arbeit neu zu denken. Traditionell wurde der Begriff der Klasse als eine Art von Vereinheitlichung und Gesamtheit benutzt. Es war offensichtlich, dass er eine sehr spezifische Bedeutung hatte. Dieses Konzept drehte sich im Allgemeinen um die Industriearbeiter und Folgendes erschien uns wichtig: Die Klasse müssen wir endlich als plural und vielfältig denken. Nicht nur die Industriearbeiter müssen wir berücksichtigen, sondern gleichzeitig die Arbeitslosen, die Teilzeit Arbeitenden und noch viele andere Kreise der arbeitenden Bevölkerung. Die Existenz all dieser Vielfältigkeit verändert unsere traditionelle Wahrnehmung der Klasse. Der Begriff Multitude kann als Terminus charakterisiert werden, der die Klasse als Pluralität bzw. Vielfalt auffasst. Heute sind die Menschen in vielen verschiedenen Arten von Arbeit tätig. Nicht alle sind in Fabriken. Das ist es, was unser Begriff erfordert.

Gestaltet sich der Aufbau dieses Konzepts der Multitude nur über industrielle Beziehungen?

Nein, so nicht. Als einer der wichtigen Aspekte der Multitude muss der Begriff der Klasse in ökonomischem Kontext neu gedacht werden. Jedoch umfassender und auch in sozialer Hinsicht; denn gleichzeitig beinhaltet Multitude das Denken der Menschen als Pluralität. Die Menschen stellte man sich traditionell über einheitliche, unitäre Darstellungen vor. Zum Beispiel war das im traditionellen Sinne der Fall bei der Nation oder der Klasse. Die Menschen wurden in diesem Sinne ausgeschlossen. Ich war zum Beispiel sehr beeindruckt vom Namen der HDP (Demokratische Partei der Völker). Er verkörpert Vielfalt und Pluralismus. Multitude bedeutet in diesem Sinne, die Menschen nicht über Einheit, Geschlossenheit oder eine Identität zu denken, sondern über Vielfalt und Unterschiedlichkeit. In diesem Sinne sehe ich die HDP als wichtig an. Es hebt die Diversität und die Vielfalt der Menschen hervor.

Die kurdische Bewegung verfolgt in der Türkei das Ziel, genau diese Vielfalt zusammenzubringen und schlägt als Organisierungsmodell die Demokratische Autonomie vor. Was können Sie darüber sagen?

Ich muss auf diese Frage mit einer Gegenfrage antworten (lacht). Unsere Autonomieperspektive ist nicht dieselbe wie beim traditionellen Konzept von Autonomie. Wir denken Autonomie nicht als eine Identitätsperspektive aus Souveränität und Einheit. Wir denken sie nicht als eine neue Form der Macht. Wir sind gegen eine souveräne Autonomie, die sich über die Einheit einer Identität bildet. In den letzten Jahren hat bei uns der Kurs des Transformationsprozesses bei der kurdischen Bewegung Aufmerksamkeit erregt. Es sieht so aus, als habe sie das Format einer klassischen nationalen Befreiungsbewegung verlassen, die eine neue Form von Souveränität zum Ziel hat. Es ist, als entspreche dies dem von uns gedachten Rahmen. Es sieht aus wie die gleiche Konzipierung und Problematisierung der Begriffe Identität und Souveränität. Wo positioniert die kurdische Bewegung hier die Identität?

Sie bringen in Ihren Büchern die Problematik der »Repräsentation« zur Sprache. Zur Zeit der nationalen Befreiungskriege waren Systeme wie Autonomie, Föderation und Konföderation Teil der Probleme um die Souveränität. Also beanspruchten in einem bestimmten Gebiet lebende Minderheiten regionale Souveränität aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Identität. Allerdings ging das nicht über das alte Paradigma »nationale Identität und ihr Rechtsstaat« hinaus. Zum Beispiel findet sich in der kurdischen Geschichte die Parole »Autonomie für Kurdistan, Demokratie für den Irak«. Aber wie gesagt, diese Parole bewegte sich innerhalb der alten Theorie von Souveränität. Es ging um eine Organisierung einer gewissen Identität auf einer regionalen Ebene als Proto-Nationalstaat. Nun hat die kurdische politische Bewegung genau in der von Ihnen erwähnten Art und Weise eine Änderung vollzogen. Die Bedeutung von Autonomie ist nun nicht mehr eine souveräne Autonomie, im staatlichen Kontext einer »Identität«. Es ist eine radikaldemokratische Struktur, die auf der direkten Repräsentation der verschiedenen Identitäten und unterdrückten Teile basiert und den Nationalstaat und seine Machtkanäle ins Leere laufen lässt. Genau an diesem Punkt lässt sich in dieser Hinsicht eine Verbindung herstellen zwischen Ihrer Theorie und dem neuen Paradigma der kurdischen Bewegung. So hat Öcalan das auch in einigen Gesprächsnotizen betont. Genauer gesagt, die kurdische Bewegung denkt die Autonomie nicht als Souveränität einer Identität, sondern für das gesamte Territorium der Türkei und des Mittleren Ostens. Die Kurden haben den Aufbau dieses Modells der Demokratischen Autonomie in Rojava mit verschiedenen ethnischen und religiösen Strukturen gemeinsam begonnen. Die Ideen Öcalans zu dieser Thematik kommen in seinen Büchern zur Sprache.

