Tuncer Bakirhan, BDP-Kobürgermeister der Stadt SertInterview mit Tuncer Bakırhan, dem neuen BDP-Kobürgermeister der Stadt Sêrt


Stadtverwaltungen im Sinne der Demokratischen Autonomie schaffen


Das Gespräch führte Osman Oğuz, Yeni Özgür Politika, 27.05.2014

Im Interview mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erklärt der neue BDP-Kobürgermeister der Stadt Sêrt (Siirt), Tuncer Bakırhan, wie eine Art von Stadtverwaltung geschaffen werden soll, die sich nicht allein um die täglichen Dienstleistungen des öffentlichen Lebens kümmert, sondern die Bedingungen für die Umsetzung eines radikal-demokratischen Selbstverwaltungsmodells schafft.

 

Zunächst einmal möchte ich mit einer Frage zu Ihrer Person beginnen. Nachdem Sie Vorsitzender der mittlerweile verbotenen Partei DEHAP waren, sind Sie zunächst einmal von der Bühne der Öffentlichkeit verschwunden. Ihre politische Arbeit haben Sie aber stets fortgesetzt. Wollen Sie uns dazu mehr mitteilen?

Ich habe über einen langen Zeitraum in verschiedenen politischen Bereichen gearbeitet. Meine Arbeit als Vorsitzender war einer dieser Bereiche. Sowohl davor als auch danach war ich auf anderen Ebenen der Partei tätig. Das heißt, bei uns endet die politische Karriere nicht mit der Rolle des Vorsitzenden. In der politischen Kultur der kurdischen Freiheitsbewegung ist verankert, dass alle nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten Verantwortung übernehmen können und sollen. Unser Widerstand hat eine lange Geschichte und ich leiste eben meinen Beitrag dazu. Nachdem ich Vorsitzender der DEHAP war, bin ich Mitglied im Parteirat und später im Parteivorstand gewesen. Ich war auch Kandidat für den Bürgermeisterposten eines Stadtteils in Istanbul, bevor ich dann ins Gefängnis kam. Und nun bin ich zum Kobürgermeister in Sêrt gewählt worden.


Sowohl in Sêrt als auch in den anderen Orten Nordkurdistans hat sich der Wahlkampf der BDP auf die Demokratische Autonomie fokussiert. Nun sind die Wahlen vorbei und die Zeit der Praxis steht an. Was haben Sie bislang getan, um das Konzept der Demokratischen Autonomie umzusetzen? Was werden Sie in Zukunft tun?


Das Konzept einer radikal-demokratischen Selbstverwaltung steht nun seit knapp fünf Jahren ganz oben auf der Tagesordnung der Stadtverwaltungen der kurdischen Freiheitsbewegung. Dennoch haben die Diskussionen bislang noch nicht die gewünschten Ergebnisse gezeigt. Das hat mehrere Gründe. Einer ist, dass nach der Ausrufung der Demokratischen Autonomie eine Repressionswelle gegen die AktivistInnen rollte und viele Mitglieder der Stadtverwaltungen festgenommen wurden. Trotz aller Repression hat die kurdische Freiheitsbewegung versucht, die Stadtverwaltungen demokratischer und transparenter zu gestalten. Den Menschen sollten vor Ort mehr direkte Partizipationsmöglichkeiten geboten werden. Und wir haben in den letzten fünf Jahren auch einige Schritte in diese Richtung getan. Dennoch sind wir damit bei Weitem nicht zufrieden, denn wir haben es nicht geschafft, ein konkretes Modell der direkten Selbstverwaltung zu etablieren. Das wird nun unsere Aufgabe in den kommenden fünf Jahren sein und wir werden versuchen, weitaus konkretere Schritte zu tun. Wir haben eine Vielzahl dieser konkreten Schritte auch in unserem Wahlprogramm aufgelistet.


Wie sehen diese Schritte aus?


