Die Situation in Äthiopien

Zwischen Bürgerkrieg und politischer Selbstbestimmung

Semai Tesfahuney


Dieser Artikel versucht einen Überblick zu geben über die aktuell sich zuspitzende Situation in Äthiopien. Dabei ist der Fokus vor allem auf die regionalen Akteur:innen gelegt worden, und es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Insbesondere die Rolle der Türkei und der Vereinigten Arabischen Emirate, welche den äthiopischen Staatsführer im Krieg unterstützen, kann hier leider nur kurz angerissen werden.

Die Kriegssituation in Äthiopien hat in den letzten Wochen eine neue Eskalationsstufe erreicht. Tausende von Menschen sind aufgrund der Situation vor allem in benachbarte Länder wie den Sudan geflohen. Seit Kriegsausbruch hat die katastrophale Situation bereits für Hunderttausende einen tödlichen Ausgang.

Seit November 2020 führt die äthiopische Regierung eine Militäroffensive in der Region Tigray im Norden Äthiopiens durch. Was offiziell als kurze »Law and Order«-Operation gegen die tigrayische Regionalregierung deklariert worden war und seitens der äthiopischen Regierung schon Ende November 2020 als beendet galt, erschüttert die ganze Region Tigray bis heute tiefgehend und hat darüber hinaus auch Nachbarregionen destabilisiert. Durch die Fortsetzung der Kampfhandlungen und das eskalierende Vorgehen des äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed befindet sich der Vielvölkerstaat in einem Bürgerkriegszustand. Ausgelöst wurde die Militäroffensive, laut Regierungschef Ahmed, durch einen Angriff der TPLF (Tigray People’s Liberation Front) auf einen Militärstützpunkt der äthiopischen Zentralarmee in Tigray am 4.11.2020. Zuvor hatte die Regionalregierung in Tigray Wahlen abhalten lassen wollen, was der Premierminister jedoch verbot – ein Ausdruck des Machtkampfes gegen die TPLF. Seitdem marschierten zentraläthiopische, eritreische und amharische Truppen in Tigray ein und verübten genozidale Gräueltaten an der tigrayischen Bevölkerung.

Innenpolitischer Machtwechsel (Kampf gegen Tigray)

Die TPLF, die als Guerillabewegung den damaligen marxistisch-leninistischen Derg1 besiegte, dominierte in einer Koalition mit anderen Parteien für fast 30 Jahre die äthiopische Regierung und formte das politische Modell Äthiopiens in einen föderalen Vielvölkerstaat um. Nachdem der gegenwärtige Premierminister an die Macht kam, wurde deutlich, dass er ein Interesse daran hatte, das äthiopische Staatsgefüge wieder umzuformen. Bereits seit seinem Amtsantritt im Jahr 2018 ist die politische Situation zwischen der Regierung und der Regionalpartei Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) angespannt.

Noch im Oktober 2019 erhielt Abiy Ahmed in Oslo den Friedensnobelpreis für seine Bemühungen zur Lösung des jahrzehntelangen Konflikts mit Eritrea. Kaum einen Monat später, am 1. Dezember gründete der regierende Ministerpräsident Äthiopens seine neue Einheitspartei, die Wohlstandspartei, von der die TPLF ausgeschlossen wurde. Damit blieb sie auch von der Beteiligung an Entscheidungen ausgeschlossen. Ahmed ging es schon seit seinem Amtsantritt 2018 um die Installierung einer zentralisierten, einheitlichen Machtstruktur, die dem bisherigen ethnisch-föderalistischen Gefüge Äthiopiens, für das die vormalige TPLF-Regierung eintrat, widerspricht. Seit Beginn seiner Amtszeit ließ Abiy Ahmed jegliche Opposition unterdrücken, neben den tigrayischen politischen Gegner:innen auch viele aus der Region Oromia, wo er als ethnischer Oromo seine politische Karriere begann. Obwohl der Nobelpreisträger bei der Preisverleihung die Freilassung politischer Gefangener betonte, organisierte Ahmed gleichzeitig eine Verhaftungswelle, die Tausende oppositionelle Aktivist:innen und Anführer:innen aller ethnischen Parteien betraf. Es ist vor allem die amharische Elite in der Hauptstadt Addis Abeba, welche Ahmeds politische Vision teilt. Mit ihr und dem eritreischen Regierungschef hat er eine politische Dreierallianz gegen Tigray gebildet.

