In Nord- und Ostsyrien wird Demokratie gelehrt und gelernt

Bildung als Schlüssel zur Revolution

Müslüm Örtülü

Bildung als Schlüssel zur RevolutionWie wird Demokratie gelernt? Das ist eine zentrale Frage, mit der sich die Revolution von Rojava auseinandersetzt. Die Antwort lautet Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte hinweg kolonialisiert wurde und über keinerlei Teilhaberechte verfügte, steht plötzlich vor der großen Herausforderung, mittels Kommunen und Rätestrukturen ihr eigenes demokratisches System zu entwickeln. Das ist keine leichte Herausforderung, der sich die Menschen in Nord- und Ostsyrien stellen. Der Prozess ist langwierig, manchmal von großen Schwierigkeiten und Widersprüchen geprägt. Doch der Wille zum Aufbau der eigenen Strukturen ist überall zu spüren. Diese Strukturen sollen die gesellschaftlichen Probleme lösen, von denen es angesichts der bestehenden Kriegssituation nicht gerade wenige gibt. Natürlich ist Selbstverteidigung ein zentraler Grundpfeiler des Aufbaus. Doch in den drei Monaten, die ich mittlerweile in der Region verbracht habe, bin ich Zeuge dessen geworden, dass Selbstverteidigung weitaus mehr bedeutet, als das Verfügen über schlagkräftige militärische Strukturen. Die effektivste Selbstverteidigung ist eine Gesellschaft mit einem demokratisch-politischen Bewusstsein. Und das Bewusstsein soll durch kollektive und vielfältige Bildungsmaßnahmen geschaffen werden.

In »Soziologie der Freiheit« plädiert Abdullah Öcalan, der Ideengeber der Revolution von Rojava, immer wieder für den Aufbau eigener Bildungsstrukturen jenseits der bestehenden Macht- und Wissensstrukturen. Sie sind für ihn der zentrale Grundstein für die Bildung einer »politisch-moralischen Gesellschaft«. Bildung ist laut Öcalan eine zentrale Methode der Gesellschaft, um Wissen und Erfahrungen von der älteren Generation an die jüngere zu übermitteln. Doch Bildung ist ein umkämpftes Feld. Auch die Staaten, als Vertreter:innen des offiziellen Zivilisationssystems, haben sich die Methode des Wissens zu eigen gemacht. Mittels ihrer Bildungseinrichtungen versuchen sie, die Jugend im Sinne ihres Systems zu verwerten. Öcalan fordert deshalb den Aufbau eigener Bildungseinrichtungen, die auf keinen Fall die Bildungseinrichtungen dieses Zivilisationssystems imitieren sollten. Die Bildungseinrichtungen der demokratischen Moderne sollen Orte sein, in denen Lehrende und Lernende gegenseitig voneinander lernen und gemeinsam den Grundstein einer demokratischen Gesellschaft legen können.

Kollektives Leben nach demokratischen Prinzipien

So viel zur Theorie, doch wie wird das Ganze in der Praxis angegangen? In Nord- und Ostsyrien spielen die Akademien hierbei eine zentrale Rolle. Die »Akademien für eine demokratische Gesellschaft« sind Orte, in denen die Gesellschaft die Geisteshaltung der demokratischen Moderne lernen soll. In jeder größeren Stadt gibt es diese Akademien. Gegründet wurden sie bereits im Jahr 2014, damals unter dem Namen »Akademiya Nûrî Dêrsimî«. In diesen Akademien wird geforscht und gelehrt. Teilnehmer:innen der Akademien sind Mitglieder der gesellschaftlichen Strukturen. Sowohl die Rätestrukturen als auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen können ihre Mitglieder für die Teilnahme an den Bildungseinheiten vorschlagen. Die Dauer der Bildungseinheiten reicht von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten. Sie finden entweder in arabischer oder in kurdischer Sprache statt. In diesen Bildungen setzen sich die Menschen mit ihrer eigenen Geschichte auseinander, mit der Ideologie des Staates und mit den Konzepten der Revolution. Neben den Unterrichtseinheiten ist aber auch das gemeinsame Zusammenleben zentral für die Bildung. Die Menschen leben kollektiv und nach demokratischen Prinzipien. Nach jeder Unterrichtseinheit gibt es die Möglichkeit, die Lehrkräfte zu kritisieren und Vorschläge für Verbesserungen zu machen. Auch die Lehrkräfte der Akademien evaluieren nach jeder abgeschlossenen Bildung ihre Arbeit und versuchen diese weiterzuentwickeln. Bei den jährlichen Kongressen der Akademien werden die gesamten Arbeitsstrukturen auf den Prüfstein gestellt. So wurde beim letzten Kongress entschieden, dass es in Zukunft mehrstufige Bildungseinheiten geben soll. Die erste Stufe soll dazu dienen, die Ideen der Revolution und ihre Prinzipien kennenzulernen. Auf den nächsten Stufen sollen die Teilnehmer:innen dann das Bewusstsein und die Fertigkeiten erlernen, um leitende Verantwortung in den gesellschaftlichen Strukturen zu übernehmen. Die Bildungsstrukturen sind also nie in Stein gemeißelt. Es wird stets nach Wegen und Mitteln gesucht, um die Arbeiten der Akademien zu verbessern und auf die Bedürfnisse der Gesellschaft abzustimmen.

