Reise der Zapatistas in Europa

Besuche, Gespräche und ein Blick nach Chiapas

Matilda Feinberg


Teil 1: Das Zuhören und das Sprechen

»Dieses Mal ist es eines der wenigen Male, dass wir das Wort nutzen innerhalb eines Events, wo nur Wenige sprechen und Viele zuhören.
Und wir nutzen es für eine respektvolle Bitte an Euch.

Erzählt uns Eure Geschichte. Es spielt keine Rolle, ob sie groß oder klein ist.

Erzählt uns Eure Geschichte des Widerstands und der Rebellion. Eure Schmerzen, Eure Wut, Eure ›Nein‹, Eure ›Ja‹.«1

Nach vielen, scheinbar unüberwindbaren Hürden ist es endlich so weit: die Zapatistas sind zu Besuch, um das Europa von unten und links kennenzulernen. Die Delegation besteht aus Mitgliedern der Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), des Congreso Nacional Indígena (CNI) und der Frente de Pueblos en Defensa del Agua y la Tierra de Morelos, Tlaxcala y Puebla (FPDTA-MPT), die auf einer Reise für das Leben alle fünf Kontinente besuchen möchten, um von den Kämpfen der Kollektive, Initiativen, Gruppen und Projekten der Bewegungen von links und unten zu hören und ihre Erfahrungen zu teilen. Seit dem 14. September bereisen sie SLUMIL K ´AJXEMK´ OP, das »Rebellische Land« und befinden sich momentan drei Wochen in Deutschland. In den vergangenen Wochen fanden bereits viele Treffen zwischen Kollektiven und Gruppen statt, wurden Räume der Begegnung, des gegenseitigen Zuhörens, der gemeinsamen Trauer und Freude geöffnet ‒ auch in kurdischen Vereinen.

Kämpfe zu verbinden, sich mit allen Unterschieden, Verschiedenheiten und Besonderheiten zu begegnen und in den Augen der Anderen den eigenen Schmerz und die eigene Wut zu erkennen wird wichtiger denn je. Bereits jetzt hat »die Reise für das Leben« viele verschiedene Menschen in dem entstehenden »Netz der Rebellion« zusammengebracht. Eine Zwischenstation dabei war das »Rebellische Zusammentreffen« im Wendland, wo Raum geschaffen wurde, von den Erfahrungen der Zapatistas zu lernen und über nächste konkrete Schritte der Organisierung zu diskutieren.

Wir sehen, wie sich an allen Ecken der Welt die Krise der kapitalistischen Moderne zuspitzt. Die Reise der Zapatistas bedeutet einen großen Schritt hin zu einer globalen Organisierung des Widerstandes, dessen Notwendigkeit auch die kurdische Frauenbewegung formuliert, mit dem Vorschlag eines Weltfrauenkonföderalismus.

Teil 2: Ein Blick nach Chiapas

Derweil verschärft sich die Situation in Chiapas unter anderem mit der Entführung zweier Compañeros und Verantwortlichen des Rates der Guten Regierung des Caracol Patria Nueva durch die paramilitärische Organisation ORCAO. Im folgenden Kommuniqué spricht die EZLN deutliche Worte und beendet es mit »Bei nochmaligem Geschehen wird es kein Kommuniqué geben. Das heißt: Es werden keine Worte, sondern Taten folgen«.

Als das Europa von unten und links, als diejenigen, die dem Herzen der Bestien am nächsten sind, sollten wir uns fragen, wie unsere Taten aussehen werden. Heute hören wir uns zu, heute erzählen wir von unseren Schmerzen, morgen ist die Zeit reif, den kollektiven Schmerz in vereinte Wut zu verwandeln.

Kommuniqué des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkommandantur (CCRI – CG) der Ejército Zapatista de Liberación Nacional – EZLN. Mexiko.
September 2021.

An das Pueblo Mexikos, an die Pueblos der Welt, an die Sexta Nacional und Internacional, an das Europa von unten und links.

Erstens. In den Morgenstunden des 11. September 2021, als die zapatistische Flug-Delegation sich in Mexiko-Stadt befand, entführten Mitglieder der ORCAO2 – paramilitärische Organisation im Dienste der Regierung des Bundesstaates Chiapas – die Compañeros SEBASTÍAN NUÑEZ PEREZ und JOSE ANTONIO SANCHEZ JUAREZ, autonome Verantwortliche des Rates der Guten Regierung [des Caracol] Patria Nueva, Chiapas.

