»Wir wissen was wir wollen«

Revolution beginnt im Kopf ‒ und manchmal mit einem Buch

Katharina M.

»Wir wissen was wir wollen« »Leider sind die Diskussionen [über die patriarchale Gesellschaft] bisher nicht ehrlich. Jeder sagt nun, dass er oder sie frei sei, aber das sind wir nicht. Das ist ein großer Irrtum. Eine ehrliche Diskussion dazu gibt es nicht. Vielleicht ist es notwendig, dass ich noch mehr gegen meine verinnerlichte, männliche Sicht kämpfe. Wie viel kämpfe ich auf dieser Ebene überhaupt, damit wir eines Tages wirklich in einer freien Gesellschaft leben können?«1

Ich habe Sehnsucht. Sehnsucht nach Geschichten, in denen repressive gesellschaftliche Strukturen infrage gestellt und abgeschafft werden. Geschichten von Zusammenschluss und Widerstand. Geschichten, in denen der Wind sich dreht, alle Staatsgebäude umwirft, und neue, freiere Formen des Zusammenlebens gefunden werden.

Diese Geschichten sollen nicht nur Geschichten bleiben. Sie sollen weitergereicht werden, sich wie ein Lauffeuer verbreiten, und ja – anstiften.

Ich beginne also, ein Buch zu lesen. Mal wollen Bücher trösten, mal gespannt machen, oder zum Lachen bringen. Und mal wollen sie, wie dieses, Brände stiften.

Brandstiftung an einer ansonsten sehr braven, weißen, deutschen Mittelschichtstochter, die ich bin, und die außer durch das obligatorische Auslandsjahr noch nicht viel über ihren Alblinsen- und Spätzle-Tellerrand hinausgeschaut hat.

Im Winter 2018/2019 reiste eine Delegation der feministischen Organisierung »Gemeinsam Kämpfen! für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie« von Deutschland aus in das Autonome Gebiet Nord-und Ostsyriens, um der Situation dort Öffentlichkeit zu verschaffen, und um von den Frauen vor Ort zu lernen, was Frauenrevolution bedeuten kann. Was heißt es, in einer Revolution zu leben und ein neues gesellschaftliches Miteinander aufzubauen? Was bedeutet Freiheit der Frau*, Freiheit des Mannes*, die der Familie und somit die der Gesellschaft?

Das Ergebnis dieser Reise und der zahlreich geführten Gespräche ist das Anfang 2021 erschienene Buch, das ich nun in den Händen halte.

Ich betrachte die drei (!) Titel.

»Widerstand und gelebte Utopien Band II«

»Wir wissen was wir wollen«

und

»Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien«

Über einen »kollektiv erkämpften Erfahrungsschatz« (wie eine der Autor:innen ihn bezeichnet) kann nicht individuell berichtet werden: daher besteht der Sammelband aus Interviews. Es braucht die Stimmen einer Vielzahl von Menschen, die an verschiedenen Stellen der Revolution ihren Beitrag leisten.

Das Buch ist eine Chance für Menschen wie mich, von der kurdischen Freiheitsbewegung zu lernen und die Geschichten weiterzutragen.

Unaufgeregt werden sehr grundlegende Fragen und ihre praktische Umsetzung diskutiert:

Wie erschaffen wir eine Gesellschaft, in denen Frauen* und Männer und für mich auch andere, die im Buch nicht genannt werden, sich auf Augenhöhe begegnen können?

Wie schaffen wir Sicherheit?

Wie brechen wir Strukturen auf, die uns lange gefangen gehalten haben?

Wie gehen wir mit Rückschritten um?

enn eines, das wird schnell deutlich, können wir uns sicher aus dem Kopf schlagen: dass eines Tages die Revolution über uns hereinbricht, und fortan alles gut ist. Errungenschaften können sehr schnell durch Kriegsdrohungen wieder zunichte gemacht werden.
In vielen Medien wird die Frauenrevolution in Rojava auf den militärischen Aspekt reduziert: man sieht vor allem die YPJ-Kämpfer:innen.