Wir wollen Ihnen eine Frage zu den Ereignissen im Mittleren Osten stellen. Wie kann in einer politischen Landschaft wie im Mittleren Osten, mit so viel Zersetzung, ein demokratisches und pluralistisches Gebilde errichtet werden? Wie muss in diesem Sinne das Konzept der Multitude ansetzen, welche Methode schwebt Ihnen vor?

Vielleicht wird das zu spezifisch, aber ich kann das so sagen: Zusammen mit den letzten kriegerischen Auseinandersetzungen wurde ein Friedensprozess mit extrem brutalen Mitteln gefangen genommen. Die demokratischen Vorstellungen, die im Jahr 2011 neu angegangen wurden, sind in diesem Moment völlig aus dem Blickfeld verschwunden. Die Lage in Syrien hat sich noch weiter zurückentwickelt und die Situation ist sehr schlimm. In gewisser Weise ist das Organisationsmodell der Demokratischen Autonomie und der Multitude im Zusammenhang mit dem Krieg vollständig unterdrückt worden. Mit dem Krieg in Syrien ist eine regelrechte Unterdrückung einhergegangen. Es sieht so aus, als ob das auch in Ägypten so passieren wird. Mit einem Bürgerkrieg niederer Intensität und Polizeirepression liegt diese Möglichkeit dort nicht allzu fern. In diesem Moment ist das, was wir tun müssen, einen Weg für den Frieden zu finden. Leider scheint es keine Alternative zu geben.

Seit hunderten Jahren bestehen im Mittleren Osten Konflikte und wenn es so weitergeht, werden sie andauern. Müssen wir, um Alternativen zu finden, unbedingt auf ein Ende des Krieges warten? Können wir das nicht mit einem alternativen System überwinden? Kann zum Beispiel das System in Rojava nicht eine solche Alternative sein?

Bei diesem Thema stimme ich Ihnen zu. Ja, wir müssen für unsere Verteidigung einen Weg schaffen, auch im Kriegszustand. Die kurdische Bewegung kann für Syrien und den Mittleren Osten als Beispiel dienen. Doch ich möchte Folgendes anfügen: Alternative Bewegungen und Formationen wurden leider von verschiedenster Seite unterdrückt, oder um es anders auszudrücken, alternative Formationen werden verborgen. Um zu verhindern, dass Menschen davon erfahren, werden sie versteckt. Außerdem werden die Betreffenden der Repression des Staates und verschiedenster Kräfte ausgesetzt. Ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte. Es ist eine sehr schwierige Frage. Wenn es nur so wäre. Leider ist es sehr schwer, inmitten der Gewalt politische Projekte umzusetzen. Aber ich stimme zu, dass es so sein sollte. Ich hoffe, es wird so sein.

Hier wird der Begriff »schwer« als sehr politischer Begriff benutzt. Für die Kurden war alles sehr schwer, aber sie haben vieles geschafft. Warum sollte dies nicht geschafft werden?

Meiner Meinung nach sollten Sie Fragen solcher Art nicht an Intellektuelle richten. Wirkliche Kreativität ist innerhalb der Bewegung selbst zu finden. In Bewegungen, in denen Menschen zusammenkommen, sind die kreativen Vorstellungen viel lebendiger.

In den letzten Jahren entstanden von Lateinamerika bis in den Mittleren und Nahen Osten über die sozialen Medien neue Arten von Organisierungsmodellen, in denen sich verschiedene Identitäten selbst organsierten und es keine Anführer gab. Wie ist die Linke oder sind die oppositionellen Kreise davon beeinflusst worden, wo können wir darin die sozialen Medien verorten? Wie können wir diese neuen Bewegungen in Bezug auf die Kontinuität einer gesellschaftlichen Opposition bewerten?

