Aktuelle Bewertung

Kein Status für die Kurd:innen – Zustimmung für den Krieg in Kurdistan

Songül Karabulut

Demonstration in Berlin: Verteidigt Kurdistan | Foto: anfNeben dem Chaos und den Krisen politischer Natur macht sich auch Mutter Natur gegen die Profitgier des Kapitalismus bemerkbar. Die Veränderungen des Klimas sind auf allen Kontinenten spürbarer geworden. Mit Dürre, Waldbränden, Überflutungen meldet sich die Natur. Deren totale Ausbeutung, die Respektlosigkeit aufgrund der Profitgier sind in den letzten Monaten an die Grenzen des Ertragbaren gestoßen, die sich in Form von Naturkatastrophen zeigen. Aber so, wie es dem Wesen des Kapitalismus entspricht, versucht er diese von ihm selbst verursachte Katastrophe mithilfe des »Grünen Kapitalismus« zu vertuschen. Sich zum Klimawandel bei internationalen Konferenzen zu äußern, ändert nichts an der Tatsache, dass es die Verursacher selbst sind, die nicht selbstkritisch, sondern manipulativ die Weltöffentlichkeit hinhalten.

Die Aufteilung der Welt geht weiter. Die Krise in Myanmar, der Putsch in Tunesien, ein erneuter brutaler Ausbruch des Krieges in Kolumbien, die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan, die Ermordung des Präsidenten von Haiti, die türkische Invasion in Südkurdistan und Nordsyrien ‒ das sind einige konkrete Beispiele der politischen Krise des Kapitalismus.

Wir stehen sowohl aufgrund der Naturkatastrophen als auch politisch vor großen Herausforderungen.

Die USA, die NATO, der Westen

Es hat nun mehr als sechs Monate gedauert, bis die USA nach der Abwahl Trumps die Richtung ihrer Politik konkretisierten. Unter Ex-Präsident Donald Trump war das Land tief gespalten und polarisiert, das Ansehen der USA in der Welt beschädigt, die Bündnispartner waren irritiert und distanziert, und die Politik gestaltete sich sehr ambivalent.

Als ersichtlich wurde, dass diese Politik der Ignoranz und puren Berechnung bei Menschen weltweit auf Widerstand stößt und sie sich dagegen zu organisieren beginnen, wurde ein Kurswechsel eingeleitet, um die Kontrolle nicht zu verlieren und einer möglichen Gegenkraft den Wind aus den Segeln zu nehmen. Während Trump den unberechenbaren Präsidenten gab, ist Joe Biden nun der »maßvolle« Präsident, der statt mit aggressiv-militärischer Politik mit »soft power« versuchen wird, die Interessen der USA und des Systems durchzusetzen. Die Ankündigung Bidens, Amerika sei zurückgekehrt, soll das zusammenfassen.

Vor diesem Hintergrund markiert der letzte NATO-Gipfel am 14. Juni einen Wendepunkt, weil dort einige dieser Ziele benannt wurden.

Er diente vor allem den um die Korrektur der von Trump hinterlassenen Schäden bemühten USA. Auch wenn sie sich als eine Weltmacht verstehen, so wurde auf diesem Gipfel klar, dass »America first« einfach nicht funktioniert. Mit der Wahl Joe Bidens waren neue Hoffnungen auf Wiederannäherung an die von Donald Trump düpierten Allianzpartner und auf die Überwindung der internationalen Isolierung der USA geweckt worden. Für neue Akzente unter dem neuen Präsidenten brauchte es mehr als sechs Monate, und die USA sind immer noch damit befasst, ihre neuen Taktiken zu formulieren.