Wir werden Mechanismen schaffen, die die politische Partizipation der Bevölkerung von der Basis aus ermöglicht. Der wichtigste Mechanismus dafür sind die Räte, aus denen sich der Stadtrat zusammensetzt. Wir haben den Aufbau dieser Mechanismen derzeit ganz oben auf unsere To-do-Liste gesetzt. Durch die Räte wird nicht nur die direkte Beteiligung der Bevölkerung gewährleistet, auch ermöglichen diese Strukturen, dass alle Teile der Bevölkerung gleichberechtigt von den Dienstleistungen der Stadtverwaltung profitieren können. Die bisherigen Versuche des Aufbaus von Räten waren eher ein Prozess des Sammelns von Erfahrungen. Darauf aufbauend werden wir nun verstärkt unseren Fokus auf diese Arbeit richten.


Wie wird sich das Verhältnis des Stadtrates zur Stadtverwaltung gestalten?


Die nach dem türkischen Gesetz gewählte Stadtverwaltung ist lediglich ein Mitglied des Stadtrates. Das heißt, die Stadtverwaltung repräsentiert ebenso wie die Zivilgesellschaft, wie die Frauen- und Jugendorganisationen, wie die Räte und wie die VertreterInnen verschiedener Volksgruppen und Religionsgemeinschaften dieser Stadt. Im Stadtrat und in den Räten werden kurz-, mittel- und langfristig umzusetzende Projekte diskutiert und es wird über ihre Umsetzung entschieden. Das heißt, dass der Stadtrat sozusagen der Stadtverwaltung eine Agenda vorsetzt. Die Probleme der Stadt werden gemeinsam diagnostiziert, die zutreffenden und realistischen Lösungen hierfür werden gemeinsam beschlossen. Bei der Umsetzung der Lösungen wird die Stadtverwaltung dann eine treibende Rolle spielen. Der Stadtrat wird dann wiederum die Umsetzung kontrollieren.


Erscheint die Umsetzung eines solchen Modells nicht schwierig?


Wir denken, dass mit diesem Modell eine Kultur der Demokratie, der Transparenz und der Partizipation geschaffen werden kann. Aus diesem Grund nehmen wir den Aufbau des Stadtrates sehr ernst. An manchen Orten der Welt wird die Umsetzung ähnlicher Modelle versucht. An einigen Orten gibt es dabei auch Erfolge. Aber in Kurdistan herrschen ganz spezielle Bedingungen. Denn hier ist der Krieg noch nicht zu Ende. Es ist nicht einfach, eine kommunale Selbstverwaltung in einer Region aufzubauen, in der für einen fortdauernden Konflikt keine Lösung gefunden wird. Im Schatten von Gefechten und Konfrontationen sowie Repression ist das wirklich schwer. Ich muss aber dazu sagen, dass wir durch die letzten Kommunalwahlen zahlreiche Freundinnen und Freunde in den Stadtverwaltungen haben, die sich tiefgreifend mit diesem Modell befasst haben. Auch finden innerhalb der Stadtverwaltungen Fortbildungen zu diesem Thema statt.


Kann also davon gesprochen werden, dass das Modell der Demokratischen Autonomie verinnerlicht worden ist?


Als die Demokratische Autonomie ausgerufen worden war, haben sich auch in unseren Kreisen viele gefragt, wie denn dieses Modell ohne Zustimmung des Staates aufgebaut werden könne, oder ob es denn überhaupt funktionieren werde. Aber so langsam, auch im Zuge der praktischen Umsetzung, macht sich die Einsicht breit, dass es sich ganz ohne Erlaubnis des Staates umsetzen lässt. So lassen sich beispielsweise mit Unterstützung der Stadtverwaltung Kooperativen gründen, die sich mit der Frage der Produktion beschäftigen. Oder über die Räte erfahren wir, wo große Armut herrscht, und können versuchen, Unterstützung zu leisten. Und wir sehen auch, dass die Menschen häufiger direkt ihre eigenen Probleme angehen. Während es früher gewöhnlich so war, dass bei einem Problem in einem Stadtteil die Menschen dort direkt zur Stadtverwaltung kamen, halten sie heute eigenständig Versammlungen ab und versuchen, Lösungen für das Problem selbst umzusetzen. Oder sie beschließen, welcher der richtige Lösungsweg ist, und kommen dann bei Bedarf zur Stadtverwaltung mit einer ganz konkreten Unterstützungsanfrage.