Die 2011 in Tunesien und Spanien und später in Brasilien und der Türkei aufgekommenen Bewegungen weisen Parallelen auf. Im Allgemeinen hatten sie zum Ziel, bestimmte Bereiche der Stadt in öffentliche Räume umzuwandeln. Für die Entscheidungsfindung wurden demokratische Mechanismen realisiert. Wir haben sehr starke Beispiele gesehen. Aber diese öffentlichen Räume haben trotz einer Veränderung des Stadtbilds für drei Monate für keine langfristige Transformation gesorgt. Die Sache ist, die Kontinuität der genannten traditionellen Anführer und Parteistile zu unterbinden, indem wir nun die Alternativen in den vielen Bereichen der Gesellschaft verbreiten. Eine dieser Möglichkeiten habe ich diese Woche in der Türkei beobachtet: Im Falle des Gezi-Parks waren die Menschen im Allgemeinen gebildet, die neue Arbeiterklasse war dort; es war kein Ort, an dem die im herkömmlichen Sinne verstandene Arbeiterklasse dominant war. In dieser Hinsicht handelte es sich bei der bei Gezi zu findenden Bevölkerungsgruppe um eine bestimmte Schicht der Gesellschaft. Aber es war wichtig, dass der aktivste Kreis von Gezi mit den traditionellen Arbeitern bei Soma zusammengekommen ist; genau dies bildet die Grundlage für eine kontinuierliche Koexistenz. Es ist sehr wichtig für die Bewegungen, dass verschiedenste Triebkräfte und gesellschaftliche Kreise zusammenkommen. Auf diese Weise kann sich der Ring um die Bewegung erweitern, und noch breitere und dauerhaftere Strukturen können aufgebaut werden. Die Unterbrechungen können so verringert werden.

Die sozialen Medien haben im Hinblick auf die klassische Organisierung für eine klare Verschiebung gesorgt, sie sind ein anderes Organisierungsfeld. Kreise, zwischen denen keinerlei körperlicher Kontakt besteht, können auf einmal eine Aktion organisieren. Wie kommentieren Sie diese Tendenz der sozialen Medien? Wo stehen die sozialen Medien beim Übergang von traditionellen zu neuen Organisierungsformen?

Ich finde, dass soziale Medien ein sehr wichtiges Werkzeug für die horizontale Organisierung der Menschen darstellen. Die Ausbreitungsdimension der sozialen Medien ist horizontal, die der Mainstream-Medien ist vertikal. Dennoch sollte die zentrale Rolle sozialer Medien nicht zu sehr übertrieben werden. Bei Gezi waren zum Beispiel das physische und das politische Zusammenstehen von Bedeutung. Die Stimmung und die Freunde von Gezi liegen dem physischen Zusammenkommen zugrunde.

Zwischen dem Staat und der kurdischen Bewegung gibt es seit über einem Jahr Gespräche, aber die Staatsseite flieht davor, diesen Gesprächen einen gesetzlichen Rahmen zu geben. Wie bewerten Sie die stattfindenden Gespräche?

Ich werde Schwierigkeiten haben, zu diesem Thema einen Kommentar zu finden. Ich weiß nicht, was im Kopf [der Vertreter] des türkischen Staates vor sich geht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich Frieden machen wollen. Natürlich ist ein nachhaltiger Frieden wichtig. Aber ich bin mir der Aufrichtigkeit des Staates nicht sicher. Das wissen Sie am besten. Ich kann als Außenstehender nur so viel dazu sagen.

Es gibt eine internationale Unterschriftenkampagne für die Freiheit Abdullah Öcalans. Würden Sie für die Freiheit Herrn Öcalans unterzeichnen?

Natürlich unterschreibe ich.

Die folgende Frage betrifft die wechselnden globalen politischen Kräfteverhältnisse. Über die anhaltenden Geschehnisse in Syrien und der Ukraine ist ein Gebilde von zwei Blöcken entstanden. Auf der einen Seite Russland, China und der Iran, auf der anderen Seite die USA, die EU und einige arabische Länder. Es bietet ein dem Kalten Krieg ähnelndes Bild, wie bewerten Sie das?

Ich denke, dass der jetzt zu beobachtende Krieg ein Krieg der Zombies ist. Es gibt nun keinen Kalten Krieg mehr wie früher, und es sieht auch nicht so aus, als würde es ihn wieder geben. Aber weil die Relikte des Kalten Krieges über keine Alternativen verfügen, versuchen sie sich trotz ihrer Agonie wie Zombies gegenseitig zu fressen. Wir sprechen also von untoten Monstern. Es ist Zeit, diese Toten zu begraben. Es gibt in Filmen ja die Szenen, wenn jemand gestorben ist, aber im letzten Moment noch seine Hände aus dem Boden streckt und denjenigen in seiner Umgebung zu schaden versucht. Der derzeitige Zustand ist statt eines Kalten Krieges eine Art Krieg der Zombies.

Der Iran, Russland und China scheinen an Macht zu gewinnen. Zum Beispiel kann die Ukraine, trotz ihrer Hinwendung zur EU, nicht wirklich gegen Russland aktiv werden.

Wenn Sie die Weltpolitik mit den Augen der Staaten betrachten, ist Ihre Aussage richtig, aber wir müssen aus der Perspektive der Multitude schauen. Die Staaten sind immer noch sehr stark und ja, wir müssen uns selbst schützen; wenn wir als Multitude denken, können wir eine andere Bewertung vornehmen.