Über das Weben von Autonomie und Widerstand in Abya Yala

»Sie repräsentieren uns nicht«

Emmanuel Rozental, Pueblos en Camino, Valledupar, Kolumbien, 28. Mai 2021
Einen Monat im Nationalstreik, zwanzig Jahre in der indigenen Garde

Am 4. Dezember 1972 warnte Salvador Allende, Gründer der Sozialistischen Partei Chiles, in seiner denkwürdigen und oft vergessenen Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Welt vor einer heraufziehenden Gefahr, die alle Länder der Welt, einschließlich der mächtigsten Nationen, bedrohe: Er bezeichnete sie als transnationale Unternehmen (der abermalige Ausdruck anhaltender europäischer Eroberung). Am 11. September 1973 wurde er von diesen Konzernen und ihren nationalen Dienern und Komplizen ermordet. An diesem Tag begannen jene Konzerne mit dem Militärputsch gegen seine Regierung der Volkseinheit die neoliberale Übernahme der Welt.

Die »Pinguine« weigerten sich, die Preiserhöhung für öffentliche Verkehrsmittel in Santiago de Chile zu bezahlen. Sie gingen auf die Barrikaden und waren nicht zu stoppen. »Pinguine« sind Schüler ab elf Jahren, die bereits in der Vergangenheit für Bildung und ein würdevolles Leben mobilisiert hatten – in einem Land, das starr ist vom neoliberalen Erfolg. Der Rest ist fortlaufende Geschichte: 2019 wurde ganz Chile monatelang durch sie mobilisiert. Die Straßen, in denen Statuen abgerissen und Plätze umbenannt wurden, wurden zu einem Festival der Freude und Kraft. Ein anderes Chile durchbrach die Lücken der totalen Unterdrückung und kohärenten Politik seit den Tagen des Diktators Pinochet, seit der Ermordung Allendes, seitdem die Wirtschaftspolitik der Chicago-Zöglinge nach dem blutigen transnationalen Konzernputsch von Pepsi, Kissinger und ihren globalen transnationalen Komplizen zum ersten Mal durchgesetzt worden war, die von der CIA und dem Pentagon unterstützt wurden – sehr zur Freude der lokalen Eliten, die wiederbelebt und mit ihren Privilegien als Teil einer globalen transnationalen Unternehmensklasse eingeführt wurden.

Nach zu vielen Jahren des Blutvergießens und des Schweigens wurde der Diktator nach vielen Aufständen zu Fall gebracht, unter strikten Bedingungen – zu jeder Zeit nach einem transnationalen gemeinschaftlichen Drehbuch, mit Unterstützung der imperialen US-amerikanischen und lokalen Eliten. Seine Entmachtung sollte ihm Straffreiheit für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewähren, den Schutz seines unermesslichen Reichtums, der aus staatlichen Mitteln gestohlen oder ihm von Unternehmen und seinen elitären Partnern zugeschoben worden war. Diese Bedingungen garantierten die Verschleierung und Vertuschung der Hintermänner des Putsches, der lokalen und globalen Drahtzieher, Henker und Nutznießer. Die Strukturanpassung war vollzogen und der Diktator wurde nicht mehr gebraucht. Andere konnten nun einziehen, um den Status quo zu verwalten. Jetzt konnte mit der Volksabstimmung vom 5. Oktober 1988 die neue neoliberale Demokratie gegründet werden.

Durch eine unantastbare Bedingung hat der Verräter, der blutige Räuber Chile in den Fängen des Neoliberalismus zurückgelassen: seine Verfassung – entworfen für die Reichsten und Mächtigsten, um alles und jeden dauerhaft ausbeuten zu können –, die weder angefochten noch geändert werden könnte, selbst dann nicht, wenn eine Volksabstimmung ihm seine Macht entziehen würde. Dem chilenischen Volk wurde für den Umgang mit einem kriminellen Militäroffizier und Diktator, der sich massiver Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatte, eine – und nur diese eine – Wahlmöglichkeit gegeben: dafür oder dagegen zu stimmen, dass er der Präsident von Chile bleiben sollte, und ihn für den Frieden (Massaker) und den Wohlstand (Diebstahl) zu respektieren, die er nach Chile gebracht hatte. Fünfzehn Jahre unter der (blutigen) Herrschaft des Neoliberalismus reichten für die unternehmerischen Weltherrscher aus, um davon auszugehen, dass das chilenische Wunder bestehen bleiben würde. Hauptsächlich weil die Generation, die zu Allendes Wahltriumph und Hoffnungen auf einen revolutionären demokratischen Wandel beigetragen hatte, brutal zerschlagen worden war. Aber auch, weil eine ganze neue Generation dazu erzogen wurde, kein anderes Modell und keine andere Lebensweise zu kennen als Gehorsam und Unterwerfung unter neoliberale Politik oder die eingebürgerte Herrschaft transnationaler Konzernherren.