Die ORCAO ist eine politisch-militärische Organisation paramilitärischen Zuschnitts. Sie besitzt Uniformen, Ausrüstung, Waffen und Munition, die sie sich mit dem Geld aus den sozialen Programmen [der Regierung] beschafft. Einen Teil davon behält sie selbst und den anderen Anteil erhalten die Regierungsbeamt*innen, damit sie öffentlich sagen, die Unterstützungsprogramme werden erfolgreich umgesetzt. Mit ihren Waffen beschießt die ORCAO jede Nacht die zapatistische Gemeinde MOISÉS Y GANDHI.

Die EZLN hat die Geduld bewahrt, bis die möglichen Kanäle für eine Lösung erschöpft waren. Während die Regierung des Bundesstaates Chiapas [die Befreiung der beiden Compañeros] lediglich sabotierte und störte, waren es Organisationen der Menschenrechtsverteidigung und die fortschrittlichen [Teile der] katholischen Kirche, die mit Gerechtigkeitssinn genauestens auswerteten, was geschehen könnte.

Zweitens. Die Compañeros waren acht Tage lang ihrer Freiheit beraubt – und sie wurden heute, am 19. September 2021, befreit – dank der Interventionen der Pfarreien von San Cristóbal de las Casas und Oxchuc, die zur Diözese von San Cristóbal de las Casas gehören. Den Compañeros wurden ein Funkgerät und 6.000 Peso geraubt, die dem Rat der Guten Regierung gehören.

Drittens. Das Delikt einer Entführung wird laut Gesetzen der schlechten Regierung und laut den zapatistischen Gesetzen bestraft. Während die Regierung des Bundesstaates von Chiapas diese Verbrechen vertuscht, dazu ermuntert und nichts tut, ging die Ejército Zapatista de Liberación Nacional – EZLN dazu über, die notwendigen Mittel zu ergreifen, um die Entführten zu befreien und die für das Verbrechen Verantwortlichen festzunehmen und zur Rechenschaft zu ziehen.

Viertens. Dass der Konflikt nicht bis zu einer Tragödie eskaliert ist, lag an dem Eingreifen der erwähnten Pfarreien, den Organisationen der Menschenrechtsverteidigung und den Mobilisierungen und öffentlichen Protesten, die in Mexiko und vor allem in Europa umgesetzt wurden.

Fünftens. Die Miss-Regierung von RUTILIO ESCANDÓN tut alles, damit der südöstliche mexikanische Bundesstaat Chiapas destabilisiert wird:

  • Sie unterdrückt mit großer Gewalt die Normalistas, die Student*innen der ländlichen Normal-Schulen.
  • Sie sabotiert die Vereinbarungen zwischen der demokratischen Lehrer*innen-Gewerkschaft und der mexikanischen Staatsregierung und zwingt die Lehrer*innen, sich radikal zu mobilisieren, damit diese Vereinbarungen erfüllt werden.
  • Ihre Bündnisse mit dem Drogenhandel bewirken, dass sich die Comunidades originarias3 gezwungen sehen, Selbstverteidigungsgruppen zu bilden. Denn die Regierung tut nichts, um Leben, Freiheit und Güter der Einwohner*innen zu schützen. Die Regierung von Chiapas vertuscht nicht nur die Drogenhändler-Banden, sondern ermutigt, fördert und finanziert paramilitärische Gruppen – wie jene, die unausgesetzt die Gemeinden von Aldama und Santa Martha angreifen.
  • Sie führt eine gewollt langsame und ungeordnete Impfpolitik durch, die Streit und Ablehnung in der ländlichen Bevölkerung provoziert – und es wird nicht lange dauern, bis diese explodiert. Währenddessen steigt die Anzahl der COVID-Toten in den Comunidades, den Gemeinden, ohne dass sie beachtet wird.
  • Von den öffentlichen staatlichen Geldern rauben die Funktionär*innen, die Regierungsbeamt*innen, das, was sie ergattern können. Möglicherweise bereiten sie sich derart auf einen Zusammenbruch der mexikanischen Regierung vor oder setzen auf einen Parteienwechsel an der Macht.
  • Jetzt ging es darum, die Abfahrt der zapatistischen Delegation – die an der Reise für das Leben, Kapitel Europa, teilnimmt – zu sabotieren: indem sie ihren Paramilitärs der ORCAO die Entführung unserer Compañeros anordnete, dieses Verbrechen straffrei ließ und versuchte, eine Reaktion der EZLN zu provozieren – mit dem Ziel den Bundesstaat zu destabilisieren, dessen Regierbarkeit an einem seidenen Faden hängt.