Das Buch zeigt, dass es auch (und vor allem) die Zivilgesellschaft ist, die den Wandel vorantreibt, dass die Revolution auf allen Gebieten stattfindet: sozial, wirtschaftlich, ökologisch, und politisch – und somit viel umfassender und tiefgreifender ist, als es oft dargelegt wird.
Die Frauen in Nord-und Ostsyrien, die den Frauenkonföderalismus mit aufbauen und verteidigen, kommen zu Wort. Sie erzählen. Es wird nicht über sie erzählt.

Somit nehmen sie die Dokumentation der Frauenrevolution selbst in die Hand, als basisdemokratisches Gemeinschaftsprojekt, anstatt erneut das Feld Männern zu überlassen.

Sie erzählen von der Jineolojî – der Wissenschaft der Frau, von der Selbstverwaltung in Frauenräten und Frauenkommunen, von Bildung als Basis der Revolution und von Abdullah Öcalan als Wegbegleiter. Es wird deutlich, dass die kurdische Freiheitsbewegung nicht mehr nur Kurd:innen meint, sondern alle Bevölkerungsgruppen mit einschließt.

Das Buch kann der Beginn eines Austauschs sein:

Es schafft die Grundlage für einen weiterführenden Dialog. Wie lassen sich feministische, Umwelt-, Arbeits-, und antirassistische Kämpfe verbinden?

Was bedeutet Internationalismus und Intersektionalismus? Immer schon haben sich Aufstände gegen Sklaverei und Kolonialismus in unterschiedlichen Teilen der Welt voneinander inspirieren lassen, und aufeinander bezogen. Bündnisse und Beziehungen über nationalstaatliche Grenzen hinweg sind daher von entscheidender Bedeutung, und ein großes Anliegen des Buches.

»Und jetzt? …!« scheint groß auf der letzten Seite zu stehen, nach den Geschichten von Limah Abdullah, die in Derîk und Qamişlo die Regierungsbeamt:innen aus den Gebäuden des Regimes vertrieben, und so Stück für Stück die Stadt befreit hat. Von Medya Abdullah, der Titelgeberin des Buches, und von Sarah Handelmann, die in Tübingen studierte, im Mai 2017 nach Rojava und in die Berge ging und bei einer Bombardierung durch die türkische Luftwaffe mit weiteren Freund:innen ermordet wurde.

Dasselbe System patriarchaler Unterdrückung, das uns kaputtmacht, ist auch das System, gegen das in Rojava/Nord- und Ostsyrien entschlossener als an den meisten Orten der Welt angekämpft wird.

Ich möchte daher meine Perspektive wechseln. Aus welcher schaue (und schreibe) ich gerade? Welche Fragen traue ich mich zu stellen? Welche nicht? Warum nicht?

Schließt euch zusammen! Hört zu! Lernt voneinander. Hört auch den Menschen zu, denen ihr normalerweise nicht von selbst begegnen würdet. Organisiert euch! Lernt euch kennen. Besonders eure Nachbar:innen. Mischt euch ein. Werdet aktiv. Das ist der Beginn einer nachhaltigen Veränderung der Gesellschaft. Dies allerdings liegt buchstäblich in den Händen der Leser:innen.

Wenn es einem Buch gelingt, nicht in Vergessenheit zu geraten, sondern eine Handlung auszulösen, dann kann das ein Anfang sein. Das ist die Intention dieses Buches.

So, dass Menschen wie Medya Abdullah sagen können:

»Mein Leben ist die Revolution, und ich bin glücklich in dieser Zeit zu leben, und endlich die Träume einer befreiten Gesellschaft, die wir ein Leben lang hatten, in die Praxis umzusetzen.«

Fußnote:

1 - Zitate aus dem Buch. Herausgeber_innenkollektiv des Andrea Wolf Instituts: Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ost-Syrien. (= Widerstand und gelebte Utopien, Band II). Münster 2020 [tatsächl. 2021].


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021