Wichtigste Adressaten einer Politik der Demokratisierung bleiben nicht Staaten, sondern die Zivilgesellschaften

Der Nahe Osten nach Trump

Analyse von Kalle Schönfeld

Was von einer liberalen Regierung in den USA für den Nahen Osten zu erwarten ist, lässt sich nicht durch Wunschdenken ermitteln, sondern durch historische Analyse.

Die Medien des liberalen Mainstreams im Westen bemühen sich fortlaufend, die protofaschistische Episode unter der Regierung Trump als unerklärlichen Ausrutscher in einer wohlwollenden Weltregentschaft der liberalen Supermacht darzustellen.
Diese Dauerpropaganda hat das Potential, in Teilen einer solidarischen aber uninformierten westlichen Zivilgesellschaft auf die US-amerikanische Außenpolitik im Nahen Osten übertragen zu werden.

Dazu dürfte auch der Kontrast beitragen, den das Verhalten der USA gegenüber der demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zeigte. Einmal 2014, als während der Regierung Obama die militärische Unterstützung der Selbstverteidigungskräfte gegen den sogenannten Islamischen Staat begann, und dann 2019, als die Regierung Trump dem Diktator Erdoğan einen Freifahrtschein ausstellte, um eben jene Kräfte auf fremdem Staatsgebiet zu überfallen.

Fehlende Analyse könnte aus diesem Sachverhalt leicht die unreflektierte Wunschvorstellung machen, dass das Verhalten der US-Supermacht im Nahen Osten gegenüber der kurdischen Bewegung von Sympathie oder ideologischer Nähe der aktuell dort herrschenden Regierung abhängt.

Die nähere Betrachtung beider Phasen widerlegt diese Vorstellung: nicht Sympathie oder ideologische Nähe zur Erdoğan-Diktatur waren die Faktoren für die Unterstützung des türkischen Überfalls auf Rojava, sondern die politische Idee des Isolationismus, die in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelt ist und durch die protofaschistische Regierung Trump wiederholt propagiert wurde.1 Deren Neonationalismus rechtfertigt sich gegenüber der Öffentlichkeit – anders als der Neoosmanismus Erdoğans – hauptsächlich über die Ausgrenzung innergesellschaftlicher Gruppen und der Abschottung nach außen, aber nicht über imperialistischen Expansionismus und militärische Feldzüge, da diese nach den teuren und verlustreichen Kriegen in Afghanistan und im Irak in der US-amerikanischen Öffentlichkeit eher unpopulär sind.

Aber auch die militärische Unterstützung der Selbstverteidigungskräfte unter der Regierung Obamas hatte kaum etwas mit Sympathie oder Weltanschauung zu tun. Vielmehr war dieses Manöver dem zentralen Drehpunkt US-amerikanischer Nahostpolitik geschuldet: dem Sicherheitsbedürfnis Israels und der Frontstellung gegenüber dem Iran. Gegen diese »Gefahr« haben die beiden Staaten ein Bündnissystem aus Diktatoren und Monarchen um sich geschart, wie Ägypten, Jordanien, den Ölscheichtümern oder der mittelalterlichen Despotie der Saudis. Seit dem Abzug der US-Besatzung aus dem Irak 2011 bestand bei den Machthabern Israels und der USA die Angstprojektion eines »schiitischen Halbmondes«, einer Landverbindung vom Iran über den schiitisch dominierten Irak und das verbündete Assad-Syrien bis zur Hisbollah im Libanon und damit an die israelische Nordgrenze. Die US-Administration hatte der demokratischen Selbstverwaltung dabei wohl dieselbe Funktion zugedacht wie etwa der kleinen Söldnermiliz Jaysh Maghawir al-Thawra (Revolutionäre Kommandoarmee), die südlich des Euphrats die Grenzübergänge zum Irak und eine kleine US-Militärbasis bewacht: die eines Sperrriegels zwischen den iranischen Verbündeten Syrien und Irak und damit zwischen dem Iran und Israel.

