Kurdische Lastenträger:innen stehen im Visier der Regimekräfte

Kolber: Ein Leben am Rande des Todes

Gulê Algunerhan

Kolber, die oft gefährliche Wege gehen müssen, sehen jeden Tag dem Tod ins Auge, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In Rojhilat, das reich an Ressourcen und das Land des Brotes und des Weizens ist, sterben Menschen für Brot.

»Kolber« ist die Bezeichnung für diejenigen, die für ihren Lebensunterhalt als Träger:innen im Grenzgebiet zum Transport von Waren gezwungen sind. Nicht allein die beschwerlichen Wege bringen sie immer wieder in Todesgefahr, sie stehen auch im Visier der Regimekräfte. Foto: Mezopotamiya AjansıKein Tag vergeht ohne schlechte Nachrichten über Kolber, und diese Tragödie ist langsam alltäglich geworden. Diese täglichen, fast schon routinierten Angriffe sind eigentlich, genauer betrachtet, ein systematisches Massaker.

Einem Bericht des Kurdistan Human Rights Network aus dem Jahr 2019 zufolge starben in der Grenzregion zwischen Rojhilat und Başûr (Ost- und Südkurdistan) mindestens 80 Kolber, mehr als 154 weitere wurden verletzt, von denen 58 direkt vor Ort von iranischen Pasdaran hingerichtet wurden. Die Übrigen kamen auf Grund von Minenexplosionen, Abstürzen aus großer Höhe und Erfrierungen ums Leben. Zu diesen Opfern zählen unter anderem auch der 14-jährige Ferhad Xûsrewî und sein 17-jähriger Bruder Azad Xûsrewî, die beide am 17. Dezember 2019 auf dem Berg Tetê in der Region Hewraman erfroren sind.

»Kolber« ist die Bezeichnung für diejenigen, die für ihren Lebensunterhalt als Träger:innen im Grenzgebiet zum Transport von Waren gezwungen sind. Doch nicht alle, die so arbeiten, sind automatisch Kolber. Das sind ausschließlich diejenigen, die für sehr wenig Geld die Ware von anderen zu Fuß über die Grenze transportieren.

Nach Einschätzung des Kurdistan Human Rights Network und der Meinung weiterer Quellen sind aktuell in Ostkurdi­stan (Iran) mindestens 100.000 Menschen für ihren Lebensunterhalt als Kolber tätig. Daneben gibt es die Händler:innen, die als Kasibkar bezeichnet werden, in der Regel die Besitzer:innen der Ware (sie sind die Subunternehmer:innen). Sie bringen sie in Grenznähe bzw. holen sie von dort ab und verteilen sie an die Städte, während die Kolber für sie die gefährliche Grenzüberquerung unternehmen.

Die Kolber müssen selbst bei schlimmsten Regenfällen ihrem Werk nachgehen. Gruppe für Gruppe machen sie sich auf den Weg, oftmals viele Kilometer weit. Manchmal müssen sie Klippen, Abhänge und gefährliche Straßen überwinden, ein Weg voller Gefahren. Kolber finden sich aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit und Armut in Ostkurdistan zu Zehntausenden in jedem Alter zwischen 13 und 70 Jahren, darunter Hochschulabsolvent:innen, die keine Arbeit finden, oft auch Kinder.

Die Kolber treffen sich an einem bestimmten Ort an der Grenze, packen gemeinsam ihre Last und machen sich auf den Weg. Einige können unter ihrer Last nur noch erahnt werden, bei manchen erreicht sie 100 Kilo.

Was also ist die Entlohnung für das, wofür sie gelitten und wofür sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben? Konkret, wie viel Essen können sie damit abends auf den Tisch bringen?

Das durchschnittliche Tageseinkommen liegt zwischen 8 und 10 US-Dollar, das sind ungefähr 100.000 iranische Toman. Angesichts des aktuellen Preises für ein Kilogramm Fleisch von gut 80.000 Toman wird schnell ersichtlich, dass ihr Gehalt nur etwas mehr als ein Kilogramm Fleisch für einen Tag Arbeit einbringt und alles andere als den Lebensunterhalt für viele Haushalte sichern kann.

Bei den meisten übersteigt das monatliche Einkommen nicht 100 US-Dollar. Die Kasibkar, die gleichzeitig die Eigentümer:innen der Ware sind, die sie meistens aus Dubai oder China importieren, lassen diese dann von den Kolber nach Ostkurdistan bringen. Manches davon geht dann weiter in den gesamten Iran.