Ohnehin lässt sich feststellen, dass die Rolle der NATO seit längerem umstritten ist. Zuletzt hatte sie der französische Präsident Macron als »hirntot« bezeichnet. Unter dem Motto »NATO 2030: Vereint in eine neue Ära« sollte der Gipfel die Allianz unter den dreißig Mitgliedsstaaten betonen und Einigkeit über eine Haltung gegenüber China und Russland herstellen, die zu neuen Feinden deklariert wurden. Die USA sehen die wachsende wirtschaftliche Kraft und den Einfluss Chinas als Bedrohung. Sie kämpfen um ihre Vorherrschaft und werden mit allen Mitteln versuchen, China daran zu hindern, künftig Hegemonialmacht zu werden. Auch Russland wurde mit der NATO gedroht. Biden bezog sich auf den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags und ließ vernehmen, Russland werde im Falle einer Aggression gegen eines der osteuropäischen Länder wie z. B. Polen angegriffen, und gab Russland zu verstehen, dass seine militärische oder politische Einflussnahme in Europa nicht geduldet werde. Diese Konfrontation wird vor allem im Mittleren Osten ausgetragen werden. Sie werden versuchen, so viele Akteure wie möglich auf ihre Seite zu ziehen, diejenigen zu neutralisieren, die ihrem Ziel entgegenstehen, und wenn nötig neuen Akteuren zur Macht verhelfen.

Die USA haben auch damit begonnen, ihre Bündnisse und Allianzen zu erneuern. So ist zu erwarten, dass unter Biden die Beziehungen zu nichtstaatlichen Akteuren zunehmen werden. Vor diesem Hintergrund wurde als Erstes die strategische Bedeutung der EU unterstrichen, und die EU hat wohlwollend die Führungsrolle der zurückgekehrten USA anerkannt. Biden wird versuchen, die EU in seiner Nähe zu halten und sie mehr in Entscheidungen und in die Politik einzubeziehen, statt nur Alleingänge zu unternehmen.

NATO-Partner Türkei

Vor allem der US-Außenminister unterstrich auf dem NATO-Gipfel die strategische Bedeutung der Türkei für die Allianz, die dafür aber konkret nichts Neues zu bieten hatte. Der Westen und die NATO nutzen die bedrängte Situation der Türkei, um sie näher an sich zu binden und ihr eine militärische Rolle zuzuweisen. Einer geschwächten Türkei können leichter Zugeständnisse abgerungen werden. Ihr wurde erneut die Rolle der Wächterin für die Außengrenzen der NATO übertragen. Aktuell geht es darum, dass die Türkei die Sicherheit des Flughafens in der afghanischen Hauptstadt Kabul nach dem Abzug der US-Truppen gewährleisten soll.

Die NATO wird die Türkei in Regionen einsetzen, die seinerzeit zur sowjetischen Einflusssphäre gehörten; mit anderen Worten: Die Türkei wird im Kampf gegen Russland zum Schutzschild der NATO. Schon jetzt sind einige Schritte der Türkei wie der Verkauf von Drohnen an Polen oder ihr Bekenntnis zur Krim als Teil der Ukraine mit Gegenreaktionen Russlands beantwortet worden. So wurde der Tourismus aus Russland, auf den Erdoğan stark angewiesen ist, eingestellt.

Der Westen und die NATO werden die Türkei als Druckmittel gegen Syrien, den Irak und den Iran benutzen, wie sie es seit längerem gegen die Kurd:innen in Rojava und Nordostsyrien bereits praktizieren.

Weiterhin wird die Türkei als Abwehrmauer für Flüchtlinge dienen. Neben den Flüchtlingen aus Syrien ist jetzt auch eine große Anzahl Geflüchteter aus Afghanistan zu erwarten.

All diese Anforderungen wird die Türkei nicht ohne Zugeständnisse erfüllen wollen. Daher wird sie aus den USA und der EU weiterhin finanziell unterstützt werden und, viel wichtiger, im Kampf gegen die Kurd:innen politische, geheimdienstliche und militärische Hilfestellung erfahren.

Kein Gespräch mit türkischen Staatsvertreter:innen ist denkbar, ohne dass über Kurd:innen verhandelt wird. Es ist davon auszugehen, dass das auch auf dem NATO-Gipfel geschah.

Einen Tag vor dem Beginn des jüngsten Besatzungs- und Vernichtungskriegs der Türkei gegen die Guerilla in den Medya-Verteidigungsgebieten am 24. April zum Jahrestag des Genozids an den Armenier:innen hatte ein Telefongespräch zwischen Biden und Erdoğan stattgefunden ‒ wohl die Zustimmung von USA und NATO für diesen Krieg.