Seit Herbst 2020 werfen unterschiedliche internationale Organisationen der äthiopischen Regierung, die durch eritreische Truppen des Diktators Afwerki, aber auch durch amharische Milizen unterstützt wird, schwere Kriegsverbrechen vor. Neben unzähligen Massakern in Tigray leidet die Zivilbevölkerung vor allem unter Plünderungen und Vernichtung der medizinischen Versorgung. Mehrere heilige Kulturstätten wurden gezielt zerstört. Aber auch das Mittel der Vergewaltigung wurde systematisch als Waffe gegen die Bevölkerung eingesetzt, um diese gezielt zu traumatisieren und die tigrayische »bloodline«2 zu zerstören. Darüber hinaus erlebt die Bevölkerung Tigrays seit mehr als einem Jahr eine Hungerkatastrophe, die ca. 5 Millionen Menschen betrifft. Denn die Zentralregierung hat die Zufahrtswege in die nördliche Region blockiert und unternimmt durch die Zerstörung von Feldern gezielt den Versuch, die Bevölkerung auszuhungern. Seit Kriegsbeginn äußern sich internationale Organisationen bestürzt. All diese Kriegsmaßnahmen widersprechen der ursprünglichen Aussage der Regierung, nur eine kurze militärische Operation gegen die tigrayische politische Führung, die TPLF, durchführen zu wollen. Stattdessen ist im Laufe des Krieges deutlich geworden, dass die Kriegsmittel darauf abzielen, die tigrayische Bevölkerung zu vernichten und jegliche Form des Wiederaufbaus nach Kriegsende unmöglich zu machen. Auch die Situation der eritreischen Geflüchteten, die in Tigray Zuflucht vor der eritreischen Diktatur suchten, ist seit Kriegsbeginn mehr als prekär. Mehrere Quellen verweisen darauf, dass 20.000 eritreische Flüchtlinge bereits Anfang des Jahres aus Flüchtlingscamps in Tigray nach Eritrea zwangsdeportiert worden sind, um dort gefoltert zu werden oder Kriegsdienst leisten zu müssen. Einige schafften bereits ihre zweite Flucht nach Äthiopien, um ihrem Schicksal zu entgehen.

Eritreischer Kriegspartner

Eritrea ist bekannt für sein autoritäres und repressives Regime und wird wegen des Einparteienstaatssystems und der massiven Menschenrechtsverletzungen als afrikanisches Nordkorea bezeichnet. Insbesondere die Zwangsarbeit bedeutet eine staatliche Sklavenhaltung der Bevölkerung. Alle volljährigen Menschen müssen nach ihrer Schulausbildung auf unbestimmte Dauer, in der Regel für Jahrzehnte, unentgeltlich für die Regierung arbeiten und den Militärdienst absolvieren. Es gibt nicht den leisesten Ansatz einer Umsetzung von Menschenrechten und Pressefreiheit und keine demokratischen Institutionen. Stattdessen wird jegliche Opposition im Keim erstickt, und die repressive Situation im Land treibt durchschnittlich monatlich 5.000 Menschen in die Flucht. Präsident Afwerki hat in den letzten Jahren einen Staat geformt, mit dem er zwar international aneckt und sich isoliert. An der Kriegsoffensive soll jedoch laut Einschätzungen insbesondere Isayas Afwerki profitieren, da er erstmals einen starken Verbündeten an seiner Seite hat, mit dem er seinen Erzfeind Tigray bekämpft3. Im Lauf des letzten Jahres wurde auch deutlich, dass das Friedensabkommen zwischen Äthiopien und Eritrea 2019 besiegelt wurde, um einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung in Tigray zu führen und die Militäroffensive vorzubereiten. Außerdem wird die Zentralregierung Äthiopiens durch die türkische Regierung militärisch unterstützt, was sich unter anderem in deren Lieferung von Drohnen und Kriegsfinanzierung ausdrückt. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind ebenfalls durch militärische Unterstützung an der Seite der äthiopischen Zentralregierung im Kampf gegen Tigray involviert.