Es scheint, dass die Arbeit der Stadtverwaltungen dadurch auch abnimmt ...


Das stimmt, der Stadtverwaltung kommt mit dem Modell der Demokratischen Autonomie nicht mehr dieselbe Verantwortung zu. Denn in diesem Modell entwickelt die Bevölkerung selbst ihre Projekte und die Umsetzung der Projekte ist nicht mehr allein die Aufgabe der Stadtverwaltung, sondern der gesamten Stadt und ihrer Selbstverwaltung. Dadurch gibt es bei der Umsetzung auch weniger Schwierigkeiten, denn im Endeffekt setzt die Bevölkerung ihre eigenen Entscheidungen um.


Welche Wirkung hat dieses Modell auf die Frauen?


Über die Situation der Frauen in Kurdistan brauche ich ja nicht viel zu sagen. Besonders in der Stadt, in der ich jetzt zum Bürgermeister gewählt worden bin, ist ihre Situation erschreckend. Sie leben praktisch in einem Zustand halboffener Haft. Ihr Status wird durch die Männer bestimmt. Sie wurden aus allen gesellschaftlichen Teilen des Lebens herausgerissen. Im kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben sind sie nicht existent.
Unser Modell hat den Anspruch, dieser Realität etwas entgegenzusetzen. Wir wollen, dass Frauen und Männer gleichberechtigt an der Selbstverwaltung partizipieren. Dafür ist unter den gegenwärtigen Bedingungen zunächst eine positive Diskriminierung der Frauen unumgänglich.


Gibt es eine Frauenquote im Stadtrat?


Mehr als das. Die Frauen machen 50 % der Mitglieder im Stadtrat aus, aber auch im Exekutivorgan und auf anderen Ebenen der Selbstverwaltung. Darauf legen wir großen Wert.


Ich würde gern noch mal spezifisch auf Sêrt zu sprechen kommen. Ihre Partei stellt dort mittlerweile seit einiger Zeit die Stadtverwaltung. Was wurde in dieser Zeit erreicht? Wo gibt es weiterhin Aufholbedarf?


Wir stellen nun seit 15 Jahren die Stadtverwaltung in Sêrt. Besonders in den letzten fünf Jahren wurde sehr viel geleistet und vorangebracht. Aber wenn wir unsere Praxis am Anspruch der Umsetzung der Demokratischen Autonomie messen wollen, dann haben wir noch viel zu tun. Unsere bisherige Praxis war eher davon geprägt, den infrastrukturellen Schwierigkeiten beizukommen, die durch die starken Zuwanderungswellen aufgrund der Kriegsflüchtlingsströme erzeugt worden sind. Deshalb ist es uns nicht gelungen, eine Stadtverwaltung zu gestalten, die Projekte entwickelt, der Stadt Perspektiven aufzeigt und die breite Bevölkerung in die Selbstverwaltung einbezieht. Die Situation der Flüchtlinge ließ uns kaum Zeit und Luft dafür. Denn es wurden zahlreiche Wohnungen illegal errichtet, und wir mussten diese Wohnungen an das Wasser- und Stromnetz anschließen. Auch die Schwierigkeiten durch die hohe Arbeitslosigkeit haben uns sehr beschäftigt. Die Praxis unserer Stadtverwaltung war also davon geprägt, den Problemen hinterherzurennen. Gegenwärtig wollen wir eine neue Praxis entwickeln, die den Menschen Perspektiven aufzeigt. Wir wollen die Basis dafür schaffen, dass wir gemeinsam mit den Menschen Lösungen für ihre Probleme erarbeiten und umsetzen, egal ob es dabei um das Wohnproblem, die Frage der Armut, die Arbeitslosigkeit oder etwas anderes geht. Das gilt selbstverständlich auch für die Situation der Frauen. Wir wollen Projekte wie die Frauensolidaritätszentren unterstützen und den Frauen dabei behilflich sein, sich eigene Arbeitsfelder zu schaffen und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen.