Laut Aussagen aus Washington soll Biden Erdoğan nahegelegt haben, dass die Türkei Nord- und Ostsyrien und Şengal den USA überlassen solle, ansonsten aber freie Hand für ihren Vernichtungskrieg habe. Die USA würden selbst dafür sorgen, dass der Einfluss der PKK in Nord- und Ostsyrien und Şengal gebrochen werde. Es besteht ein Konsens darüber, dass verhindert werden soll, dass Kurd:innen aus dem dritten Weltkrieg mit einem Status hervorgehen, der ihnen ihre Existenz und das Recht garantiert, frei und selbstbestimmt zu leben.

Irak und Iran

Der irakische Ministerpräsident Mustafa Al-Kadhimi hielt sich am 26. Juli für Amtsgespräche mit US-Präsident Biden in den USA auf.

Anschließend wurde verkündet, dass die US-Truppen nach 18 Jahren ihre Kampfhandlungen im Irak bis Ende des Jahres offiziell beenden würden. Sie würden sich nicht zurückziehen, sondern ihre Rolle als Helfer:innen und Ausbilder:innen fortsetzen.

Mit dieser Umwidmung wären die USA nicht mehr eine Besatzungsmacht im Irak, sondern würden sich im Rahmen der bilateralen Beziehungen auf Wunsch des Iraks zur Unterstützung im Land aufhalten. So hätte niemand mehr einen Grund, den Abzug der US-Einheiten zu fordern. Die Angriffe auf US-Stützpunkte wären damit auch nicht mehr »begründet«. Die US-Stützpunkte im Irak sind immer wieder Ziel von Raketenangriffen. Auch die US-Streitkräfte greifen immer wieder Stützpunkte von Haschd-al-Schaabi-Milizen1 an, die dem Iran nahestehen.

Der Irak ist gegenwärtig Kriegsschauplatz für die Auseinandersetzungen zwischen den USA und dem Iran. Letzterer kann die Pläne der USA hier durchkreuzen, wie z. B. die gegenwärtig geplanten irakischen Parlamentswahlen zu blockieren.

Der Einfluss des Iran im Irak ist groß und für ihn lebenswichtig. Daher wird er mit aller Kraft versuchen, vor allem über die Schiiten im Land die politischen Entwicklungen mitzubestimmen.

Ende Mai belagerten Milizen der Haschd-al-Schaabi bewaffnet und mit Militärfahrzeugen den Regierungsbezirk in Bagdad und erzwangen die Freilassung eines ihrer hochrangigen Kommandanten, Qasim Muslih, der unter dem Vorwurf des Terrorismus festgenommen worden war.

Sie hätten ohne Weiteres die Regierung stürzen können, das aber hätte einen Anlass für einen Angriff gegen den Iran geliefert. Daher haben sie, ohne offiziell die Regierung zu stürzen, allen die Größe des iranischen Einflusses im Irak demonstriert.

Mustafa Al-Kadhimi gilt als Mann der USA und in gewisser Weise auch als türkeinah. Das bedeutet im Gegenzug, dass ihm der Iran mit Argwohn begegnet. Die Wahlen waren eigentlich für Juni angesetzt und wurden schließlich auf den 10. Oktober verschoben. Aber auch dieses Datum scheint unrealistisch. Der einflussreichste Schiiten-Führer im Irak Muqtada al-Sadr erklärte, er werde die Wahlen boykottieren und auch seine Unterstützung für die aktuelle Regierung zurückziehen. Wahlen ohne die Beteiligung schiitischer Parteien sind im Irak undenkbar.

Während der Irak auf der einen Seite dem Einfluss und Druck des Iran ausgesetzt ist, wird er andererseits durch die militärischen Angriffe der Türkei bedroht. Sie greift nach Belieben innerhalb der irakischen Staatsgrenzen an, sei es im Şengal, in Mexmûr oder in den von der Guerilla kontrollierten Gebieten in Südkurdistan, den Medya-Verteidigungsgebieten. Sie verletzt internationales Recht und die Souveränität eines Staates. Die Reaktion des Iraks reicht nicht weiter als bis zu verbaler Kritik und der Forderung, die Angriffe zu beenden.