Es bleibt zu hinterfragen, warum die US-Regierung im Oktober 2019 meinte, dieser Funktion nicht mehr zu bedürfen. Vielleicht traute sie der türkischen Armee eine vollständige Eroberung der Selbstverwaltungsgebiete und damit die Übernahme der Sperrfunktion zu. Vielleicht dachte sie auch, dass die demokratische Selbstverwaltung diesen Verrat mangels Alternativen klaglos hinnehmen werde.

In jedem Fall haben deren Vertreter durch die Verständigung mit dem Assad-Staat und Russland die passende diplomatische und politische Antwort auf diesen Akt militärischer Gewalt entwickelt. Diese Verständigung mit durch die USA als »feindlich« betrachteten Staaten wird das zukünftige Auftreten der Supermacht gegenüber der demokratischen Selbstverwaltung auch unter liberalen Machthabern prägen. Kein US-Bürokrat wird sie mehr als bequem zu steuernden Proxy (Stellvertreter) ansehen.

Für diese Rolle bieten sich darüber hinaus andere Kräfte in der Region ebenso an, wie etwa der Barzanî-Clan, die Dschihadisten in Idlib oder auch die Türkei selbst. Der türkische Staat bleibt Hauptprofiteur der Blockkonfrontation zwischen den USA, Israel und ihren Ölscheichs einerseits und Russlands, Iran, Irak und Syrien andererseits. Erdoğan ist potentieller Bündnispartner beider Seiten und profitiert von deren Werbungsversuchen.

Jede Zusammenarbeit der USA mit der kurdischen Bewegung riskiert es, das Erdoğan-Regime zu verprellen. Sollte so eine Zusammenarbeit z. B. in Nordsyrien nochmal zustande kommen, dann werden die USA der Türkei dafür einen Preis zahlen; in jedem Fall durch eine propagandistische Spaltung der Bewegung in »demokratische Verbündete« in Nordsyrien und »Terroristen« im Nordirak, darüber hinaus vielleicht durch aktive Unterstützung des türkischen Drohnenkrieges, sei es durch geheimdienstliche Informationen oder durch neue Technologie. In jedem Fall wird die US-Administration auf eine Isolation von anderen Staaten in der Region und auf die Spaltung der kurdischen Bewegung drängen.

Geschichtliche Analyse

Diese kurze Betrachtung der aktuellen Machtpolitik vermag nur ein eingeschränktes Bild von der Rolle einer liberalen Hegemonialmacht USA im Nahen Osten zu zeichnen. Die Betrachtungsweise langfristiger historischer Kontinuitäten nach dem Ansatz der longue dureé2 eröffnet dagegen einen sehr viel breiteren Blick auf Gegenwart und Zukunft, besonders wenn man geschichtliche Prozesse nach Öcalans »Soziologie der Freiheit« als ein Wechselspiel zwischen Herrschaftszivilisation und den Widerständen der demokratischen Gesellschaft erkennt.

Nehmen wir die Rolle einer liberalen Hegemonialmacht im Nahen Osten in den Blick, zu der die USA unter der neuen Regierung zurückzukehren angekündigt hat, so lassen sich Kontinuitäten von vielen Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten erkennen, wenn man Großbritannien als Vorläufer der USA in eben dieser Rolle gelten lässt. Diese beiden Mächte können ohne weiteres als maßgebliche Schutzmächte der kapitalistischen Moderne in einem globalen Maßstab gelten. Bei der Durchsetzung dieser kapitalistischen Moderne im globalen Maßstab zeigten sie eine erstaunliche Kontinuität in ihrem Verhalten. Ungeachtet der liberalen Prinzipien, nach denen sie ihre Staaten nach innen regierten, stützten sie sich in den Regionen, die sie im Zuge globaler Machtpolitik durchdringen wollten, in der Regel auf konservative oder reaktionäre Akteure. Hierzu lässt sich eine beliebig lange Liste an Beispielen anfertigen, aber schon wenn man sich in der Betrachtung auf den Nahen Osten beschränkt, wird die Gültigkeit dieses Satzes klar.