Sie wollen also das klassische Modell der Stadtverwaltung überwinden ...


Genau das wollen wir. Das klassische Modell der Stadtverwaltung in der Türkei sieht vor, dass sie sich um Aufgaben wie Straßenreinigung, Straßenpflasterung, um das Wassernetz und den Immobilienverkauf kümmert. Aber auf der ganzen Welt gibt es unzählige Beispiele dafür, dass die kommunalen Stadtverwaltungen mit breiteren Kompetenzen weitaus erfolgreicher auf lokaler Ebene Probleme lösen können als die Zentralregierungen von den Hauptstädten der jeweiligen Länder aus. Trotzdem waren wir bisher in erster Linie mit den eben genannten Aufgaben beschäftigt. Da sich der Staat in Kurdistan nun aber auch nicht mit den anderen Aufgaben beschäftigt, wurden viele Aufgabenbereiche des städtischen Lebens einfach vernachlässigt.


Wenn wir das am Beispiel von Sêrt verdeutlichen wollen, so wissen wir, dass diese Stadt ein Mosaik verschiedenster Kulturen darstellt. Es gibt neben KurdInnen hier auch AssyrerInnen und AramäerInnen, es gibt TürkInnen und AraberInnen. Es wird von einer bis zu 12 500 Jahre alten Geschichte dieser Stadt gesprochen. Aber wenn man sich die Stadt anschaut, sieht man, dass sie eigentlich nicht viel mehr zu bieten hat als ein größeres Dorf. Enge und volle Straßen, überall sind ausschließlich Männer zu sehen. Um Sêrt als Stadt bezeichnen zu können, bedürfte es vieler Veränderungen. Es gibt keine Theater, keine Kulturzentren, keine Orte, an denen sich die Jugend entwickeln könnte. Für die Frauen gibt es ohnehin nichts, denn sie dürfen ja nicht einmal aus dem Haus. Wobei es auch kaum Bemühungen gibt, sie da rauszuholen.


Wird sich da etwas ändern?


Es muss sich etwas verändern. Auch in Kurdistan wird sich das Verständnis von der Kommunalverwaltung ändern. Wenn heute die Existenz der kurdischen Sprache gefährdet ist, so muss sich auch die Stadtverwaltung dieses Themas annehmen. Wenn es in der Stadt ein Armutsproblem gibt, so ist das ein Problem der Stadtverwaltung, und wenn nötig, muss diese für eine Zeitlang für das Brot der betroffenen Familie aufkommen. Auch wenn in dieser Region Krieg herrscht und die Stadt davon unmittelbar betroffen ist, hat natürlich die Stadtverwaltung dafür Sorge zu tragen, dass der gesellschaftliche Druck für einen Frieden aufrechterhalten wird. Auch der Stopp des Ausverkaufs der Reichtümer und der natürlichen Ressourcen dieser Region wird Aufgabe der Stadtverwaltung sein. Und wenn ich hier von der Stadtverwaltung spreche, so meine ich eigentlich auch den Stadtrat, dessen Teil die Stadtverwaltung ist.


Wie werden Sie das speziell in Sêrt machen?