Grenzhandel in der Schah-Zeit

Zur Zeit des iranischen Schahs stand die Bevölkerung Süd- und Ostkurdistans in einem regen Austausch, die Grenzkontrollen waren jedoch nicht so streng. In diesen Jahren konnten Kurd:innen aus dem Osten in den Süden gehen, um dort zu arbeiten, z. B. für eine Saison nach Şarezur, und danach mit den erarbeiteten Ersparnissen nach Hause zurückzukehren.

Die meisten Menschen in den Grenzdörfern zwischen Süd- und Ostkurdistan sind Verwandte und gehören demselben Stamm an. Es gab ständige Beziehungen zwischen Dörfern auf beiden Seiten der Grenze. So war die Grenzüberquerung damals also noch eine einfache Angelegenheit. Diejenigen, die auf die andere Seite zum Arbeiten gingen, kehrten bspw. mit Zucker, Reis, Tee oder Mehl für die Familie zurück.

Die Menschen besorgten auch günstige Ware jenseits der Grenze und transportierten sie auf die jeweils andere Seite, betrieben also einen kleinen Grenzhandel auf dem Rücken von Pferden und Maultieren.

Auch zu der Zeit kam es bereits zur Konfrontation mit Söldnern des Staates, doch war die Zahl der Getöteten und Verwundeten lange nicht so hoch wie heute. Die damals Erwischten wurden lediglich für kurze Zeit inhaftiert oder einfach festgenommen und wieder freigelassen.

In der Zeit des Schahs wurden den Familien Grundbedürfnisse durch das Sozialhilfesystem zur Verfügung gestellt. Deswegen war die Zahl der Grenzhändler:innen noch weit geringer.

Das Kommen und Gehen zwischen Nord-, Süd- und Ostkurdistan konnte bis zur Islamischen Revolution 1979 fortgesetzt werden.

Austausch an der Grenzlinie

Wegen des iranisch-irakischen Krieges 1980 bis 1988 wurde der Handel zwischen Ost- und Südkurdistan eingestellt. An der Grenze wurden Pufferzonen geschaffen und Dörfer evakuiert. Aus diesem Grund wurden auch Mitglieder desselben Stammes und derselben Familie voneinander getrennt. Das veränderte die Situation in der Region auf einmal grundsätzlich. Nach acht Jahren Krieg begannen die Menschen in der Region, wenn auch schleppend, ihre Grenzgebiete wieder zu kultivieren, und die Kontakte auf beiden Seiten der Grenze wurden wiederbelebt.

Als das Regime unter Saddam Hussein 1990 Kuwait angegriffen hatte, kam es im folgenden Jahr 1991 zu einem Aufstand der Bevölkerung Südkurdistans. Nach zwei Aufständen war der Herrschaftsanspruch des Iraks in diesem Gebiet zerstört. In dieser Zeit wurden die Verbindungen zwischen Süd- und Ostkurdistan ganz neu belebt. Die Menschen transportierten mit Hilfe von Karawanen, was sie in Kuwait, Bagdad usw. fanden, nach Ostkurdistan und in den Iran. Darunter sensibles Material wie medizinische und auch militärische Ausrüstung sowie Fahrzeuge.

Als die Grenztore im Laufe der Zeit geöffnet wurden, transportierten die Kasibkar ihre Fracht mit großen Lastwagen. Infolge der Formalisierung dieses Handels bildeten sich Monopole und nur wenige Familien in Rojhilat wurden reich, während der absolute Großteil wieder arm blieb.
Durch das andauernd verschärfte Wirtschaftsembargo der westlichen Länder gegen den Iran nach der Islamischen Revolution schrumpfte die iranische Wirtschaft ganz erheblich. Insbesondere seit Anfang der 2000er Jahre wurde das Embargo verschärft. Während der Amtszeit Präsident Ahmadineschāds wurde deshalb jegliche noch verbliebene staatliche Unterstützung für arme Familien vollständig gestrichen. Damit wuchs die Armut in Ostkurdistan enorm. Zehntausende Menschen, die nichts mehr hatten und deren Ressourcen geplündert wurden, begannen ihre »Reise zum Tode für Brot«.

Ursachen der Armut in Ostkurdistan

Laut der Volkszählung des iranischen Regimes 2016 lebten in den Verwaltungsregionen Ûrmiye, Kirmaşan, Sine, Ilam, Hamadan und Lorestan exakt 10.899.285 Menschen. Die Dunkelziffer aber wird auf eine Zahl von ca. 15 Millionen in Rojhilat lebender Kurd:innen geschätzt.

Ostkurdistan ist eines der reichsten Gebiete im Osten der Nation. Als Beispiel: Die zweitgrößte Goldmine des gesamten Nahen Ostens befindet sich in Zerşûran bei der Stadt Tîkaba in Ostkurdistan. Nur 10 km davon entfernt liegt die so genannte Aderê-Mine, die 2,2 Tonnen im Jahr zu Tage fördert. Neben dem Gold verfügt die Region auch noch über Silber-, Eisen-, Aluminium- und Quarzressourcen.