Seitdem es im Kampf gegen die Französische Revolution die Osmanen gegen die Ägyptische Expedition Bonapartes unterstützte, stellte sich Großbritannien im Nahen Osten stets auf die Seite herrschender korrupter Eliten und bekämpfte gesellschaftliche Erneuerungsbewegungen. Die Kolonialisierung Ägyptens nach der Niederschlagung des Urabi-Aufstandes unter den Marionetten-Königen der Khediven ist dafür ein Beispiel, aber auch der Verrat an der Arabischen Nationalbewegung nach 1918 durch die Besetzung kolonialer Gebietsfetzen unter willfährigen Stammeskönigen im Sykes-Picot-Abkommen. Die USA als Nachfolgemacht des Liberalismus zeigte dieselbe Strategie: Im Iran wurde Mohammed Mossadegh gestürzt, das reaktionäre Schah-Regime gestützt und das durch einen Volksaufstand gegen diesen zur Macht gelangte Mullah-Regime wiederum zu Todfeinden erklärt und Saddam Hussein mit Milliarden an Waffenlieferungen ausgerüstet, um es im blutigen Ersten Golfkrieg ausbluten zu lassen, bevor er selbst in Ungnade fiel. So ist es auch kein Zufall, dass die USA im Nachgang des »Arabischen Frühlings« nicht etwa vornehmlich liberale Bewegungen, sondern wie in Libyen, in Syrien und im Jemen immer auch Vertreter eines reaktionären Islamismus unterstützen.

Um diese geschichtliche Betrachtung als Analyse und nicht als Anklageliste zu verstehen ist es zentral, die Handlungslogik hinter diesen Strategien zu erkennen.

Die staatlichen Mächte, die die kapitalistische Moderne repräsentieren, nutzen den Liberalismus als ideologisches Instrument, um ihr Herrschaftssystem innerhalb des westlichen Staatensystems abzusichern. Im Feld globaler Machtpolitik hat diese Ideologie für sie jedoch kaum Verbindlichkeit, da nicht die Verbreitung liberaler Grundsätze ihr Handlungsziel ist, sondern die materielle Absicherung kapitalistischer Herrschaft.

Die Bevorzugung reaktionärer oder konservativer Kräfte in der Geopolitik folgt dem Zweck, in erster Linie materielle Stabilität herzustellen und Eigentumsrechte gegen politische oder moralische Einschränkungen abzusichern, da progressive und demokratische Bewegungen immer auch einen Moment der zukunftsoffenen Verhandelbarkeit beinhalten und die Unverhandelbarkeit des Kapitaleigentums in Frage stellen könnten, während etablierte Herrschaftssysteme in der Regel auf solchen Eigentumsstrukturen basieren und sie garantieren.

Ausblick

Vor dem Hintergrund dieser Betrachtung erscheint es auch wenig verwunderlich, dass sich der Führer der HTS/al-Nusra-Dschihadisten Muhammed al-Golani im Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten Martin Smith3 betont zivil und gesprächsoffen zeigt und offensichtlich auf gute Beziehungen mit der neuen US-Administration spekuliert. Was das Bedürfnis der USA nach regionalen Proxies betrifft, gibt es offensichtlich eine ganze Reihe von Kandidaten und die Geschichte lehrt, dass reaktionärer Islamismus dabei absolut kein Ausschlusskriterium ist.

Sollte sich also unter der neuen US-Regierung eine Zusammenarbeit mit der demokratischen Selbstverwaltung wiederholen, so lehrt die Geschichte, dass diese immer nur vorübergehenden und taktischen Charakter haben kann, weil auch eine liberal regierte Supermacht immer die Herrschaftszivilisation in der kapitalistischen Moderne verkörpert.