Seit Pinochet mit allen Ehren verabschiedet worden und nach Europa gezogen war, um seinen Ruhestand zu genießen, regierte, mit wenigen Ausnahmen, die »Linke« (La Concertación) Chile unter diesen Bedingungen. Ein Spiel begann, in dem die neoliberale Rechte Chile durch eine Koalition von Parteien der Linken beherrschte. Wahlprozesse, die nichts ändern sollten, folgten aufeinander. Ein gewählter Präsident nach dem anderen trat sein Amt an, gewählt von Menschen, die nur zwischen treuen Verwaltern der neoliberalen Konzernherrscher auswählen konnten. Es gab Wahlen, Parteien, Demokratie für Banker, die Rohstoffindustrien, Spekulation, Privatisierung, Ausbeutung der Arbeiter, Verarmung der Mehrheiten, wachsende Ungleichheit, die Verwandlung von Rechten in Waren und Privilegien, unvergleichliches Wachstum und wirtschaftlichen Erfolg, effektive Propaganda, und alles erschien sauber, neu, organisiert und so, wie es sein sollte. Eine Welt der Verlierer und Gewinner, in der Erstere nach den Regeln des freien Wettbewerbs selbst die Verantwortung tragen für ihre Situation, natürlich einschließlich ihres Rechts, ihre Regierung zu wählen. Da es innerhalb der Unternehmensdemokratie keine anderen Optionen gibt, stimmen die Menschen entweder für eine linkssprechende Rechte oder zur Abwechslung für die wirkliche Rechte.

»Neue Demokratie« des »freien Handels«

Das chilenische Wunder wurde an internationalen Standards gemessen: BSP, Wirtschaftswachstum, chilenischer Warenfluss zu den Weltmärkten. Ökonometrische Standarddaten bewiesen, dass Chile das Beispiel war, dem es zu folgen galt. Keine sozialen Unruhen und eine gesunde Wirtschaft. Es war entweder das oder eine Rückkehr zu den Tagen der Diktatur, die von ihren Nutznießern unterstützt wurde: einer rassistischen, faschistischen, transnationalen und traditionellen Elite, deren Annahme es war und ist, dass das Wohlergehen Chiles ihr Wohlergehen bedeute. Jeder Zweifel daran sollte unmöglich, undenkbar und illegal sein. Wirtschaftliche und repressive Mechanismen wurden eingerichtet und verfestigt. Ganz gleich, ob Kopf oder Zahl, sie gewinnen. Die während der Reagan-Administration entwickelte Strategie zur Förderung der Demokratie, um von den USA installierte Diktatoren in Lateinamerika und der ganzen Welt überflüssig zu machen und durch diese neue Demokratie des »freien Handels« zu ersetzen, wurde auf diese Weise in Chile getestet und umgesetzt. Wahlen würden die demokratische Durchsetzung neoliberaler Politik zu Gunsten der transnationalen Unternehmen und lokalen Eliten im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit garantieren.

Aber das Experiment ging über Chile hinaus: Die progressive Linke stellte seit 1988 den Großteil der Regierungen und kam ihrer Verantwortung nach, den unternehmerisch-finanziellen-imperialen Gewinn zu fördern. Es schien keinen Ausweg zu geben. Das politische Spektrum wurde effektiv auf die Wahlrituale beschränkt zwischen der Linken von der Rechten und der Rechten von dem, was links gewesen war, unter der permanenten Bedrohung einer Rückkehr zur Diktatur. Der Kapitalismus hat in Chile gelernt, dass die Linke an der Staatsmacht nur die Möglichkeit hat, zum eigenen Vorteil zu administrieren, oder die Konsequenzen daraus tragen muss, gegen die Rechte zu verlieren. Progressive linke Regierungen wurden in der gesamten Region (Brasilien, Ecuador, Venezuela, Bolivien, Nicaragua, Argentinien, Mexiko) möglich und akzeptabel, da sie (schlecht) im Sinne des Kapitalismus verwalteten und zu neofaschistischen Regimen führten.

