Die Situation in SyrienSyrien: Die kurdische Initiative für einen demokratischen Wandel auf der Grundlage von Einheit und Vielfalt

Kurdische Initiative für Demokratie in Syrien, Mai 2014


Mit dem folgenden Grundsatzpapier traten am 8. Mai die Demokratische Partei Syrien, die Partei der Demokratischen Einheit, die Linke Demokratische Partei, die Kommunistische Partei Kurdistan, die Liberale Einheitspartei, die Grüne Partei Kurdistan, die Friedens- und Demokratie-Partei der Syrischen KurdInnen und die Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft in Qamişlo (Al-Qamishli) auf einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit. Es gilt als Grundlage für Gespräche über die Zukunft Syriens mit den oppositionellen Gruppen, die sich nicht an der syrischen Bevölkerung vergangen haben.
Bisher wurden Gespräche geführt in Rojava u. a. mit dem Kurdischen Nationalrat von Syrien, mit VertreterInnen der AssyrerInnen und des Nationalen Koordinationskomitees für demokratischen Wandel der syrischen Kräfte, in Südkurdistan mit verschiedenen syrischen und kurdischen Gruppen, in der Türkei mit VertreterInnen des Syrischen Nationalrats. Außerdem traf sich eine Delegation aus Rojava in Europa mit verschiedenen oppositionellen Personen und Gruppen aus Syrien und stellte diese Initiative vor.

 

 Die Krise in Syrien hat sich aufgrund von blinder Gewalt, durch die sämtliche »Grenzen« überschritten wurden, in eine Richtung entwickelt, in der die Zukunft völlig fraglich ist und kaum ernsthafte und perspektivische Lösungswege offenstehen. Diese Krise geht weit über die Krise des Regimes oder der Rechtsstaatlichkeit hinaus. Es handelt sich vielmehr um eine umfassende strukturelle Krise, deren Ursprung das Verständnis von einem Nationalstaat ist, in dem Chauvinismus und Verleugnung – seit fast einem Jahrhundert – vorherrschen. Das entspricht nicht den grundsätzlichen Eigenschaften unseres Zeitalters, das als Zeitalter der demokratischen Gesellschaften bezeichnet werden kann.


Anstatt die Vielfalt und die unterschiedliche Herkunft der gesellschaftlichen Gruppen – der AraberInnen, der KurdInnen, der AssyrerInnen und weiterer Ethnien – anzuerkennen und die Vielfalt der Religionen und Sprachen zu achten, haben die Herrschenden in Syrien eine autoritäre Gesellschaftsformation auf der Grundlage von Nationalismus und Chauvinismus gestaltet und damit eine demokratische Transformation verhindert. In diesem Rahmen wurden den Bevölkerungsgruppen systematisch ihre Rechte vorenthalten. Dieses autoritäre Vorgehen bewirkte eine Periode der Dunkelheit und Stagnation für die syrische Gesellschaft. Dadurch wurden die BürgerInnen marginalisiert und davon abgehalten, ihrem freien Willen gemäß ihre jeweils eigene Identität zu entwickeln. Syrien hatte sich in ein großes Gefängnis verwandelt, in dem jeglicher authentische Pluralismus unterdrückt wurde.


Auf der Grundlage dieses Gesellschaftswandels und des Ziels der chauvinistischen Baath-Partei, mit allen Mitteln ihre Macht zu erhalten und auszubauen – in Zusammenhang mit Programmen der Arabisierung statt der Anerkennung der kulturellen, sozialen und ethnischen Vielfalt –, wurde das Fundament für die jetzige Krise gelegt. Widerstand, der sich insbesondere in den letzten drei Jahren dagegen entwickelte bzw. explodierte, wurde mit scharfer und extensiv angewandter Repression begegnet.


Es gibt keinen Zweifel daran, dass Syrien einen revolutionären demokratischen Wandel braucht – und nicht nur einen Regimewechsel. Es muss ein grundlegender ideologischer und intellektueller Wandel stattfinden, in dessen Rahmen die Gründe der Krise analysiert werden. Durch einen solchen innovativen Prozess und die Etablierung eines neuen Systems auf der Grundlage von Mechanismen und Strukturen, die dem Zeitalter demokratischer Gesellschaften gerecht werden, kann der notwendige Wandel stattfinden. Dazu müssen die Politik des Chauvinismus und der Verleugnung überwunden und die Rechte aller ethnischen, kulturellen und religiösen Bevölkerungsgruppen anerkannt und durch die Verfassung garantiert sowie durch Institutionen, die dem respektvoll verpflichtet sind, umgesetzt werden. Nur mit ihrem eigenen freien Bewusstsein können die Menschen in Syrien für eine gemeinsame Zukunft ihres Heimatlandes wirken.