Auch in der Landwirtschaft ist der Osten eines der ertragreichsten Gebiete. Nach offiziellen Angaben werden das meiste Getreide und die meisten Kichererbsen in den Provinzen Sine und Kirmaşan angebaut. 80 % der im Iran konsumierten Erdbeeren stammen aus Ostkurdistan, ein Großteil des iranischen Apfel- und Traubenbedarfs wird aus der Provinz Urmia gedeckt.

Offiziellen Zahlen des Sozialministeriums zufolge wird der größte Teil der Viehzucht des Irans in Kirmaşan, Ilam und Lorestan betrieben. Darüber hinaus bilden Öl-, Erdgas- und Kohlevorkommen Ostkurdistans weiteren unterirdischen Reichtum.

Warum werden also inmitten dieses Reichtums Menschen zu Kolber? Die Antwort liegt bereits in der Frage verborgen. Die Republik Iran hat stets eine gesonderte Wirtschaftspolitik für Rojhilat angewendet. In den ostkurdischen Städten können die Menschen beispielsweise keine Arbeit finden. Nach einem Bericht aus dem Jahr 2014 über die wirtschaftliche Situation Irans sind 67 % der gesamten Wirtschaftskraft des Landes auf die und um die Hauptstadt Teheran konzentriert. Von 82 Millionen Menschen im Iran leben circa 10 Millionen in Teheran.

Gleichzeitig unterscheidet sich die Situation der Bevölkerung in den aserbaidschanischen Städten von derjenigen in den restlichen Provinzen. In der aserbaidschanischen Stadt Täbris beispielsweise gibt es viele Fabriken und dort ist Arbeitslosigkeit kein großes Problem. Die Lage in den Regionen mit vornehmlich arabischer, kurdischer und belutschischer Bevölkerung ist dagegen sehr schlecht.

Laut den offiziellen Zahlen des Regimes liegt die Arbeitslosigkeit aktuell bei 25 %. Aber diese Quote hat einen Haken, denn selbst wer nur vier Tage im Monat gearbeitet hat, gilt nicht als arbeitslos. Dementsprechend gibt es Schätzungen, dass in Ostkurdistan eine Arbeitslosenrate von bis zu 60 % herrscht.

Gegen die Politik der Unterwerfung die Wahl eines Lebens mit Würde

Eine zentrale Politik des Regimes, die Menschen an sich zu binden, ist ein System von Paramilitärs, Agent:innen, Schmiergeld und Überwachung. In Ostkurdistan hilft es nicht einmal, über zehn Diplome zu verfügen, um eine Arbeit zu finden, wenn man sich diesem System nicht fügt. Weil viele in Ostkurdistan das für sich jedoch nicht akzeptieren, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als der Arbeit der Kolber nachzugehen. Sie wissen ganz genau, dass Kolber sehr wenig verdienen für eine unbeschreibliche Mühe, dass viele von ihnen verletzt werden, es immer wieder zu Todesfällen kommt. Es finden sich auch viele Hochschulabsolvent:innen unter ihnen. Früher arbeiteten nahezu ausschließlich Männer als Kolber. In den letzten zehn Jahren jedoch haben auch allmählich Frauen damit begonnen. Meistens sind es verwitwete Frauen, diejenigen, die die volle Verantwortung für den eigenen Haushalt übernehmen mussten.

Das iranische Regime bezeichnet diese Menschen als »Schmuggler:innen«, verunglimpft ihre Arbeit als »illegale Arbeit«. Es ermächtigt die Pasdaran an der Grenze, ohne Vorwarnung auf die Kolber zu schießen.

Trotz all der staatlichen Maßnahmen gegen die Kolber wird diese Arbeit von den meisten weiterhin als wichtiger Beruf gesehen. Die Menschen vor Ort würden sie niemals als »Schmuggler:innen« bezeichnen, auch weil die meisten von ihnen die Grenze als sinnlos und überflüssig ansehen. Sie sagen, wenn sie in eines der Dörfer nach Süd- oder Nordkurdistan gehen, sei es für sie so, als gingen sie lediglich ins Nachbardorf.

Es gab mehrfach Versuche kurdischer Parlamentarier:innen, dieses Thema in Teheran im Parlament zur Sprache zu bringen. Es gab viele Lösungsvorschläge, sowohl für den Grenzkonflikt an sich als auch für die Kolber, ihnen beispielsweise einen Status zu geben, aber alle Vorschläge werden bisher vehement abgelehnt. Auch der Regierung in Südkurdistan ist es bisher nicht gelungen, zu dem Thema etwas zu unternehmen. Sie versucht noch nicht einmal, die Ermordung der Kolber zu verhindern.