Der Kaiser war nackt. Das Volk der Mapuche wusste das und litt die ganze Zeit, während es dem im Dienste der Firmeninvasoren tätigen brutalen chilenischen Staat die Stirn bot. Meist allein kämpften und kämpfen sie weiter für territoriale Autonomie und das Überleben. Die Mapuche werden von einem Terrorstaat und einer Propagandamaschinerie angegriffen, von denen sie als Terroristen abgestempelt werden. Michelle Bachelet, damals Präsidentin für die Linke, jetzt UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, verhängte die Anti-Terror-Gesetzgebung über ihr Territorium.

Aber eine Lüge ist eine Lüge, auch wenn sie von Propaganda und Parfüm verdeckt wird. 2011: Studenten und Gymnasiasten mobilisierten, aber ihre Führung wurde in den Wahlprozess hineingezogen und in das Spektrum des Möglichen eingegliedert. 2019: Pinguine sagten »genug!«. Ganz Chile explodierte, weil es die Lügen nicht mehr wollte. Chile war kein Wirtschaftswunder. Chile war und ist eine Farce unter der alles umfassenden Diktatur des neoliberalen Kapitalismus. Die Leute wussten, dass sie nichts zu verlieren hatten, und gingen auf die Straße, um einen Karneval zu genießen, sich gegenseitig zu erkennen und zu leben, denn das Leben unter den Wirtschaftsbossen ist elend, anstrengend, einsam und traurig. Die Regierung zeigte ihr wahres Gesicht. Repression, Terror, Vergewaltigungen, Massaker sowie Hunderte, die durch die Angriffe der Polizei ihr Augenlicht verloren. Von Straflosigkeit gedeckte zügellose Brutalität. Vorgetäuschte Zugeständnisse ohne Bedeutung. Die Covid-Pandemie rettete die erneut gewählte Diktatur des Pinochet-/Chicago-Zöglings Piñera. Der größte Teil der Energie des Volksaufstands wurde wiederum in eine Verfassunggebende Versammlung gelenkt.

Einmal mehr bestimmen ein Wahlprozess, institutionelle staatliche Verfahren und Wege das Mögliche. Diejenigen, die das Mögliche definieren, und diejenigen, die diese Definition akzeptieren, vereinnahmen die Bestrebungen und die Kreativität eines Aufstands und bestimmen (wieder) die praktische Bedeutung und Interpretation von »das vereinte Volk wird niemals besiegt werden«. Veränderungen lassen sich nur innerhalb der Regeln und Bedingungen des Staates bewirken. Auf diesem Wege ändert sich wieder alles innerhalb des staatlichen Systems, in einer Weise, die alles beim Alten belässt. Volksversammlungen und andere Mechanismen, die nach gesellschaftlicher und territorialer Autonomie und einer wahrhaft demokratischen Agenda jenseits des Staates streben, sind zu schwer umsetzbar. Es ist immer einfacher – bis jetzt –, zu dem zurückzukehren, was bereits besteht. In der neu gewählten Verfassungsgebenden Versammlung gibt es neue Gesichter und Stimmen. Die meisten von ihnen gehören nicht zu den linken oder rechten neoliberalen Herrschern, aber im Moment scheint Chiles Aufstand auf die Grenzen und Prozeduren eines Nationalstaats im »Konzert der Nationen« unter der Kontrolle von Regeln und Befugnissen zur Vermögensanhäufung beschränkt worden zu sein. Kann der Verfassungsprozess als Mittel für den Geist und die Bestrebungen des Aufstands dienen oder hat er dessen Enthusiasmus eingefangen zur Erneuerung des Status quo? Chile ist mit ziemlicher Sicherheit zu dem zurückgekehrt, was möglich ist: Es gibt keine Alternative zu den Bedingungen des Nationalstaats.