Es muss betont werden, dass es für Syrien in Anbetracht der realen Situation nur eine Lösung im Rahmen des Aufbaus eines dezentralen, pluralistischen Staates geben kann, in dem durch die Verfassung Ausgrenzung oder einseitiger Dominanz entgegengewirkt wird. Nur dadurch kann die freie Entfaltung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen effektiv gewährleistet werden. Um diese Konstruktion in diesem Kontext richtig zu verstehen, ist es notwendig, sich von der falschen Logik, die Interessen einzelner Gruppen zum Wohle des Gesamten zu opfern, zu verabschieden – und stattdessen zu begreifen, dass das Wohl jeder einzelnen Gruppe notwendig ist, um das Wohl des Gesamten herzustellen. In diesem Zusammenhang sind respektvolle Beziehungen aller Bevölkerungsgruppen untereinander notwendig – denn niemand kann frei sein, solange jemand anderem die Freiheit vorenthalten wird.


Die grundlegenden Prinzipien des Projekts der demokratischen Lösung:


Der Schlüssel zur Lösung der syrischen Frage liegt im demokratischen und politischen Weg der syrischen Gesellschaft – das ist gerade in Anbetracht des enormen Ausmaßes externer Interventionen wichtig zu sehen. Das bedeutet auch den Verzicht auf Gewalt und sektiererische Ansätze. Nur die Freiheit jeder einzelnen Gruppe im Gesamt kann die Freiheit und Stabilität Syriens garantieren. Das zu begreifen, ist für sämtliche Kräfte des Wandels und der Revolution notwendig.


In dem Wissen darum, dass Vielfalt Reichtum bedeutet und keine Entschuldigung für Spaltung sein darf, muss sich jede/r AkteurIn für die freie und demokratische Entfaltung aller Menschen in einer Gesellschaft einsetzen, in der jede/r die eigene Identität leben und entfalten kann und die Existenz sowie die grundlegenden Rechte sämtlicher Menschen geschützt werden. Das bedeutet, dass die nationale syrische Identität erhalten bleibt, während die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Identitäten gefördert und geschützt werden. Das kann durch eine freiwillige und freie Union im Rahmen einer pluralen Demokratie umgesetzt werden, die ermöglicht wird durch:

 

  1. ein pluralistisches, dezentral organisiertes Syrien;

  2. die Suche nach einer Lösung der kurdischen Frage auf der Grundlage einer in der Verfassung verankerten Garantie der Rechte – und die Lösung der Frage der Rechte sämtlicher Bevölkerungs- und Religionsgruppen auf Basis internationaler Verträge und Konventionen der Menschenrechte und deren Zusatzprotokolle.

Aktionsplan:
Wir werden daran arbeiten, dieses Projekt/diese Initiative als Diskussionsgrundlage für eine gemeinsame Vision sämtlichen Oppositionsgruppen mit unterschiedlichen Hintergründen zukommen zu lassen. Dadurch, dass wir diesen AkteurInnen mitteilen, dass die Vorstellungen darin Grundlage für eine Weiterentwicklung sein können, wollen wir eine rationale, logische und objektiv demokratische Lösung in Syrien voranbringen. Wir wollen die Zukunft Syriens in einer demokratischen, respektvollen und erkenntnisreichen Art diskutieren, damit die Hände der Kinder des Landes sie gestalten können.


Es ist notwendig, dass die syrische Opposition aus sämtlichen Spektren zusammenhält, um effektiv zu handeln und eine avantgardistische Kraft sein zu können, die ihrer Verantwortung für die Menschen im Land und der Region gerecht wird.


Konkrete Schritte:

  1. Präsentation der Initiative für AkteurInnen der Opposition aus sämtlichen Spektren;

  2. ein Komitee, das alle Spektren der syrischen Opposition repräsentiert, soll in einem gesetzten Zeitrahmen auf dieser Grundlage einen Entwurf für eine »syrische Lösung« ausarbeiten;

  3. Zusammenfassung des Projekts/der Initiative nach der Diskussion des Komitees;

  4. Versammlung einer »syrischen Konferenz« sämtlicher Oppositionsparteien;

  5. die Formierung eines Komitees auf dieser Konferenz – das Komitee soll die Opposition auf internationaler Ebene repräsentieren;

  6. das Projekt der Arabischen Liga, den UN und allen beteiligten AkteurInnen vorstellen.

Es ist Zeit, dass wir die Schreie der Kinder und Waisen hören, deren Verwandte vor ihren Augen starben oder deren Körper vor den Augen ihrer Mütter zerrissen wurden, die genötigt sind, ihre Tränen zu trocknen, wie sie das Blut von den Körpern ihrer Kinder trockneten.


Es ist Zeit, dem Leiden der Eltern ein Ende zu setzen, die noch immer nach den Resten der Körper ihrer Kinder suchen, die von den Geschützen und Kugeln des Todes und der Schande zerfetzt wurden.


Demzufolge rufen wir sämtliche Kräfte, Institutionen und Persönlichkeiten in Syrien auf, diesem Projekt im Geiste der Verantwortung zu begegnen, um die »syrische Frage« im Sinne einer anhaltenden und positiven Lösung für die gesamte Region zu lösen und einen historischen Wendepunkt zu kreieren und die Geschichte zurück auf den richtigen Pfad zu lenken.


Wir sind der Ansicht, dass diese Initiative eine ganzheitliche und umsichtige Vision beinhaltet, um die »syrische Frage« zu lösen. Wir werden auch weiterhin intensiv daran arbeiten und sicherstellen, dass sämtliche Bevölkerungsgruppen und AkteurInnen und sämtliche zu diskutierenden Themen berücksichtigt werden.