Aufbau eigener Bildungsstrukturen

Die Teilnehmer:innen der Bildung verfügen über unterschiedlichste Hintergründe. Es sind Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung. Sie eint der Wille, etwas für ihre Gesellschaft zu tun. Das Interesse der Menschen ist groß. Sie stellen Fragen, diskutieren mit und teilen ihre Ideen und Gedanken miteinander. Ich erfuhr in meinen Gesprächen, dass es in den arabischen Gebieten anfangs Vorbehalte gegenüber der Arbeit der Akademie gab, insbesondere deshalb, weil sowohl Frauen als auch Männer an diesen partizipieren. Diese Vorbehalte wurden mittlerweile in ihr Gegenteil verkehrt. Eine Lehrkraft berichtete mir, wie enthusiastisch die Diskussionen bei den Bildungen in Städten wie Tebqa oder Raqqa ablaufen. Und insbesondere bei den Frauen sei die Bereitschaft zu lernen und alte Denkstrukturen abzulegen immens.

Die Schaffung eines neuen demokratischen Bewusstseins ist eine langwierige Aufgabe. Denn die alte »staatliche« Geisteshaltung ist allgegenwärtig. Viele Menschen erwarten von den Selbstverwaltungsstrukturen Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme, ohne die eigene Verantwortung dabei zu sehen. Das Selbstverwaltungssystem wird oft an seiner Fähigkeit gemessen, die ökonomischen Probleme der Menschen zu lösen. Die Möglichkeit der demokratischen Partizipation in den Strukturen von der Kommune bis hin zum Stadtrat spielt oftmals eine untergeordnete Rolle. Zu lernen, dass die Suche nach der Lösung der Probleme eine kollektive Aufgabe ist und nicht diejenige einer wie auch immer gearteten »Leitungsstruktur«, ist letztlich ein langer und schwieriger Weg.

In Nord- und Ostsyrien haben sich die Menschen allerdings auf diesen Weg begeben. Sie bauen ihre eigenen Bildungsstrukturen auf, mit denen die Gesellschaft in die Lage versetzt werden soll, diesen Weg zu beschreiten. Die »Akademien für eine demokratische Gesellschaft« sind ein Teil dieser Strukturen. Daneben gibt es die Frauenakademien, die Universitäten, die Bildungseinheiten der Kommunen, der Stadträte, der politischen Parteien und der übrigen gesellschaftlichen Strukturen. Bei meinen Gesprächen auf meiner Reise durch die Region habe ich immer wieder von der Wichtigkeit dieser Bildungen gehört. Noch bevor eine Bildungseinheit abgeschlossen ist, beschäftigen sich die vielfältigen gesellschaftlichen Strukturen, mit denen ich in Berührung gekommen bin, schon mit der Organisation der nächsten Bildungseinheit. Bildung ist Teil des alltäglichen Lebens und der Grundstein der Revolution. In Nord- und Ostsyrien wird wahrlich Demokratie gelehrt und gelernt.


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021