Sechstens. Wenn das Ziel der Grünen Ökologistischen Partei Mexikos (PVEM) darin besteht, ein Problem zu schaffen, welches internationale Auswirkungen haben wird, sowie das Regime an der Macht zu destabilisieren – es wäre wohl besser, wenn sie auf die »Volksbefragung zur Aufhebung/Bestätigung des Präsidentschaftsmandats«4 zurückgreifen würde.

PVEM ist einer der Namen, den der langjährige PRIismus5 in Chiapas benutzt. Manchmal nennt er sich PAN, manchmal PRD, gegenwärtig tritt er schlecht verkleidet als MORENA-Partei6 auf. Es sind dieselben Kriminellen von früher – und heute sind sie Teil der schlecht benannten »Oppositions«-Bewegung – als »5. Kolonne« der 4T.7

DIE VERANTWORTLICHEN SIND: Rutilio Escandón und Victoria Cecilia Flores Pérez.8

Falls sie die aktuelle Staatsregierung stürzen wollen oder Schwierigkeiten bereiten wollen als Repressalie gegen die Strafverfolgungen, die gegen sie laufen, oder innerhalb einer der Fraktionen mitspielen wollen, die sich um die Regierungsnachfolge 2024 streiten, dann sollen sie doch ihre legalen Kanäle nutzen, zu denen sie Zugang haben – und es sein lassen, mit Leben, Freiheit und Gütern der Menschen in Chiapas ihr Spiel zu treiben. Wählt oder ruft zum Widerruf des Regierungsmandates4 auf – aber hört auf, mit dem Feuer zu spielen, denn Ihr werdet verbrennen.

Siebtens. Wir rufen das Europa von unten und links und die Sexta Nacional und Internacional dazu auf, vor den mexikanischen Botschaften und Konsulaten und in den Gebäuden der Regierung des Bundesstaates Chiapas zu demonstrieren – um zu fordern, dass die Provokationen eingestellt werden und sie ihren Todes-Kult aufgeben, dem sie nachgehen.
Freitag, 24. September 2021.

Angesichts der Handlungen und Unterlassungen der bundesstaatlichen und staatlichen Regierungsverantwortlichen gegenüber dem aktuellen und den vorherigen Verbrechen werden wir die angemessenen Mittel einsetzen, damit Recht und Gerechtigkeit angewandt und umgesetzt werden – gegen die Kriminellen der ORCAO und die Regierungsfunktionär*innen, die sie fördern.

Das ist alles. Bei nochmaligem Geschehen wird es kein Kommuniqué geben. Das heißt: Es werden keine Worte, sondern Taten folgen.

Aus den Bergen des Südostens Mexikos. Im Namen des CCRI – CG. Subcomandante Insurgente Galeano. Mexiko, 19. September 2021.

Fußnoten:

1 - https://www.ya-basta-netz.org/comunicado-gerade-500-jahre-danach/

2 - ORCAO: Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo: »Regionale Organisation der Kaffeeanbauer von Ocosingo«.

3 - Wörtlich übersetzt: »originäre/ursprüngliche Gemeinden«; hier gemeint sind: Gemeinden von Pueblos originarios in Chiapas.

4 - Diese soll offiziell am 27. März 2022 stattfinden, um das Regierungsmandat der jetzigen Regierung zu bestätigen oder zu widerrufen.

5 - Korrupte Strukturen und Klientel-Politik der über 70 Jahre lang herrschenden PRI-Partei (»Partei der Institutionalisierten Revolution«).

6 - Namen mexikanischer Parteien. Die jetzige Regierungspartei unter dem Staatspräsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) nennt sich »Bewegung der Nationalen Erneuerung« (MORENA).

7 - 4T: sogenannte »Vierte Transformation«; die jetzige offizielle, neoliberale Regierungspolitik unter AMLO.

8 - Rutilio Escandón und Victoria Cecilia Flores Pérez: Gouverneur und Innenministerin des Bundesstaates Chiapas.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021