Südkurdistan

In der Autonomieregion [Süd-]Kurdistans (KRG) ist die Situation ebenfalls äußerst instabil. Während der Anschein verbesserter Beziehungen zwischen KRG und irakischer Zentralregierung erweckt wird, sind sie doch eher konjunkturell bedingt und nicht langlebig. Al-Kadhimi hat es ohnehin schwer, ein Land zu regieren, das enorm polarisiert und gespalten ist und von außen mitregiert wird. Daher hat er kein Interesse daran, auch das Verhältnis zu den Kurd:innen zu strapazieren, zumindest bis zu den Wahlen. In der KRG selbst brodelt es. Die verschiedenen Parteien und Kräfte im Land sind weit davon entfernt, die Autonomieregierung mitsamt ihren Institutionen jenseits von Parteiinteressen zu achten und funktionieren zu lassen. Zwar bestehen auf dem Papier demokratische Institutionen und Gewaltenteilung, aber in der Praxis funktionieren sie nicht. Das wiederum führt dazu, dass Machtkämpfe ausbrechen wie jüngst innerhalb der zweitgrößten Partei, der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), dass Entscheidungen im Alleingang getroffen werden, die Korruption blüht, Menschenrechtsverletzungen immer mehr zunehmen usw. Das Vorgehen gegen die freie Presse und Festnahmen von Journalist:innen in Südkurdistan wurden inzwischen international beanstandet.

In den letzten Monaten wird die Tagesordnung in Südkurdistan von zwei Hauptthemen bestimmt: zum einen der realen Gefahr, dass sich die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) an der Seite der Türkei an dem Besatzungskrieg gegen die PKK beteiligen könnte, und zum anderen dem parteiinternen Machtkampf in der Patriotischen Union Kurdistans.

Wie bereits erwähnt, führt die Türkei seit vier Monaten einen Besatzungs- und Vernichtungskrieg in Südkurdistan. Dabei scheut sie auch nicht vor dem Einsatz chemischer Waffen gegen die Guerillakämpfer:innen zurück. Trotz technischer Überlegenheit und internationaler Unterstützung gelingt ihr der erhoffte Vorstoß nicht. Seit längerem drängt sie daher die südkurdischen Parteien, vor allem die PDK, sich an dem Krieg gegen die Kurd:innen zu beteiligen. Sie verschleiert ihre Genozidabsicht gegen das kurdische Volk, indem sie behauptet, keine Probleme mit den Kurd:innen zu haben, sondern ausschließlich gegen die PKK vorzugehen. Aber wer die Türkei kennt und die Entwicklungen verfolgt, weiß, dass die Türkei die PKK zum Vorwand nimmt, um alle Errungenschaften der Kurd:innen anzugreifen und zu vernichten. Diese Argumentation scheint die PDK leider auch übernommen zu haben: die Anwesenheit der PKK gefährde Südkurdistan, sie respektiere den Status in Südkurdistan nicht u. v. m. Die PKK hingegen hat öffentlich erklärt, sie sei in den achtziger Jahren, d. h. noch zu Saddams Zeiten, in Übereinkunft mit den kurdischen Parteien PDK und YNK nach Südkurdistan gekommen, verfüge hier inzwischen mehr als vierzig Jahre lang über Stützpunkte und habe gemeinsam mit den Peşmerge in Zaxo und Dohuk gegen Saddam gekämpft. Sie agiere in Kurdistan nicht gemäß der kolonialistischen Aufteilung, sondern nähere sich ganzheitlich an. Jede kurdische Partei und Bewegung hätten das Recht, sich in Kurdistan aufzuhalten und für die Rechte der Kurd:innen zu kämpfen. Sie betont auch immer wieder, dass ihre militärische Präsenz ebenfalls dem Schutz Südkurdistans diene. Konkret wird auf die gemeinsame Abwehr der IS-Angriffe in Südkurdistan durch Guerilla und Peşmerge hingewiesen. Auch die Tatsache, dass der Genozidversuch des IS in Şengal nur durch die Guerilla verhindert werden konnte, sei Beweis dafür, dass die PKK als Schutzkraft der Kurd:innen handelt.

