Stadtleben in Rojava/NordsyrienInterview mit Bassam Ishak, Präsident des Assyrischen Nationalrats von Syrien

Den Wunsch des Volkes nach einem demokratischen, pluralistischen und säkularen Syrien verwirklichen

Das Gespräch führte Michael Knapp, 04.06.2014

Ich bin 1959 in Damaskus geboren und meine Familie kommt aus Cizîre. Mein Vater repräsentierte Mesopotamien, zwischen 1942 und 1954 war er einer der Oppositionsführer und Repräsentant der Region Mesopotamien im syrischen Parlament. Er war eine der frühen Figuren der Opposition; und nach dem Putsch im März 1963 ging ich nach der Oberschule nach Amerika und beendete dort meine Ausbildung. Ich kam 1993 nach Syrien zurück und heiratete eine syrische Frau, wir haben drei Kinder. Ich kandidierte 2003 für das Parlament, denn wir hofften auf Reformen durch Bashar al-Assad, aber wir merkten schnell, dass diese Reformen nur nach außen dem Legitimitätsgewinn dienten und ein großer Schwindel waren. Als wir das bemerkten, dass das Regime herausgefordert werden muss, um etwas zu ändern, schloss ich mich 2005 der Syrian Human Rights Organization an und wurde ihr Direktor. Ich machte meinen Master in ethnopolitischem Konfliktmanagement und kandidierte 2007 wieder für das Parlament, als Opposition, aber ich wusste, dass ich nicht gewinnen würde. Das Regime zitierte mich herbei und forderte, dass ich meine Kandidatur zurückziehen solle. Ich fragte, warum sie das wollten, sie sagten, »weil Du nicht gewinnen wirst«. Ich forderte das Regime heraus, wir wussten, dass das nicht ohne geht. So dachte auch die Bevölkerung und wenige Jahre später, 2011, begann die Revolution.

Ich erinnere mich an ein Treffen mit westlichen Botschaftern 2007, dass sie erstaunt waren, als ich ihnen erklärte, dass das Regime nicht stabil bleiben würde. Ich hatte das aber schon 2003 gesagt und dann kam der kurdische Aufstand 2004 und ich sagte ihnen, dass jetzt mein Schluss, den ich daraus ziehe, ist, dass es einen Aufstand geben wird, und der kam 2011. Jetzt nach dem Beginn der Revolution arbeitete ich an zwei Fronten, als Direktor der Syrian Human Rights Organization, um die Menschenrechtsverletzungen des Regimes zu dokumentieren, und auf der anderen Seite arbeitete ich als Spezialist für Konfliktmanagement und am Aufbau eines Rates, der den Widerstand vereinigt. Ich tat das in Syrien, aber dann musste ich fliehen. Ich schloss mich dem SNC (Syrischer Nationalrat) an und wurde als Mitglied ins Generalsekretariat gewählt. Ich machte auch bei der Gründung der syrischen Koalition mit, aber dann bin ich dort rausgegangen.

Warum?

Zu dieser Zeit ging es nicht mehr um Opposition, sondern es war zu einem Spiel um politische Dominanz geworden und ich wurde als Rebell angesehen. Ich erklärte, ich habe mich weder von Hafiz noch von Bashar Al-Assad einschüchtern lassen und ich lasse mich von niemandem einschüchtern, mein Ziel ist es, den Wunsch des syrischen Volkes nach einem demokratischen, pluralistischen und säkularen Syrien zu verwirklichen. Das war das Problem und deshalb wurde ich aus der Koalition gedrängt.

Fühlten Sie sich als Assyrer im Rat repräsentiert?

Die einzigen Assyrer, die zum Rat gehören, sind in derselben Partei und kommen aus dem Exil. Das zeigt, dass der Rat generell ein Exil-Rat ist, kein Rat der aktuellen syrischen Bevölkerung. Es ist keine Koalition, die ernsthaft die Umsetzung der Ziele der Revolution verfolgt, sie benutzen die Parolen der Revolution, aber sie betreiben Machtpolitik.

Es gab viel Kritik am SNC, dass er weder christliche noch kurdische noch andere Identitäten anerkenne. Was meinen Sie dazu?

