Nicht die Tagesordnung wird geändert, sondern das Regime gefestigt

»Die Anzahl der Krisen wird unübersichtlich«

Interview mit Prof. Dr. Hamit Bozarslan


Die Inhaftierung von 20 Politiker*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP), einschließlich ehemaliger Abgeordneter, wegen der Kobanê-Proteste 2014 war eines der Diskussionsthemen der vergangenen Wochen. Wir drucken ein Interview der sozialistischen türkischsprachigen Zeitung Evrensel ab1; sie hat über das Thema mit Prof. Dr. Hamit Bozarslan gesprochen, Geschichts- und Politikexperte und Lehrkraft an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften EHESS. Laut Bozarslan ist die Zerschlagung der HDP eines der wichtigsten Ziele der Regierung, aber dieses Ziel sei aus einer historischen Perspektive zu verstehen. Er unterstreicht die Notwendigkeit, die Widerstandsebenen in der Türkei zu verstärken und zu vertiefen, da gegenwärtig in der Türkei ein Kartell herrsche, welches eine hegemoniale Dimension erreicht habe.

Mit der Losung »Es ist Zeit, sich zu organisieren!« besuchte die HDP die Arbeiterinnen und Arbeiter von LN Moda Tekstil im Bezirk Darıca in Kocaeli zur Stärkung demokratischer Bestrebungen.Die Operationen gegen die HDP-Politiker*innen wurden auf verschiedene Art und Weise interpretiert: es soll ein Keil in die Volksallianz (Millet İttifakı) geschlagen werden; am Beispiel der HDP sollen die Oppositionskräfte eingeschüchtert werden; es ist die Reaktion der Regierung auf die Forderung der HDP nach »Frieden und einer antifaschistischen Front«; es soll eine vorbereitende Maßnahme für eventuell vorgezogene Wahlen sein, oder es soll von anderen tagespolitischen Themen abgelenkt werden. Wir werden im Verlauf des Gesprächs noch auf die Änderung der Tagesordnung kommen, möchten aber mit Ihrem Kommentar zu den Razzien gegen die HDP-Politiker*innen 6 Jahre nach den Vorfällen vom 5. bis 8. Oktober 2014 beginnen.

Derzeit wird diskutiert, ob sich aktuell in der Türkei die Agenda oder das Regime ändert. Erkennbar ist aber, dass das Regime erstarkt bzw. gestärkt wird. Wir sprechen hier nicht nur vom Regime der 2010er Jahre, sondern auch vom Regime der 90er-, sogar der 60er-und der 70er Jahre. Ich denke, dass die Türkei derzeit einen Gedächtnisverlust erleidet. Auf keinen Fall darf der Susurluk-Fall2, der Skandal um das Problem uniformierter Banden und der JITEM3 in Vergessenheit geraten. In den 90er Jahren gab es ein ernstzunehmendes paramilitärisches Gefüge in der Türkei. Diese Paramilitarisierung ermöglichte die Entwicklung von Sicherheits-, Stammes- und neuen Sicherheitseinheiten und nationalistischen Mafiaorganisationen. Betrachten wir die neunziger Jahre, müssen wir unweigerlich auf die sechziger und siebziger Jahre zurückschauen, vor allem in die 70er Jahre, als Konterguerillas und Kommandolager gebildet, Nationalisten bewaffnet und in einer Miliz gesammelt wurden. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann keine Rede davon sein, dass sich das Regime geändert habe, sondern im Gegenteil ist dieses paramilitärische Gefüge maximal ausgebaut worden und stärkt das Regime.

Worin besteht der Unterschied zu heute?

Der Unterschied besteht darin, dass sich die Türkei in eine tickende Zeitbombe verwandelt hat. In der Türkei der 1960er- und 1970er Jahre oder auch der 1990er Jahre gab es keinen hegemonialen Block. Heute gibt es in der Türkei ein Kartell und einen Chef. Nehmen wir an, dieser Chef ist sowohl die Hauptquelle der Legitimität als auch die höchste Autorität. Um ihn herum gibt es jedoch gleichzeitig paramilitärische Kräfte mit einer eigenen Dynamik. Dieses Phänomen des »Para-Staates« existiert nicht nur innerhalb des Sicherheitsapparates, sondern ist auch in der Wirtschaft deutlich erkennbar und lässt sich als ein hegemoniales Kartellphänomen bezeichnen. Das Erreichen einer hegemonialen Dimension dieses Kartells ist ein neues Phänomen. Zum Verständnis des Geschehens ist deshalb der Blick zurück in die 60er- und 70er Jahre wichtig.