Die Geschichte ist noch zu frisch, um die Wahrheit manipulieren zu können.

Die PDK ist willens, dem Wunsch der Türkei nachzukommen. Sie will sich am Krieg beteiligen, aber nicht nur als PDK, sondern als KRG. Doch andere Parteien, politische Akteur:innen, Großfamilien und vor allem die Bevölkerung sehen in einem Krieg unter Kurd:innen eine große Gefahr, eine Falle, und verweigern ihre Unterstützung.

Während die PKK diesen Krieg mit allen Mitteln zu verhindern sucht, setzt die PDK alles daran, ihn vom Zaun zu brechen. Immer wieder gibt es Versuche, die Guerilla anzugreifen, um eine Gegenreaktion zu provozieren und dann im Gegenzug den eigenen Verrat zu legitimieren. Zu dem Zeitpunkt, da dieser Text verfasst wird, fehlt jede Spur von drei Guerillakämpfern, die von PDK-Kräften angegriffen wurden. In einer schriftlichen Erklärung verlangen die Volksverteidigungskräfte (HPG) eine Stellungnahme zu dem Vorfall.2

Die PDK erklärt jede Unternehmung, die diesen Krieg verhindern soll, zur feindlichen Aktivität. So wurden Mitglieder einer Friedensdelegation aus dem europäischen Ausland in Hewlêr (Erbil) aufgehalten und am 10. Juni drei Vertreter Rojavas am Flughafen von Hewlêr verhaftet, als sie die Delegation empfangen wollten. Journalist:innen und Aktivist:innen, die sich kritisch zur PDK-Politik äußern, werden verhaftet.

Die Patriotische Union Kurdistans hat sich gegen einen Krieg mit der PKK ausgesprochen und den Besatzungskrieg der Türkei kritisiert. Auch ist ihre freundschaftliche Haltung zur Selbstverwaltung in Rojava bekannt. Der Druck auf sie, sich gegen die PKK zu stellen, ist spürbar stark.

Nach dem Tod ihres Parteigründers Celal Talabanî ist die YNK geschwächt. Ältere Parteifunktionäre beanspruchen die Macht für sich, die Familie Talabanî reklamiert sie als Nachfolge für sich. Es gibt ein Führungsdefizit. Um die unterschiedlichen Lager innerhalb der Partei zusammenzuhalten, wurden im Februar 2020 der Sohn des Parteigründers, Bafel Talabanî, und dessen Cousin Lahur Talabanî zu gemeinsamen Vorsitzenden gewählt.

Nach über einem Jahr putschte der Ko-Vorsitzende Bafel Talabanî, enthob am 8. Juli seinen bisherigen Kollegen Lahur Talabanî all seiner Funktionen und erklärte sich zum alleinigen Parteivorsitzenden. Gleichzeitig wurden die Leitungspositionen des Parteigeheimdienstes Zanyari und einer Lahur nahestehenden Anti-Terror-Einheit neu besetzt, ebenso Lahurs Fernsehsender von Sicherheitskräften durchsucht. Lahur werden eigenmächtige Beschlüsse und Korruption vorgeworfen.

Der reagierte vorerst besonnen und versuchte, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Er erklärte, dass er bereit sei, seine Funktionen vorerst auf Eis zu legen, bis sich eine Untersuchungskommission mit den Vorwürfen befasst und ihre Ergebnisse dem YNK-Vorstand und der Öffentlichkeit vorlegt. Die Entscheidung des Vorstands auf der Grundlage dieser Untersuchungsergebnisse würde er akzeptieren.

