Der türkische Staat setzt Wasser gegen die Bevölkerung in Nordsyrien als Waffe ein

Der Versuch, eine Revolution auszutrocknen

Gisela Rhein

Der Versuch, eine Revolution auszutrocknenIn der UN-Gewässer-Konvention von 2014 wird die ausgewogene Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe zur Verhinderung beträchtlicher Schäden im Einzugsgebiet eines gemeinsamen Wasserlaufes festgeschrieben. Die Türkei boykottiert diese Konvention und setzt ihre Staudämme und damit das Wasser z. B. des Euphrats gezielt als Waffe gegen die Gesellschaft in Nord- und Ostsyrien ein.

Darüber hinaus zerstört sie gezielt die Wasserinfrastruktur der Region, mit schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung, die Landwirtschaft und die Stromversorgung. Die Zivilgesellschaft der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens wird als Geisel für die aggressive Expansionspolitik der Türkei genommen, und den Menschen wird eine wichtige Lebensgrundlage in ihrer Heimat entzogen.

Die Selbstverwaltung steht wegen der stark zurückgegangenen Niederschlagsmengen und des Embargos vor großen Herausforderungen.

»Seit Anfang des Jahres hat der türkische Staat erneut gravierenden Einfluss auf den Wasserdurchfluss des Euphrats genommen. 500.000 Menschen in Nord- und Ostsyrien haben dadurch bereits ihre natürliche Trinkwasserquelle verloren, 5 Millionen weiteren droht das gleiche Schicksal«, heißt es in einer Pressmitteilung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zum Thema Wasserpolitik.

Nur alle 5 Tage fließendes Wasser ...

Am Beispiel der Wasserversorgung für die Provinz und die Stadt Hesekê lassen sich die Auswirkungen der Besatzung durch türkische Truppen und ihre dschihadistischen Verbündeten in ihrer ganzen Dramatik erkennen.

Über die Folgen für die Menschen in der Stadt Hesekê berichtet uns Sozdar Ahmed, Ko-Vorsitzende des dortigen Wasseramtes. »Insbesondere auch hier in der Stadt Hesekê kämpfen wir aktuell gegen eine große Krise. Seit dem 12. April wurde erneut das Wasser des längsten Nebenflusses des Euphrats durch den Missbrauch des Wasserwerks Elok (Allouk) abgeschnitten. Wir sahen uns gezwungen, die Stadt in fünf Bereiche aufzuteilen. Täglich kann nur einer der Sektoren mit Wasser versorgt werden. Die Bevölkerung hat also lediglich einmal alle fünf Tage fließendes Wasser zur Verfügung. Wir müssen die Menschen dazu anhalten, so sparsam wie möglich damit umzugehen und wenn möglich das Wasser mehrfach zu verwenden. Es gibt viele Orte, die nicht von bestehenden Wasserleitungen erreicht werden können, weswegen wir als Wasseramt der Selbstverwaltung aushelfen müssen. Dafür sind täglich bis zu 20 Trucks im Einsatz. Aufgrund der aktuellen Situation bräuchte es jedoch 300. Diese Wasserknappheit trifft uns in Zeiten steigender Fallzahlen von Coronainfektionen besonders hart.«

Die besagte Pumpstation in Elok befindet sich auf dem seit 2019 vom türkischen Militär besetzten Gebiet bei Serêkaniyê (Ras al-Ain) und wurde unmittelbar nach der Besetzung von der notwendigen Stromversorgung durch die Truppen der türkisch kontrollierten »Freien Syrischen Armee« abgeschnitten. Ein spezielles Abkommen zwischen der Türkei und der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien legt zwar fest, dass Elok die Hälfte der benötigten 600 MW erhalten muss, die das Kraftwerk bei Tirbespiyê, welches sich in Nordostsyrien befindet, liefert. Die »Freie Syrische Armee« hat jedoch vor kurzem die Vereinbarung eigenständig aufgekündigt, den Strom umgeleitet und in das eigene Netz im besetzten Gebiet eingespeist. Ohne ausreichende Stromversorgung musste die Leistung des Wasserwerks Elok auf ein Minimum reduziert werden. Die Gefahr, dass es ganz abgeschaltet werden muss, ist real. Allein dies bringt fast eine Million Menschen in der Stadt und Provinz Hesekê in Gefahr, den Zugang zu Wasser zu verlieren. Die Städte Til Temir, Şeddadê, Arisha und Tausende von Flüchtlingen in drei Camps wären betroffen, außerdem das Camp al Hol mit über 60.000 Schutzsuchenden, darunter internierte Mitglieder und Anhänger:innen des IS.

Seit 2019 leiden die Menschen unter diesem Problem und eine Lösung unter den Bedingungen der türkischen Besatzung ist nicht in Sicht.

Die drei Talsperren auf dem Gebiet der Selbstverwaltung sind die zentralen Stromquellen für die Region. Es sind die Staudämme Firat, Tabqa und Tişrîn. Sie alle sind direkt von der Einflussnahme des türkischen Staates auf den Wasserdurchfluss des Euphrats betroffen und mussten deshalb ihre Stromproduktion massiv reduzieren. Die Regionen Kobanê, Raqqa, Minbîc, Tabqa und Deir ez-Zor werden ausschließlich von diesen Staudämmen mit elektrischer Energie versorgt. Wegen des derzeit niedrigen Wasserstandes können sie jedoch lediglich abwechselnd und immer nur mit einer der teilweise bis zu zehn Turbinen betrieben werden. Statt der üblichen Leistung von über 2.500 MW können nach Einschätzung von Expert:innen vor Ort bald nur noch 100 MW geliefert werden. Im schlimmsten Fall könnte die Produktion auf verschwindend geringe 80 MW sinken.