Eine sehr viel positivere Perspektive scheint auf, wenn man die jüngste außenpolitische Grundsatzrede Joe Bidens optimistisch interpretiert und aus der Absage an den Krieg der Saudis im Jemen und aus den fehlenden Drohungen gegen Iran den Ansatz einer Friedenspolitik in Nahost herausliest. Würden Israel und die USA ihre Blockkonfrontation zum Iran aufgeben, so entfiele auch deren Interesse, in den Konflikten der Region mitzumischen und wechselnde Bündnispartner gegeneinander aufzuwiegen. Das Erdoğan-Regime mit seinem aggressiven Neoosmanismus wäre nicht länger ein umworbener Alliierter, sondern ein isolierter Unruhestifter.

Ein Szenario, wie es kürzlich Professor Noam Chomsky in seinem Eröffnungsvortrag der Rojava Freedom lecture series an der Universität Rojava in Qamişlo vorstellte, wäre in greifbarer Nähe: ein Friedensregime, dass Nuklearwaffenfreiheit für die Staaten des Nahen Ostens garantiert, von der internationalen Gemeinschaft kontrolliert wird und auf allgemeine Abrüstung ausgeweitet wird.

Das laufende Jahr wird zeigen, wie realistisch diese Vorstellung ist. Leider bleibt das Bedürfnis des liberalen Herrschaftssystems nach Blockkonfrontation groß, da der kapitalistische Gesellschaftsvertrag gescheitert ist und das innenpolitische Konfliktpotential über Aufbau äußerer Feindbilder abgebaut werden muss.

Übertriebene Hoffnungen in den liberalen Regierungswechsel der Hegemonialmacht USA sind also unangebracht. Im Gegensatz könnte man argumentieren, dass die türkische Außenpolitik sehr viel entscheidender ist für die kurdische Bewegung und die demokratischen Kräfte der Region. Sollte es gelingen, dass das Erdoğan-Regime sich aufgrund seiner aggressiven Expansionspolitik selbst isoliert, so wäre auch dessen antikurdischer Feldzug gescheitert und ein breites Bündnis gegen diese Verkörperung von Nationalismus und Islamismus wäre möglich.

Die mit diplomatischen Aufgaben betrauten Akteur:innen der kurdischen Bewegung haben diese Sachverhalte schon lange analysiert und teilen das Bewusstsein, dass staatliche Akteure immer nur als gegebenes Übel zu behandeln sind, aber keine verlässlichen Verbündeten oder wohlmeinende Problemlöser sein können.

Wichtigste Adressaten einer Politik der Demokratisierung und friedlicher Koexistenz bleiben nicht Staaten, sondern die Zivilgesellschaften. Und hier, bei der Bevölkerung Kurdistans, der Türkei, Syriens, Israels, Iraks und Irans wird sich die Zukunft des Mittleren Ostens entscheiden.

Fußnoten:

1 - Der US-amerikanische Nationalismus basiert auf der Ideologie des Exzeptionalismus, der eine Sonderstellung der USA gegenüber allen anderen Nationen behauptet. Diese Ideologie findet sich in den zwei Ausprägungen, einmal des Isolationismus, in dem die USA als irdisches Paradies gelten, dass sich nicht in die Probleme der übrigen Welt hineinziehen lassen sollte, und zum zweiten des Interventionismus, nachdem die USA den historischen oder göttlichen Auftrag haben, ihre Lebensweise und Ideologie auf der ganzen Welt zu verbreiten und sie so zu erlösen.

2 - »Longue durée« bezeichnet ein Konzept des Historikers Fernand Braudel. Hier werden zur historischen Analyse anstatt einzelner Ereignisse und Personen mehr langfristige Entwicklungen über große Zeiträume hinweg betrachtet.

3 - Vgl. https://twitter.com/Martin28Smith nach https://www.heise.de/tp/features/Dschihadist-im-Anzug-5049028.html