Wir werden in Sêrt einige konkrete Einschnitte vornehmen. Es wird hier viel Tierzucht betrieben und es werden Pistazien angebaut. Doch besonders beim Pistazienanbau stecken sehr viele Menschen viel Arbeit hinein, und das Produkt ihrer Arbeit wird von einer Handvoll HändlerInnen weit unter Arbeitswert verkauft. Es gibt derzeit keinen Mechanismus, der hier intervenieren kann. Der Verkaufspreis der Pistazien ist mehr als viermal so hoch wie die Entlohnung, die die ArbeiterInnen für dieselbe Menge an Pistazien erhalten. Das heißt, knapp 25 % des Verkaufspreises der Pistazien gehen an die ArbeiterInnen und rund 75 % an die ZwischenhändlerInnen. Wir denken, dass genau an einer solchen Stelle die Stadtverwaltung intervenieren muss. Es müssen Mechanismen geschaffen werden, damit die ArbeiterInnen den Gegenwert ihrer Arbeit erhalten. Wenn notwendig, müssen die ZwischenhändlerInnen ausgeschaltet werden, und es muss ein Weg gefunden werden, wie die ArbeiterInnen direkt ihr Arbeitsprodukt auf den Markt bringen. Und genau diesen Weg muss die Stadtverwaltung finden.


Dann gibt es noch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Stadtverwaltung und Zentralregierung. Die Kobürgermeisterin von Amed, Gültan Kışanak, hat zum Beispiel einen Anteil vom Wert des Erdöls aus der Region Amed verlangt.


Das, was Frau Kışanak für Amed (Diyarbakır) verlangt hat, verlangen wir auch für Sêrt. Hier gibt es eine enorme Dichte an Wasserkraftwerken. In Sêrt wird Elektrizität für große Teile der Türkei produziert. Gleichzeitig gibt es in der Stadt zahlreiche Haushalte, denen der Strom gekappt wird, weil die Familien schlichtweg ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Hinzu kommt, dass der Wasserfluss und die Natur durch diese Kraftwerke zerstört werden. Und dennoch zahlen die Menschen hier denselben Preis für die Elektrizität wie in den Städten im Westen der Türkei, die ihren Strom aus Sêrt erhalten. Die Stadtverwaltungen müssen den ihnen zustehenden Anteil von der Zentralregierung nicht nur fordern, sondern erzwingen. In erster Linie muss die lokale Bevölkerung in irgendeiner Weise von den Reichtümern ihrer Region profitieren können. Die Stadtverwaltung muss sowohl ihre Bevölkerung darüber aufklären als auch Druck auf die Zentralregierung erzeugen.


Hinzu kommt, dass beispielsweise die Firmen, die hier den Strom erzeugen, ihre Unternehmenssteuern in Istanbul, Ankara oder Izmir bezahlen. Das heißt, auch davon bekommen die Menschen hier nichts zu sehen. Auch die MitarbeiterInnen der Kraftwerke kommen alle von außerhalb. Noch nicht einmal einen einfachen Besen kaufen sie in Sêrt ein. Das ist eine Ausbeutungslogik, die wir aus dem Zeitalter des Kolonialismus kennen. Du beutest die Region aus, erwirtschaftest deine Profite und gibst rein gar nichts zurück. Das ist die Realität, mit der wir es hier zu tun haben.


Ich möchte noch eines ergänzen: Wenn die Bevölkerung gegen den Bau von Wasserkraftwerken ist, so sollten in Sêrt keine errichtet werden. Der Stadtverwaltung fällt in diesem Zusammenhang nicht nur die Aufgabe zu, den Menschen Dienstleistungen zu liefern, sondern sie auch aufzuklären, in ihnen ein Bewusstsein für die Natur und ihre Umwelt zu schaffen. Dazu gehört auch die Aufklärung darüber, welche Folgen der Bau eines Wasserkraftwerks für das ökologische Gleichgewicht der Region hat. Derzeit wissen die Menschen zum großen Teil nichts darüber. Die Stadtverwaltung ist verantwortlich dafür, dass sich auch das ändert.


Sie hatten vorhin erwähnt, dass Sêrt die Heimat verschiedener Kulturen ist. Wird Ihre Stadtverwaltung auch den Forderungen der anderen Gruppen gerecht?