Bafel wird eher als regierungsunfähig und unberechenbar eingestuft. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass dieser innerparteiliche Streit nicht leicht zu überwinden sein und die mit dem Tod von Celal Talabanî ohnehin geschwächte Position der YNK noch mehr Schaden nehmen wird. Mit diesem Putsch scheint die Familie Talabanî ihren Einfluss in der Partei stärken zu wollen, was wiederum zu Unmut bei anderen Parteiflügeln führen wird. Das alles wird sich auf die Kräfteverhältnisse innerhalb der KRG und günstig auf die Position der PDK auswirken. Das wiederum würde den Einfluss der Türkei in der Region stärken. Darauf setzt auch die Türkei sehr stark. Lahur hat in seinen ersten Äußerungen nach dem Putsch u. a. die Türkei dafür verantwortlich gemacht und erklärt, über Dritte von Erdoğan bedroht worden zu sein.

Die Türkei

Die Türkei kämpft seit dem 28. Juli mit verheerenden Waldbränden, die bisher nicht gestoppt werden können. Insgesamt 180 Brände seien bislang ausgebrochen und mehr als 100.000 Hektar Land abgebrannt. Die Menschen sind fassungslos, wie die Regierung diese Katastrophe politisiert. Anfangs wurde die PKK für die Waldbrände verantwortlich gemacht und die Menschen wurden gegen die Kurd:innen aufgestachelt. Sie müssen zusehen, wie ihr Hab und Gut zu Asche wird. Es findet ein regelrechter Ökozid an der Natur statt. Allein verantwortlich ist die AKP-MHP-Regierung, die entweder nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen, oder es einfach nicht lösen will. Zu Recht versteht niemand im Land, warum Löschflugzeuge nicht eingesetzt werden.

Die Bevölkerung wird in einem Maße in einem Angstregime regiert, das u. a. auf Nationalismus und patriarchale Macht aufbaut, dass sie nicht in der Lage ist, rational zu denken und zu handeln. Sie wurde von der AKP-Regierung systematisch verraten, erniedrigt, ausgebeutet, verhöhnt, polarisiert, unterdrückt und gebrochen. Das ist der Grund, warum die Menschen die Regierung bislang nicht überwinden können, obwohl sie es wollen – spätestens nach den Geständnissen des ultranationalistischen Mafiabosses Sedat Peker über die Machenschaften von Ministern und Politikern, die ihre Regierungsmacht dazu missbraucht haben, sich rechtswidrig zu bereichern, die Menschen erpresst, bedroht und mithilfe von Komplotten ihren Besitz gestohlen haben. Er schildert in den sozialen Medien, wie das Land Stück für Stück ausgebeutet wurde, wie Grundstücke rechtswidrig vereinnahmt und wie Morde und Vergewaltigungen von Politikern und ihren Verwandten durchgeführt und schließlich vertuscht worden sind.Als Insider gibt er einen Überblick darüber, wie im Staat die Straflosigkeit für Herrschende institutionalisiert wurde. In seinen jüngsten Veröffentlichungen beschreibt er, wie während des angeblichen gescheiterten »Putschs« vom 15. Juli 2016 kistenweise unregistrierte Waffen verteilt wurden.

Je mehr die AKP-MHP-Regierung innen- wie außenpolitisch in Bedrängnis kommt, umso mehr nehmen die Lynchangriffe gegen das kurdische Volk zu. Kurd:innen wurden in den letzten Monaten angegriffen, weil sie kurdisch gesprochen oder kurdische Musik gehört haben, und Imame, weil sie aufkurdisch gepredigt haben.

Dass die AKP seit längerem den Wahlkampf begonnen hat, lässt sich auch daran erkennen, dass sie die Demokratische Partei der Völker (HDP) verbal, juristisch und politisch belagert. Ein Verbotsverfahren gegen sie wurde eingeleitet, obwohl viele ihrer führenden Mitglieder bereits im Gefängnis sitzen. Das Verfassungsgericht hat den Verbotsantrag angenommen. Diese Hetze führte schließlich dazu, dass am frühen Morgen des 17. Juni die Parteizentrale der HDP in Izmir von einem Faschisten angegriffen und die Mitarbeiterin Deniz Poyraz brutal ermordet wurde. Sie hielt sich allein in der Zentrale auf. Für diesen Tag war dort eigentlich eine Sitzung geplant, die aber kurzfristig abgesagt worden war. Hätte sie stattgefunden, hätte es zu einem Blutbad kommen können.