Kolumbien: »völkermörderische Demokratie«

Der kolumbianische Aktivist und Ökonom Hector Mondragon schlussfolgert: »Der Neoliberalismus erreichte den Kontinent in den Stiefeln von General Pinochet und landete in den Hubschraubern des Plan Colombia.« Kolumbien – von Pater Javier Giraldo mit anschaulicher Präzision als »völkermörderische Demokratie« bezeichnet – hat keine formelle Diktatur benötigt. Das Wahlritual wurde in strikter Regelmäßigkeit aufrechterhalten, während Krieg und Terror dem Staat und seinen Institutionen zum Wohle des brutalsten, blutigsten, ungleichsten und kriegsgetriebensten Landes des Kontinents Stabilität verleihen. In bewaffnete Konflikte und einen fünfzigjährigen Krieg gedrängt, musste sich der Widerstand der Bevölkerung einer kreativen Repression stellen, die vom Pentagon und seinen Verbündeten massiv finanziert, ausgebildet und bewaffnet wurde. Die Eliten sind gut gebildet, rassistisch, arrogant und davon überzeugt, dass ihr Wohlergehen das Wohlergehen der Nation bedeutet. Der Rest ist nur da, um ihnen zu dienen.

Nach und nach hat sich das Establishment in den letzten vier Jahrzehnten in ein faschistisch-mafiöses Regime verwandelt, verkörpert von Alvaro Uribe Velez, der das Land (mindestens) die letzten zwei Jahrzehnte direkt oder indirekt beherrscht hat. Kolumbien wurde in eine eng mit den Nutznießern der globalen neoliberalen Finanzunternehmen verbundene Drogen-Ökonomie verwandelt. Ob Bergbau, Erdöl, Agrarindustrie, globale Finanzwirtschaft, Bildung, Gesundheit, Gefängnissystem, Justiz oder Sicherheit – Privatunternehmer und Konzerne offenbaren eine vollständige Übernahme von Staatsland, Reichtum, Institutionen und der mächtigsten und größten repressiven Terror- und Kriegsmaschinerie des Kontinents. Laut Ricardo Vargas Meza produziert Kolumbien 92 % des weltweit verkauften Kokains. Mindestens 5 % des Bruttosozialprodukts des Landes fließen jährlich als illegaler Drogengewinn in das Land zurück, um durch ein nationales und globales Netzwerk aus Korruption und Verbrechen, das legalen und illegalen Kapitalismus miteinander verwebt, gewaschen zu werden. Das wählbare politische Spektrum unter diesem Regime ist (bestenfalls) auf liberale Sozialdemokraten beschränkt, die versprechen, das auf Profit-Terror basierende Akkumulations-Establishment nicht infrage zu stellen. Ein Wahlkampf ist teurer als einer in den USA, so dass er durch das Drogengeld kontrolliert wird. Krieg gegen Drogen und Drogenhandel sind die zwei Seiten einer offiziellen staatlich-unternehmerischen politischen Gleichung: Schwarzhandel mit Drogen.

Millionen wurden »entbehrlich« gemacht: Menschen (meist verarmte Jugendliche), die Abschaum sind und entweder nicht existieren oder für den illegalen Kleinsthandel oder als Auftragskiller billig angeheuert werden. Ihre Lebenserwartung in städtischen Slums ist sehr gering. Sie sind Kinder der mehr als sieben Millionen Binnenflüchtlinge, die durch den Krieg in die Städte vertrieben wurden, um Landbesitz für Unternehmensprojekte, Rohstoffgewinnung und Bodenspekulation im Zusammenhang mit dem Drogenhandel zu konzentrieren. In Kolumbien kann man wählen, aber der Staat gehört zum Establishment, und er gehorcht den Regeln der mafiös-faschistisch-unternehmerischen Akkumulation. Das alles geschieht unter dem Deckmantel des Kampfes für Rechtsstaatlichkeit und der Beseitigung der Korruption, damit die Menschen weiterhin glauben, dass sich dies alles durch die Übernahme der Staatsmacht ändern kann. Eine Vereinbarung zwischen der FARC [FARC-EC; Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee] und der kolumbianischen Regierung lief unter dem Etikett eines Friedensabkommens, ungeachtet der Tatsache, dass der soziale Konflikt geleugnet und durch Terror niedergeschlagen wird. Das Abkommen wurde nicht eingehalten. Massaker an mehr als 300 ehemaligen Kombattanten und mehr als 1000 gesellschaftlichen Führungspersonen werden, seit Unterzeichnung des Abkommens, mit Streitkräften und Polizei in Verbindung gebracht, während Unternehmens- und Drogenhandelsinteressen dank des Abkommens Zugang zum Land erhalten. Die Covid-Pandemie hat einen gewaltigen Transfer staatlicher Ressourcen an Eliten und Unternehmensinteressen ermöglicht bei gleichzeitiger Zunahme von Staatsverschuldung, Steuerbefreiungen für Reiche und verzweifelter Armut der Mehrheit.

