Über Frauenselbstverteidigung und Fremdbestimmung in Şengal

Die Stärke der Frauen, sich und die Gesellschaft zu schützen

Interview mit Axîn Întîqam, Kommandierende der Şengal-Fraueneinheiten YJŞ

»Es ist für unsere Gesellschaft noch relativ neu, sich daran zu gewöhnen, dass auch Frauen eine Verteidigungseinheit bilden und sich und ihre eigene Gesellschaft unabhängig vom Mann schützen können«, so Axîn Întîqam im Interview mit dem Kurdistan Report über Haltung der êzîdischen Gemeinschaft zu den Frauenverteidigungseinheiten von Şengal.

Zivilgesellschaft und die Fraueneinheiten der YJŞ gehen gemeinsam gegen jegliche Angriffe auf die Straße. | Foto: newaja jinVor fünf Jahren wurden die Frauenverteidigungseinheiten in Şengal gegründet. Welche Gründe waren ausschlaggebend für die Gründung autonomer Frauenverteidigungseinheiten?

Der Hauptgrund für die Gründung der YJŞ war der Genozid, der 2014 an der êzîdischen Gesellschaft und Religion verübt wurde. Während des Genozids wurde die Gesellschaft im Stich gelassen, ohne jegliche Chance, sich selbst verteidigen zu können. Sie wurden Opfer des Genozids und haben deshalb, vor allem die Frauen, große Schmerzen erleiden müssen. Vor allem Frauen und Kinder wurden Ziel des Genozids. Deshalb war es vor allem für die Frauen wichtig, sich selbst verteidigen zu können. Das Vertrauen zu fremden Einheiten und vor allem zu Männern war gebrochen worden. Wir êzîdischen Frauen haben erkannt, dass wir nicht nur als Gesellschaft, sondern vor allem als Frauen nur einander vertrauen können.

Ein anderer Grund war natürlich, als êzîdische Frau Rache am IS und an denjenigen zu nehmen, die am Genozid beteiligt waren. Vor allem Rache für die êzîdischen Frauen und Kinder, die vom IS gekidnappt worden sind. Für uns war es wichtig, uns als Frauen zu organisieren, unabhängig von den gesellschaftlich herrschenden Ansichten. Denn wie schon erwähnt, das Vertrauen zu Männern wurde gebrochen. 2015 wurden die Frauenverteidigungseinheiten Şengal (YPJ-Şengal) gegründet. Im Jahr nach der Befreiung der entführten Frauen wurden auf der ersten Konferenz die Şengal-Fraueneinheiten (Yekîneyên Jinên Şengal, YJŞ) offiziell als Frauenverteidigungseinheit gegründet. Nach dieser Konferenz haben die YJŞ an vielen Fronten in Şengal, aber auch in Rojava gekämpft und wurden somit ein Vorbild für viele êzîdische Frauen. Die haben begonnen, an sich selbst zu glauben und sich selbst zu vertrauen.

Welche Haltung hat die êzîdische Glaubensgemeinschaft zu euch als Fraueneinheiten?

Nach der Gründung der YJŞ wurde die Gesellschaft natürlich positiv beeinflusst. Zunächst muss gesagt werden, dass unsere Gesellschaft sehr introvertiert ist, das heißt, eine geschlossene Gesellschaft ist, vor allem, was Religion und Glauben betrifft, und sich gegen Angriffe von außen reflexartig immer in eine Schutzposition begibt. In vielerlei Hinsicht ist sie aber eine recht offene Gesellschaft, konnte dadurch sich selbst und ihren Glauben schützen. Was die Frauen angeht, ist es dasselbe. Sehr in sich verschlossen und gleichzeitig auch sehr offen. Während des letzten Genozids wurden viele Frauen entführt. Die Frage war nun, wie sollten die verbliebenen Frauen geschützt werden? In der Männersicht war es unmöglich sich vorzustellen, dass Frauen sich bewaffnen und sich selbst schützen. So etwas hätten sich die Männer nicht mal in ihren Träumen ausmalen können. Natürlich empfinden auch sie Stolz, wenn sie bewaffnete Frauen sehen, sie würden es sich jedoch für ihre eigene Tochter auch heute noch nicht wünschen, den YJŞ beizutreten. Die Frau als Eigentum und Ehre zu sehen, das ist in der êzîdischen Gesellschaft noch sehr verbreitet. Es ist für unsere Gesellschaft noch relativ neu, sich daran zu gewöhnen, dass auch Frauen eine Verteidigungseinheit bilden und sich und ihre eigene Gesellschaft unabhängig vom Mann schützen können. Für die Frauen natürlich sind wir ein Vorbild, auf das sie stolz sind.

Eure Hauptaufgabe ist die Verteidigung des êzîdischen Siedlungsgebietes. Trägt die Gesellschaft noch andere Anliegen und Bedürfnisse an euch heran?

Egal, wo wir gebraucht werden, setzen wir uns für unser Volk ein. Das Hauptanliegen ist, sich selbst zu organisieren und alle Frauen erreichen zu können. Vor allem, nachdem die Philosophie und Ideologie von »Reberî« Abdullah Öcalan die Gesellschaft sehr zum Positiven beeinflusst haben, setzen vor allem die êzîdischen Frauen viel Hoffnung in uns. Das Wichtigste für unsere Frauen ist es, sich selbst organisieren zu können. Selbst Entscheidungen treffen zu können. Genau diese Rolle sehen sie in uns und hoffen dadurch, dass wir nicht nur als eine militärische Einheit, sondern vor allem als eine Organisation, eine Frauenorganisation ein Vorbild sein können und müssen.