Zuspitzung an der Kriegsfront

Große Teile Tigrays waren nach der militärischen Invasion unter der Kontrolle der äthiopischen Zentralregierung, des eritreischen Militärs und der amharischen Miliz. Die Tigray Defence Force, der bewaffnete Arm der TPLF, zog sich in die Berge zurück. Seit Juni 2020 eroberte die TDF zentrale Städte der tigrayischen Region wie die Hauptstadt Mekele, Adigrat und Axum wieder zurück. Die TDF konnte in den Kampfhandlungen einen militärischen Vorsprung erlangen und bewegt sich derzeit in Richtung Hauptstadt, um eigenen Aussagen nach die Lebensmittelblockaden aufzuheben. Aktuell finden die Kampfhandlungen nur wenige hundert Kilometer vor der Hauptstadt statt. In den letzten Monaten hat sich als oppositionelle Gruppe nun auch die Oromo Liberation Army offiziell an der Seite der TPLF dem bewaffneten Kampf gegen Abiy Ahmeds politische Agenda angeschlossen. Es gibt unzählige Berichte über Deportationen von ethnischen Tigrayer:innen in der Hauptstadt aber auch in anderen Regionen sowie unzählige Festnahmen wegen des Verdachts, der Opposition anzugehören. Zudem wurde nun in ganz Äthiopien jegliche Berichterstattung über den Konflikt verboten und der Ausnahmezustand verhängt. Der äthiopische Premierminister befindet sich nach eigenen Aussagen nun selbst an der Front um zu kämpfen und ruft alle Bürger:innen des Landes dazu auf, sich ihm anzuschließen.

Im Kampf um Tigray wird deutlich, dass es voraussichtlich nicht möglich sein wird, einen politischen Kompromiss zu erzielen. Durch die hohe Eskalationsstufe sind die Zwischenräume für jeglichen politischen Kompromiss bereits verpasst. Auch internationale Mediation durch die Afrikanische Union oder die UNO wurde insbesondere seitens Abiy Ahmed abgelehnt. Prognosen besagen, dass das Interesse der TPLF in Zukunft darauf gerichtet sein wird, ihre Selbstbestimmung und Autonomie abzusichern, was wahrscheinlich in die Idee der Abspaltung von Äthiopien münden wird. So oder so ist die aktuelle Zuspitzung des Konflikts in Äthiopien entscheidend für die Zukunft des Staates am Horn von Afrika. Aber auch für die gesamte Region.

Fußnoten:

1 - Provisorischer Militärverwaltungsrat, Militärjunta 1974-1987.

2 - Dies geht aus Berichten von Betroffenen der sexualisierten Gewalt hervor, die davon erzählten, dass die Täter sie mit dieser Intention vergewaltigten. Dabei ist auch zu beachten, dass es zwar ein politischer Kampf ist, der in dem Konflikt ausgefochten wird. Dieser ist jedoch ethnisch aufgeladen und wendet sich rhetorisch und faktisch nun gegen alle Menschen tigrayischer Herkunft. Ebenso werden Menschen, die Tigrinya sprechen, in andern Regionen Äthiopiens mittlerweile von ihrer Arbeit entlassen, verhaftet und gefoltert. In den letzten Monaten häufen sich die Berichte über Deportationen/Entführungen von Tigrayer:innen zu zentralisierten Internierungslagern.

3 - Nachdem die eritreische und die tigrayische Befreiungsbewegung gemeinsam 1991 die damalige äthiopische Regierung unter dem Dergregime gestürzt hatten, gründete die eritreische Befreiungsbewegung den eritreischen Staat und kapselte sich von Äthiopien ab. Die tigrayische Befreiungsbewegung übernahm in der Koalition mit anderen Parteien viele Machtpositionen in der äthiopischen Regierung. 1998-2000 kam es zwischen den beiden ehemals verbündeten Organisationen und nun Regierungen zu einem Grenzkonflikt um die Stadt Badme. Seitdem sind die beiden Länder miteinander verfeindet.


 Kurdistan Report 219 | Januar/Februar 2022