Die »Sicherheitskräfte« töten auch Belutsch:innen

Angesichts dieser Realität ist nicht schwer zu verstehen, dass je härter das Embargo wird und je mehr die Wirtschaft schrumpft, desto höher die Zahl der Kasibkar und Kolber steigt. Kolber gibt es aber nicht nur in Ostkurdistan, es gibt sie auch in der Region Belutschistan. Dort gehen sie über die Grenze nach Pakistan, um Treibstoff, Zigaretten und digitale Endgeräte zu importieren. Wie in den kurdischen Gebieten auch eröffnen die iranischen Pasdaran ohne Vorwarnung das Feuer auf die belutschischen Kolber und verursachen Todesfälle und Verletzungen.

Gleichzeitig findet ein intensiver Warenaustausch an den Grenzen zu Aserbaidschan, Armenien, Turkmenistan und über den Golf statt, doch gibt es hier keinerlei Berichte über Verwundete oder gar Getötete. Das findet ausschließlich in den kurdischen und belutschischen Gebieten statt. Hier hört man nichts von Festnahmen und Verhaftungen, Kolber schaffen es über die Grenze oder nicht, dazwischen gibt es nichts. Das iranische Regime will die Bevölkerung durch Hunger zermürben und mit extralegalen Hinrichtungen gefügig machen.

Kampf und Stolz ohne Beine und Gnadengeschenke

Der Bevölkerung bleibt kein Ausweg. Wie Wênes Feyzî aus Pîranşahr, der als Kolber arbeitet, obwohl er keine Beine hat. Jetzt sagen Sie vielleicht, das sei unmöglich, wie soll ein Mensch ohne Beine und ohne Prothesen diese Arbeit erledigen? Auch ich hätte das nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Denn das Kurdistan Human Rights Network hat Wênes Feyzî vor ungefähr drei Jahren bei seiner Arbeit als Kolber gefilmt und interviewt. Ich weiß leider nicht, was aus ihm geworden ist, aber in dem Video wird von ihm ein Bild des Widerstands und der Ablehnung von Würdelosigkeit gezeichnet.

Wênes Feyzî ist einer der Tausenden, die ihren Lebensunterhalt mit der Grenze verdienen. Als er klein war, ging er mit seinen Geschwistern auf die Hochebene, um spezielle Gräser und Kräuter zu sammeln. Dabei traten sie auf eine Mine, die eine Schwester und einen Bruder Feyzîs das Leben kostete und ihn beide Beine.

In einem anderen Land hätte er Hilfe erhalten und Prothesen bekommen, doch hier war er für den Lebensunterhalt gezwungen, der Arbeit als Kolber nachzugehen. Er sagt dazu: »Seit mittlerweile 23 Jahren lebe ich ohne meine Beine. Trotzdem hat mich das nie von meiner Arbeit und meinem Kampf abgehalten. Ich habe nie beim Staat oder der Regierung gebettelt.«

Über zwei Millionen Menschen leben von oder mit der Grenze

Nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen und lokaler Quellen leben, zusammen mit den Kasibkar, die Pferde, Maultiere oder gar Fahrzeuge besitzen, und den Kolber, über 500.000 Menschen an der Grenze zwischen Ost- und Südkurdistan bzw. Ost- und Nordkurdistan. Das sind inoffiziell zwei Millionen Menschen, die ihren Lebensunterhalt an und mit der Grenze verdienen.

Unvorstellbar, dass in einem Land mit so reichen Ressourcen, dem Land des Weizens und des Brotes, tagtäglich Menschen sterben, weil ihnen das Brot zum Leben fehlt.

Das Nan-Lied (Brot) des großen Künstlers Mamostê Necmeddîn Xulamî ist seit Jahren in aller Munde. Angesichts des Lebens der Kolber lassen sich die Bedeutung und die Wichtigkeit dieses Liedes besser verstehen:

»Min ew kesem hemû rojê,
Hey jîn, hey jîn
Jiyanî Emrom efiroşim
Bo kirinî nanî sibey
Hey dad, Hey dad
Lem bazara bê rehme da
Jiyan herzantir e le nan...« 
 »Ich, der ich mein Leben jeden Tag verkaufe,
Oh Leben, oh Leben
Für das morgige Brot
Oh meine Mutter, oh meine Mutter
Aber auf diesem skrupellosen Basar, ist das Leben billiger als Brot ...«

 

 

 

 

 

 

 


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021