Ja, wir versuchten den SNC zu reformieren und ich war Mitglied im Reformkomitee. Die Idee der Reformen war, die ganze Spannbreite der Identitäten in Syrien zu inkludieren und auch die ganze Spannbreite der revolutionären Kräfte zu repräsentieren. Aber was dann am Ende herauskam, war eine geringere Repräsentation der Minderheiten und eine stärkere Repräsentation der islamischen Elemente, die nun auch begonnen hatten, die Situation in Syrien zu beherrschen. Meine Kritik daran, wie diese Reform gescheitert ist, lautet, dass das Ziel der Revolution von der Koalition nie konsequent verfolgt worden ist.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Revolution in Syrien im Allgemeinen und dann in Rojava im Speziellen?

Die syrische Revolution wurde von unpolitischen Menschen begonnen, die in Syrien leben. Es war eine echte Volksrevolution, aus dem Volk, für das Volk. Die Forderungen waren einerseits sehr einfach, aber andererseits sehr tiefgehend. Freiheit, Würde und Einheit. Die Menschen, die den Syrischen Nationalrat und später die Koalition dominierten, praktizierten nicht das, was sie predigten. Das Streben nach einer demokratischen, säkularen Gesellschaft wurde ausgehöhlt. So wie die Baath-Partei von Sozialismus gesprochen und dies zu leerem Gerede gemacht hatte. Sie sprachen von arabischer Einheit, von Freiheit, aber sie praktizierten nur Machtpolitik, geprägt vom eigenen Ehrgeiz, die Revolution anzuführen. Der Fokus wanderte weg von dem Ziel, Assad zu stürzen, hin zu den eigenen Interessen, und die Ziele der Revolution wurden nicht ernst genommen. Darauf reagierten viele von uns so, dass uns die Revolution von diesen Leuten gestohlen wird. Da Großmächte hinter diesen Leuten standen, konnten wir dagegen nicht ankommen.

Das andere, was passierte, war, dass wir nun an zwei Fronten bekämpft wurden, auf der einen Seite vom Regime und auf der anderen Seite von den sogenannten islamistischen Revolutionären. So entmutigten einerseits die islamistischen Revolutionäre die assyrische Bevölkerung, gegen das Regime zu demonstrieren, denn sie wollten, dass nur islamische Parolen gerufen werden, sie erlaubten keine, die ihre Unterstützung für die Revolution als Christen deutlich machten. Auf der anderen Seite ermutigte das Regime Banden, gerade diese Oppositionsgruppen anzugreifen. In denen waren viele zum Beispiel Ärzte und sie waren massiven Bedrohungen ausgesetzt. Sogar der orthodoxe Bischof wurde von Leuten aus dem Umfeld des Regimes bedroht. So verloren wir innerhalb von drei Monaten etwa 50 % unserer assyrischen Bevölkerung in der Region durch Flucht. Banden haben Kinder entführt und Lösegeld erpresst, Geschäftsleute erhielten Drohbriefe, die sie aufforderten, das Land zu verlassen. Wir reagierten darauf auf zweierlei Art. Zunächst etablierten wir im August 2012 den Assyrischen Nationalrat und erklärten, dass es als Nationalrat unser Ziel sei zu betonen, dass es Assyrer in Opposition zum Regime gebe und dass das Syrien der Zukunft säkular, demokratisch und pluralistisch sein müsse. Er wurde in Istanbul von verschiedenen assyrischen NGOs, Gruppen, unabhängigen Assyrern, Politikern und der Suryoye-Einheitspartei (Gabo d Huyodo Suryoyo Suria – Syriac Union Party) gebildet. Dann versuchten wir als Nationalrat, mit den Gruppen der syrischen Opposition in Dialog zu treten. Es gab zwei Treffen 2012 in Kairo mit Repräsentanten aller oppositionellen Gruppen. Wir diskutierten die assyrische und syrische Frage am Runden Tisch. Aber das schien zu nichts zu führen. Deshalb bildeten wir einen Runden Tisch mit Assyrern und Kurden aus der Region Cizîre. Dieser Versuch war sehr erfolgreich. Sie diskutierten zusammen, wie sie ihre Beziehungen in Zukunft gestalten sollten und auch über die Hindernisse, die Geschichte, insbesondere 1915 [Armeniergenozid] in der Türkei, und es war möglich, zu einem gemeinsamen Entwurf zu kommen, der definierte, wie wir in Cizîre in Zukunft zusammenleben sollten, welche Rolle Religion spielen würde, und es wurde entschieden, die Vergangenheit zu vergeben und eine neue Ära zu beginnen.