Wie bewertet ihr das politische Abkommen zwischen der irakischen Regierung in Bagdad und der PDK? Wie verteidigt ihr euch gegen diese Fremdbestimmung?

as das Abkommen betrifft und warum der Irak diesen Schritt getan hat, kann man auch so verstehen, dass ihn nach all diesen Jahren das Chaos so erschöpft hat und er einiges ändern will. Doch anstatt sich mit uns zusammenzusetzen, haben sie beschlossen, sich mit der PDK (Demokratischen Partei Kurdistans) zusammenzusetzen. Doch sind in dieser Angelegenheit nicht nur PDK und irakische Regierung beteiligt, sondern auch äußere Kräfte sind mit im Spiel. Auf der einen Seite die Türkei, die unbedingt auf diesem Gebiet ihren Traum vom Osmanischen Reich erfüllen will, und auf der anderen Seite die UN selbst, die dieses Abkommen zu eigenen Zwecken unterstützen.

Geografisch gesehen ist Şengal in einer strategisch interessanten Position. Deshalb ist es für die Nachbarstaaten vor allem wichtig, Şengal unter eigene Kontrolle zu bekommen. Wir alle wissen, dass Şengal ein êzîdisches Gebiet ist und êzîdisch geführt werden sollte, aber diese Auffassung vertreten die Nachbarstaaten und andere Kräfte nicht. Ganz im Gegenteil, die Politik, die hier gegen die Êzîden praktiziert wird, kann auch bei genauerer Betrachtung als Genozid angesehen werden. Denn es wird immer wieder versucht, die Êzîden aus ihren Siedlungsgebieten in europäische Länder zu vertreiben. Dadurch können sie sich in der Fremde weder physisch noch kulturell schützen. Wenn das nicht noch ein Genozid ist, was dann?

Die Parteien, die dieses Abkommen unterstützen und unterschrieben haben, sind der Ansicht, dass kein Platz für Demokratie und Menschenrechte ist. Wir unterstützen nur die Parteien, die auch wirklich demokratische Ansichten vertreten und vor allem die êzîdische Gesellschaft unterstützen, in Şengal zu bleiben.

Für uns ist es wichtig, in erster Linie als Êzîden in unserem Siedlungsgebiet zu bleiben, unsere Selbstorganisierung beizubehalten, vor allem aber unsere Selbstverteidigungseinheiten. Parteien und Staaten mit einer anderen Haltung dazu können wir als Gesellschaft nicht akzeptieren. Wie auch dieses Abkommen, das realisiert worden ist, ohne sich mit uns abzustimmen. Wir Êzîden haben uns gegen Angriffe von außen schützen können und werden uns, vor allem auch, nachdem wir die Ideologie von Abdullah Öcalan kennengelernt haben, genauso gegen diese politischen Angriffe schützen können.

Wenn unsere Existenz in unserem eigenen Gebiet nicht anerkannt wird, werden wir natürlich dagegen ankämpfen. Dieses Abkommen empfinden wir als einen Angriff auf unsere Kultur und Werte.

Vor welchen Herausforderungen steht ihr als Frauenselbstverteidigungseinheiten im Jahr 2021?

Wir sind gerade in einer Phase, in der das Abkommen von Lausanne enden soll. Deshalb versuchen auch internationale Kräfte im Nahen Osten ihre eigenen Grenzgebiete zu schaffen und ihm dadurch eigentlich ein neues Design zu verpassen. Dies passiert in aller Offenheit. Diese Annäherungsweisen hegemonialer Staaten zeugen von keinen humanen und demokratischen Ansichten. Für solche Staaten ist es unwichtig, was mit den Menschen im Nahen Osten passiert. Für sie ist es nur wichtig, rechtzeitig, bevor das Abkommen enden soll, ihre eigenen Grenzgebiete und Gebiete, die dann unter ihrer Kontrolle stehen, zu sichern. Wenn dafür weitere Genozide erfolgen und sich die Menschen bekriegen, ist es für solche Staaten nicht von Belang. Die Absicht des Staates ist nur, Macht zu besitzen und sie auszuweiten. Heute ist die Gesellschaft aufgeklärt und weiß, warum solche Abkommen geschlossen werden.

Unsere Ideologie von Abdullah Öcalan bezweckt das genaue Gegenteil. Wir wollen eine autonome Gesellschaft, in der beide Geschlechter gleichberechtigt sind und die Frau als Vorbild dieser Gesellschaft sich selbst organisiert und anführt. Ich denke, das ist die größte Herausforderung, die uns bevorsteht, tagtäglich. Denn es ist die Hauptaufgabe der Frau, die Gesellschaft aufzuklären und eine Vorbildfunktion zu erfüllen.

Wie hat sich die Gründung der YJŞ auf die Gesellschaft ausgewirkt? Wie auf Frauen und wie auf Männer?

Wie gesagt, sie hatte einen recht positiven Einfluss auf die Gesellschaft. Vor allem für die Frauen wurden wir zum Hoffnungsschimmer. Die êzîdische Frau, die nur Haushalt, Genozid und Unterdrückung kannte, lernte nun, dass sie sich auch selbst gegen diese Männerwelt verteidigen kann.

Für die Männer ist es trotz eines positiven Einflusses dennoch etwas komplizierter. Wie schon erwähnt, empfinden sie Stolz, es fällt ihnen jedoch schwer, uns zu akzeptieren. Denn in ihrer männlichen Sicht sehen sie in uns eigentlich ihre eigene Niederlage. Sie haben erkannt, dass sie »ihre Frauen« nicht schützen konnten, und diese Realität hat ihren Stolz gebrochen. So sehr die Männer von uns auch positiv beeinflusst worden sind und erkannt haben, dass auch Frauen die Stärke und den Mut besitzen, ihre eigene Gesellschaft zu schützen, so empfinden sie aber gleichzeitig eine gewisse Scham.


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021