Der Bericht des ersten Quartals 2021 dokumentiert die stark abnehmende Leistung der Staudämme. Außerdem wird in diesem Bericht auf andere gravierende Folgen des mangelnden Wasserdurchflusses hingewiesen: Aufgrund des niedrigen Wasserstandes fehlt dem Euphrat langfristig die Fähigkeit zur natürlichen Selbstreinigung, mit verhängnisvollen Folgen für das Ökosystem des Flusses und damit auch für die Wasserqualität.

Das Wasseramt in Nord- und Ostsyrien liefert eine weitere Gefahrenanalyse für den Staudamm in Tişrîn. Sollte dieser zu lange ohne Strom bleiben, werden die Pumpen, die das Wasser von den Generatoren fernhalten, ausfallen und die Technik der Generatoren würde langfristig beschädigt.

Auch die Grundwasservorräte drohen zu versiegen

Im Staudamm in Tabqa sind bereits 80 % der Wasserreserven aufgebraucht, was in etwa 9,4 km3 Wasser entspricht. Tabqa versorgt die lokalen Gemeinden mit Wasser. Die verbliebenen Reserven werden jetzt aber auch gebraucht, um die Technik des Staudamms funktionsfähig zu halten.

Fehlendes Wasser hat unmittelbare Auswirkungen auf die Grundversorgung mit Lebensmitteln und den Vorrat an Grundwasser. Nord- und Ostsyrien gilt als Kornkammer Syriens. Die Talsperren versorgen seit Jahrzehnten die Landwirtschaft mit Wasser. Nachdem jetzt aber der Euphrat immer weniger Wasser führt und die Reservoirs immer kleiner werden, sind die Landwirt:innen gezwungen, immer häufiger auf die Grundwasservorräte zurückzugreifen. Immer tiefer gegrabene Brunnen und die intensive Nutzung dieser Ressource senken den Grundwasserpegel. Bei derart anhaltendem Verbrauch droht das Versiegen in den nächsten zwei Jahren.

Die aktuelle Trockenheit zwingt die Landwirt:innen, die Ernte früher einzuholen, um nicht den gesamten Ertrag des Jahres zu verlieren. Für die kommenden Jahre wird mit einem weiteren Rückgang des Weizenanbaus gerechnet und somit mit negativen Folgen für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung und für die Wirtschaft der gesamten Region.

Ökonomisch trifft der von der Türkei gezielt herbeigeführte geringe Wasserdurchfluss des Euphrats auch die verbliebenen Fischer:innen. Ihre Existenzgrundlage ist gefährdet. Viele von ihnen mussten bereits die Region verlassen oder sich andere Einkommensquellen suchen.
Verantwortliche der Selbstverwaltung für die Wasserversorgung aus allen Distrikten bezeichnen die Lage als bedrohlich und katastrophal.

Dies gilt nicht nur für Nord- und Ostsyrien. Auch im Irak haben die Menschen unter der Wasserpolitik des türkischen Staates zu leiden. Durch den gezielten Entzug von Wasser setzt die Türkei auch diesen Nachbarstaat unter Druck. Laut offiziellen Zahlen des Ministeriums für Wasserressourcen im Irak sind die Wasserstände des Euphrats und des Tigris seit den 1980er Jahren um fast 50 % gefallen. Der einst so üppig fließende Euphrat ist laut offiziellen Verlautbarungen von einer Kapazität von 30 Milliarden Kubikmeter Wasser auf fast die Hälfte, 16 Milliarden Kubikmeter, gefallen. Der irakische Minister Hassan al-Janabi, zuständig für das Wasseramt des Landes, prog­nostiziert bis zum Jahr 2030 einen weiteren Rückgang um mindestens 50 %. Die Folgen für die Gesellschaft vor Ort sind schwer vorstellbar.

Konflikte und Kriege um das kostbare Gut Wasser sind weltweit eine Gefahr, nicht nur im Nahen Osten. Wenn Regierungen, die Wasser als Mittel ihrer Außenpolitik, ihres Machtstrebens und als Waffe einsetzen, nicht Einhalt geboten wird, verschärfen sich die Gefahren für Menschen und ihre natürlichen Lebensgrundlagen.

Die Menschen in Nord- und Ostsyrien bleiben jedoch nicht passiv. Sozdar Ahmed erklärte, mit allen Mitteln nach Unterstützung zu suchen. Im Rahmen dessen habe es bereits Treffen und Gespräche mit den Vereinten Nationen, verschiedenen Menschenrechts- und Zivilrechtsorganisationen, den USA, Russland und dem Roten Kreuz gegeben, mit dem Ziel, Druck auf die Türkei auszuüben. »Aber wir sehen keine Veränderung, wir bekommen nur leere Versprechungen und schöne Worte«, so Sozdar Ahmed.
Doch die Gesellschaft lässt sich davon nicht entmutigen. »Die Menschen und ihre Selbstverwaltung konnten bereits größere Probleme lösen. Die Versuche des türkischen Staates, unser Gebiet austrocknen zu lassen, wird uns nicht vom Aufbau der neuen Gesellschaft abbringen können.«


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021