Keine Verhandlungen mit einer kriminellen Regierung

Am 28. April 2021 explodierten 15 Millionen Kolumbianer (von 45 Millionen Einwohnern) aus 800 (von 1121) Gemeinden. Der landesweite Streik dauert seit einem Monat an und bekommt immer mehr Zulauf. Die Regierung, die Eliten, die Streitkräfte und die Paramilitärs töten jetzt offen (bisher mehr als 60), vergewaltigen Frauen (mehr als 80), lassen Menschen verschwinden (mehr als 500 gemeldet) und kosten das Augenlicht (mehr als 40). Der Präsident befiehlt den Krieg gegen Unbewaffnete, stellt die meist fröhlichen Proteste der Bevölkerung als Vandalismus und die Eliten als Opfer dar, um die Militarisierung des Landes im Namen des Schutzes der Bürger zu rechtfertigen. Die Polizei ermordet unbewaffnete zivile Demonstranten, infiltriert die Proteste mit zivil gekleideten Polizisten und Paramilitärs, um Eigentum zu zerstören und Repressionen zu rechtfertigen. Während die traditionelle Linke, NGOs und Gewerkschaften zu Verhandlungen aufrufen, werden die Menschen von ihnen nicht vertreten und weigern sich, mit einer kriminellen Regierung und einem kriminellen Staat zu verhandeln. Bisher gibt es zwei offensichtliche Ergebnisse dieses Aufstands: Erstens wurden mehr Menschen mobilisiert als je zuvor und zweitens wurde der Staat als illegitim, kriminell und als bloßes Hindernis für das Recht auf Leben entlarvt.

Befreien von Nationalstaaten, Patriarchat, Kapitalismus

Der Blick auf das Spektrum zwischen Chile und Kolumbien liefert Bilder, die die Situation und die Herausforderungen Lateinamerikas darstellen. Es gab Aufstände in Haiti, Ecuador, Nicaragua, Bolivien, Mexiko, Venezuela und anderen Ländern. Bisher haben sich institutionelle Ergebnisse durchgesetzt, aber sie haben die Bewältigung der tiefgreifenden Probleme nur verschoben. Globale kapitalistische Strukturanpassungsforderungen lösen indirekt oder direkt die Rebellionen gegen progressive linke oder liberale/faschistische Regierungen aus. Staaten und Regierungen verfolgen eine patriarchale, autoritäre, undemokratische, rassistische Politik. Widerstand und autonome Befreiung beinhalten (früher oder jetzt, viel später), uns zu befreien von Nationalstaaten, Patriarchat, Kapitalismus und der Mentalität, die diese unterstützt und in uns lebt, so dass wir selbst im Aufstand erwarten, dass der »Große Vater« für uns sorgt. Alles, was der Staat tut, verschärft die Krise. Entweder brechen sie uns durch Völkermord und Vernichtung, versuchen mit uns zu verhandeln und uns einzubeziehen oder beides. Wir sammeln uns aus der mit Erinnerungen und Erfahrungen gefüllten Vergessenheit, in die wir in unserer Einsamkeit gezwungen wurden, und so lernen wir voneinander, für unsere Bedürfnisse zu sorgen und mit Freude zu leben, wenn wir uns vom Patriarchen befreien. Das ist die Essenz unserer Rebellion, der Horizont unseres Kampfes. Der Tag unseres Freiheitsfestes wartet immer noch darauf, dass wir uns jenseits kolonialer Grenzen gegenseitig erkennen und uns selbst regieren mit der trotz Verleugnung immer noch zwischen uns und in uns bestehenden Weisheit dieser Länder (Pacha Mama, Mutter Erde) und Territorien. Wir stehen immer noch vor der Herausforderung, uns und unsere Länder auf unsere eigene Weise zu befreien, während wir Widerstand und Selbstbestimmung zwischen Völkern und Prozessen weben.

Abya Yala ist einer der Namen, die indigene Völker dem Kontinent vor der Ankunft der europäischen Invasoren gaben. Seit 1992, im Rahmen des Gedenkens an 500 Jahre Widerstand, wird dieser Kontinent wieder so benannt.

»Sie repräsentieren uns nicht«: skandiert von jungen Männern und Frauen während der landesweiten Mobilisierungen in Kolumbien.


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021