An dem Treffen nahmen Politiker verschiedener kurdischer und assyrischer Parteien und zivilgesellschaftlicher Organisationen teil. Sie alle kamen aus Cizîre. Es fand im Juli 2013 statt. Leider lehnten einige der anwesenden Parteien die Teilnahme der Partei der Demokratischen Union (PYD) ab. Darum konnten wir sie in diese Gespräche nicht mit einschließen. Dann kehrte die Delegation nach Rojava zurück und traf sich dort mit der PYD. Dieser Dialog führte zum aktuellen Gesellschaftsvertrag als Verfassung für die demokratische Selbstverwaltung. Das führte zur aktuellen Regierungsbildung in Cizîre.

Viele Assyrer unterstützen unserer Beobachtung nach gleichzeitig das Regime und auch die Selbstverwaltung – was können Sie dazu sagen?

Diese Menschen haben vor allem Angst um ihre Sicherheit als assyrische Minorität. Sie unterstützen den, der ihre Sicherheit garantieren kann oder von dem sie meinen, er könne es. Wenn sie meinen, das Regime schütze sie, dann unterstützen sie dieses. Wenn sie meinen, die Selbstverwaltung schütze sie, dann unterstützen sie diese. Sie sind gefangen im Grundbedürfnis nach Sicherheit. Sie stehen nicht an dem Punkt, über Demokratie oder Pluralismus nachzudenken. Das machen wir als politisch Engagierte, aber für die assyrische Bevölkerung auf der Straße geht es darum, die Familie, sich selbst und den eigenen Besitz zu schützen.

Wie verhalten sich die Kirchen in diesem Zusammenhang?

Die Baath-Partei hatte die assyrischen Kirchen dazu ermutigt, nicht nur die spirituelle, sondern auch die politische Führung zu übernehmen. Sie standen unter der Kontrolle des Regimes, andere politische Führer unter den Assyrern wurden nicht geduldet. Das Regime legitimierte nur seine Unterstützer und marginalisierte so die Opposition. Jetzt sagt das Regime zu uns, die wir in der Opposition sind, ihr seid Assyrer, die Assyrer sind aus Heseke (Al-Hasaka) geflohen, was wollt ihr also noch über Politik reden, ihr seid am Ende. Es versucht mit uns zu spielen, um uns zum Schweigen zu bringen.
Eines unserer Probleme mit der Koalition ist, dass wir sagen, ihr könnt unsere Probleme nicht lösen, indem ihr die Geschichte ignoriert und so tut, als sei die syrische Gesellschaft eine unschuldige. Wir müssen sagen, um welche Krankheit es sich handelt, um die richtige Medizin zu finden, sonst leiden wir als Gesellschaft weiter an derselben Krankheit wie seit 1400 Jahren.

In Rojava ist ein Rätesystem mit eigenen Sicherheitskräften etabliert worden. Inwiefern partizipieren die Assyrer daran?

Wir haben als Assyrer unsere eigene Sicherheitskraft, die Sutoro, um auf das Sicherheitsbedürfnis der assyrischen Bevölkerungsgruppe einzugehen. Wir wollten verhindern, dass sie fliehen, und sie zum Bleiben ermutigen. Deswegen sollte ihre Identität in einer eigenen Polizeikraft repräsentiert werden. Unsere kurdischen Partner verstanden das sehr gut, denn sie selbst kennen die Verfolgung wegen ihrer Identität. Sie verstehen die Wichtigkeit von Sicherheitskräften mit der eigenen Sprache. Sie haben uns sehr unterstützt. Sutoro und Asayîş [selbstorganisierte Sicherheitskräfte in den drei Kantonen Rojavas] arbeiten eng zusammen für die Sicherheit der Bürger Rojavas. Wenn wir Stabilität haben, dann werden wir wahrscheinlich eine gemeinsame Einheit aufbauen.

Wie sehen Sie die Zukunft von Rojava und Syrien?