Wir wollen da keine Unterschiede machen. Wir haben alle Volksgruppen und Religionsgemeinschaften der Stadt dazu eingeladen, Teil dieser Stadtverwaltung zu sein. Die AraberInnen der Stadt haben beispielsweise ähnliche Probleme wie die KurdInnen. Viele der Kinder in arabischen Familien sprechen kaum noch ihre Sprache. Es findet eine Türkisierungspolitik unter den AraberInnen statt. Der Begriff »AraberIn« ist nur noch eine Hülse, der Inhalt dieser Identität wird ausgehöhlt. Aus diesem Grund haben wir sowohl im Wahlkampf als auch danach Wert auf die arabische Sprache gelegt. Wir haben versucht, vor der Assimilationspolitik des türkischen Staates zu warnen. Doch wir wissen auch, dass der türkische Staat versucht, die AraberInnen in Nordkurdistan gegen uns auszuspielen. Es wird versucht, einen Keil zwischen die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Region zu treiben. Doch auch die arabische Bevölkerung begreift die Spielchen der AKP und versteht, dass wir es mit unserer Programmatik ernst meinen. Deswegen haben wir bei den letzten Kommunalwahlen auch so viele Stimmen von der arabischen Bevölkerung erhalten wie noch nie.


Wie sehen die dazugehörigen praktischen Schritte der Stadtverwaltung aus?


Das Erste, was wir nach unserer Wahl gemacht haben, war, dass wir am Gebäude der Stadtverwaltung Beschriftungen in drei Sprachen, also Arabisch, Türkisch und Kurdisch, angebracht haben. Wir wollen in Zukunft dreisprachige Kindergärten ins Leben rufen. Auch werden wir, wie wir es beim New­roz-Fest tun, die Feste der anderen Gruppen mit ihnen feiern. Die AraberInnen feiern beispielsweise die Feste »Cigor« und »Melede«. Wir wollen als Stadtverwaltung gern auch Gastgeberin dieser Feste werden. Uns ist wichtig, den Menschen deutlich zu machen, dass die BDP nicht allein eine Partei der Kurdinnen und Kurden ist, sondern alle Menschen und Gruppen mit gleichem Respekt behandelt.


Mit der Bürgermeisterwahl wurden ja auch Stadträte gewählt. Sind über Ihre Liste denn auch Mitglieder anderer Volksgruppen gewählt worden? Ist es der BDP gelungen, die Vielfalt der Stadt über ihre Liste im Stadtrat widerzuspiegeln?


Wir haben uns vor der Wahl mit den AraberInnen der Stadt getroffen und ihnen das Angebot gemacht, mit uns gemeinsam eine KandidatInnenliste zusammenzustellen. Viele von ihnen begegneten unserem Vorschlag eher distanziert, was vor allem mit den Vorurteilen zu tun hat, die der türkische Staat zwischen uns gesät hat. Aber wir sind auch mit arabischen FreundInnen und GenossInnen zusammengekommen, die früher in revolutionären Bewegungen aktiv waren oder die selbst in den 80ern im Gefängnis von Amed gesessen und dort die kurdische Freiheitsbewegung kennengelernt haben. Das sind FreundInnen, die auf die Worte des Staates nichts geben und uns gut kennen. Einige von ihnen wurden auch über unsere Listen gewählt. Selbst wenn ihre Zahl gering ist, glaube ich, dass ihre Wahl doch auch etwas in den Köpfen der übrigen arabischen Bevölkerung von Sêrt bewirkt hat.


Wenn wir während des Wahlkampfes von der Demokratischen Autonomie sprachen, haben die TürkInnen und AraberInnen der Stadt es so aufgefasst, als wollten wir die Türkei spalten. Wir haben deshalb versucht, ihnen zu erklären, dass die Selbstverwaltung im Sinne der Demokratischen Autonomie das genaue Gegenteil einer Spaltung ist. Wir wollen die Menschen in der Türkei zusammenbringen, damit sie gemeinsam über sich selbst bestimmen. Ich weiß nicht, ob wir sehr erfolgreich mit unseren Erklärungsversuchen waren. Aber ich hoffe, dass wir durch unsere Praxis auch die letzten Menschen überzeugen werden.