Am 30. Juli wurde in Meram bei Konya eine siebenköpfige kurdische Familie ermordet und später deren Haus in Brand gesteckt. Diese Familie Dedeoğlu war bereits am 12. Mai einem rassistischen Angriff von ca. 60 Personen ausgesetzt gewesen und hatte ihn mit zum Teil schweren Verletzungen überlebt. Die Angreifer hatten gesagt, sie würden nicht dulden, dass dort Kurd:innen leben.

Nationalistische Lynchjustiz geht Hand in Hand mit Femizid. Dass sich die Situation der Frauen unter der AKP-Regierung vor allem in den letzten zehn Jahren massiv verschlechtert hat, ist bekannt. Wir sprechen nicht von rechtlicher, ökonomischer und sozialer Diskriminierung, sondern von physischer Vernichtung von Frauen. Erst recht nach dem Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist die Zahl der Morde an Frauen weiter gestiegen. Der Frust, die Erniedrigung, die Perspektivlosigkeit und das Gefühl der Ausweglosigkeit treibt die Menschen in den Suizid, oder ihr Hass entlädt sich gegen Kurd:innen und Frauen.

Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland

Die Menschen in der Türkei und Kurdistan sehen, dass die EU und die USA mitverantwortlich sind dafür, dass sich die Türkei zu einem faschistischen Land entwickelt hat. Deutschland scheint auch als Verbündeter der Türkei seine antikurdische Sondermission innerhalb der NATO aktualisiert zu haben. Mit großem Eifer versucht es, die Verbrechen der Türkei zu vertuschen, sie reinzuwaschen und zu stärken, während es mit erfundenen Anschuldigungen die PKK diskreditiert und bekämpft. Die Türkei mordet wie am Beispiel von Paris, lässt Oppositionelle zusammenschlagen wie jüngst den Journalisten Erk Acarer in Berlin, setzt verbotene chemische Kriegswaffen ein, hält tausende Oppositionelle in Geiselhaft, besetzt, plündert und zerstört fremdes Land, ist in Drogenhandel verwickelt, unterstützt Terrorgruppen wie den IS mit Waffen und Logistik u. v. m.

Es sagt viel über Deutschland aus, wenn Sigmar Gabriel in einem öffentlichen Fernsehauftritt den Besatzungskrieg der Türkei in Efrîn legitimiert. Die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zu zerstören, die auf Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie basiert, in der alle Menschen egal welcher ethnischen und religiösen Identität friedlich zusammenleben, ist für Deutschland legitim, wenn sie von der PKK beeinflusst ist.

Deutschland selbst macht sich zum Handlanger der türkischen Politik, indem es Menschen der Reisefreiheit beraubt, weil sie einen rechtswidrigen Besatzungskrieg gegen Kurd:innen zu verhindern suchen. Dutzenden Menschen einer Friedensdelegation der internationalen Initiative »Defend Kurdistan«, darunter auch Abgeordneten aus Deutschland, wurde die Ausreise nach Südkurdistan verweigert.

Die Türkei driftet immer weiter in Richtung Bürgerkrieg. Allein die Vorstellung vom Ausmaß eines Bürgerkriegs in der Türkei für das Land selbst, für die Region und international ist erschreckend. Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, werden alle unter einer Ruine bluten, und der Westen wird sich seiner Verantwortung nicht entziehen können.

Fußnoten:

1 - Haschd-al-Schaabi, auch bekannt als Volksmobilmachungskräfte, sind eine Dachorganisation für vierzig fast ausschließlich schiitische Milizen. Sie stehen unter dem Einfluss des Iran, sind aber offiziell an die irakische Armee angebunden. Entstanden ist dieses Bündnis im Juni 2014 nach der Irakkrise und der Ausbreitung des Islamischen Staates IS im Irak.

2 - https://anfdeutsch.com/kurdistan/hpg-fordern-erklarung-zu-vermisster-guerillagruppe-27570


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021