Die Zukunft Syriens erscheint aus den genannten Gründen nicht sehr ermutigend, wenn man sich an der Agenda der Koalition orientiert. Denn wir sehen, dass dies nicht den Zielen der syrischen Revolution entspricht. Die syrische Revolution stand für ein Syrien für alle Syrer, ein Land, das auf Bürgerschaft setzt und nicht auf religiöse Dominanz. Wir als assyrische Minderheit hatten die Hoffnung, dass unsere muslimischen, sunnitischen Kollegen begriffen hätten, dass man in Syrien kein Land auf sektiererischer und religiöser Dominanz aufbauen kann. Das ist gerade aufgrund der Diversität der syrischen Bevölkerung hochproblematisch. Ohne Repräsentation von und Respekt vor allen Identitäten in Syrien kann keine Stabilität in der Region erreicht werden. Die Koalition hat daran kein Interesse. Sie wollen die Region dominieren. Das ist in einem gewissen Sinne eine Wiederholung der Vergangenheit. Es erscheint wie die zwei Seiten einer Medaille; eine Seite ist das Regime, das seine Herrschaft auf das Sektierertum einer Minderheit gründet, die andere das Sektierertum einer Mehrheit – beide basieren auf Unterdrückung. Es muss ein Modell geben, das auf Partnerschaft, Pluralismus, Privilegien teilen basiert. Das ist es, warum die Erfahrung in Cizîre und Rojava extrem wichtig ist. Ich weiß, dass nicht alles perfekt läuft. Die Menschen haben 40–50 Jahre Unterdrückung erfahren und es gibt keine Sicherheit, die eigene Sicherheit ist massiv bedroht. Deshalb wird manchmal nicht auf dieselbe Weise reagiert wie in einer ähnlichen Situation. So kommen Leute und sagen, wir wollen die Demokratie unterstützen, aber Asayîş foltern und verhaften, und ich muss zunächst mal sagen, dass ich nicht wünsche, dass irgendjemand gefoltert oder inhaftiert wird. Ich bin Direktor der Menschenrechtsvereinigung. Jahrelang habe ich über Übergriffe Berichte erstellt. Aber dies ist keine normale Situation, es gibt keine stabile Regierung. Wir stecken in einem Bürgerkrieg und man versucht natürlich, seine Leute zu schützen. Trotzdem können Menschenrechtsorganisationen in Rojava die Gefängnisse kontrollieren – können sie das denn bei ISIS, Al-Nusra oder dem Regime? Daher ist diese Erfahrung wichtig und deswegen sind wir Ziel einer Schmutzkampagne all der Feinde von wirklicher Demokratie, wirklichem Pluralismus und einem säkularen politischen System in der Region.

Warum schweigen die westlichen Regierungen zur Lage in Rojava?

Soweit ich das verstehe, ist es so, dass die NATO, die USA und die Regionalmächte den Sturz von Assad unterstützen. Sie wollen einen großen Teil Syriens in ein Schlachtfeld für die Extremisten verwandeln. Sie haben Syrien in so etwas wie eine Falle verwandelt, dass die in diese Falle gehen und dort kämpfen können. Sonst gibt es eigentlich keinen Grund, warum NATO oder USA daran gelegen sein könnte, Al-Qaida zu stärken. Das Einzige, was ich mir denken kann, ist, dass sie wollen, dass sie dort hinkommen und sich gegenseitig bekämpfen. Außerdem profitieren viele dieser Länder vom Waffenhandel, der von den Erdöl produzierenden Ländern finanziert wird. Also geht es eben auch um Ökonomie. Ich denke, das erklärt das, was passiert. Eigentlich ist das ja sehr gefährlich für die Türkei, wenn Al-Qaida im Nachbarland in großem Stil operiert. Ich denke, sie hoffen, dass sie Al-Qaida kontrollieren und für ihre eigenen Zwecke benutzen können. Aber das ist ein Spiel mit dem Feuer. Es ist also nicht mehr die Agenda des Volkes in Syrien, die hier eine Rolle spielt, sondern andere Akteure kämpfen auf dem Rücken dieses Volkes. Deshalb glaube ich, dass sie – zumindest nicht öffentlich – die Revolution in Rojava nicht unterstützen. Denn sie wollen kein demokratisches, säkulares Syrien, sondern einen Krieg entlang religiöser Gegensätze. Andererseits sind Nachbarländer von Rojava möglicherweise auch wegen dessen Modell besorgt. Denn es ist kein nationalistisches oder zentralistisches Modell, es geht um dezentralisierte Selbstverwaltung. Deshalb könnten sie sich unsicher und bedroht fühlen und sie setzen den Westen und die USA unter Druck, und insbesondere die USA wollen die Türkei nicht verlieren. Deshalb glaube ich, dass Rojava deswegen alleine ist.

Wie viele Assyrer leben in Rojava und weltweit?

Im Moment leben in Rojava etwa 200 000 Assyrer, vorher 300 000. Ursprünglich aus Rojava kommende und im Ausland lebende Assyrer sind ebenfalls nochmal so viele. Aber alle assyrischen Christen, unabhängig von ihrer Glaubensrichtung, machen etwa 10 % der syrischen Bevölkerung aus und außerhalb Syriens etwa eine Million. Die meisten leben in Europa, Australien, den USA, Südamerika