Können Sie den Einfluss dieser paramilitärischen Formation auf das Regime in Bezug auf die fehlende Lösung der kurdischen Frage erklären?

Die kurdische Bewegung ist derzeit trotz aller Unterdrückung, aller Verhaftungen, aller Massaker und trotz des Wahlbetrugs weitaus stärker als vorher. Eine Bewegung, deren Wählerpotential nicht unter die 10 Prozent Marke fällt.

Es geht nur scheinbar um die Unterdrückung der kurdischen Bewegung und um den Machterhalt Erdoğans durch die Zerstörung der HDP. Diese Dynamik beinhaltet darüber hinaus eine historische sozialdarwinistische Dimension, ein Wahrnehmungssystem, das das Kurdentum nahezu als biologischen Feind ansieht. Es ist ein Wahrnehmungssystem, das das Kurdentum auf die Sicherheitsfrage reduziert und es als dynamisches Problem betrachtet, welches die türkische Nation bedroht. Es ist ein Denksystem, welches vom Misak-i Milli4 ausgehend darauf abzielt, Kurdistan insgesamt und noch weitere Gebiete zu erobern. Es umfasst somit verschiedene Dimensionen und nicht nur die HDP. Meiner Meinung nach ist die Liquidation der HDP heute eines der wichtigsten Ziele des Regimes, aber die Machthaber wissen nicht, wie sie es bewerkstelligen sollen. Sie haben erkannt, dass die HDP nicht mit Wahlen zu besiegen ist. Für die AKP ist es ungeheuer schwierig, sich in der entscheidenden Region als Alternative zur HDP zu präsentieren. Vor 20 Jahren wäre dies eventuell möglich gewesen, aber nach allem was passiert ist, erscheint es kaum wahrscheinlich, dass sich die kurdischen Wähler*innen erneut der AKP zuwenden. Genauso wenig wird sich die kurdische Wählerschaft automatisch dem nationalen Bündnis (Millet İttifakı) zuwenden.

In einem Beitrag vom März 2018 trafen Sie folgende Aussage: »Die Türkei will sich als Regionalmacht aufstellen und insbesondere die kurdische Bewegung schwächen. Darüber hinaus wiederholt die Türkei, dass sie ihren Krieg nicht nur gegen die Kurden, sondern auch gegen den Westen, insbesondere gegen die Vereinigten Staaten führt. Die Türkei träumt krampfhaft vom nostalgischen osmanischen Imperium und kann dies nur mit Gewalt erreichen«. Libyen, das östliche Mittelmeer und Griechenland, die Unterstützung Aserbaidschans im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt ... Haben Sie Ergänzungen zu ihren Ausführungen von 2018?

Es kann mittlerweile von der Türkei nicht mehr als Staat gesprochen werden, sondern wie ich schon erklärt habe, als Kartell, als Front bzw. als paramilitärischem Block. Denn es gibt keine Merkmale des Staates mehr. Wir beobachten eine Aufhebung des staatlichen Phänomens, welches auch in autoritären Staaten enthalten ist, nämlich die Auflösung der Rationalität, die den Staat ausmacht. Aus diesem Grund gleicht das Regime in der Türkei definitiv einer Zeitbombe. Wann und wo diese Mine einschlagen wird, ist unbekannt. Die Hauptantriebskraft (laut Vorschlag des deutschen Soziologen Karl Mannheim) ist der Opportunismus. Taktik ersetzt also Strategie. Das Wunschdenken ersetzt den strategischen Staatsgeist. Die Kraft des Schadenzufügens wird rücksichtslos eingesetzt. Staaten können normalerweise Diplomatie und militärische Angelegenheiten parallel handhaben, das gilt auch für die Wirtschaft usw. Einige Staaten betrachten jedoch die Umwandlung ihres Schadenpotentials in Macht als einzig tragfähige Diplomatie. Wir konnten dies sehr deutlich in Mussolinis Italien und dann in Nazideutschland sehen. Und diese Fähigkeit, Schaden zuzufügen, war zumindest bisher im Kontext des Erdoğanismus relativ erfolgreich. Obwohl er in Syrien an einige Grenzen stieß, besetzte er letztendlich einen Teil Syriens und verwandelte einen Teil Kurdistans in »Dschihadistan«. Auch in Libyen stieß er an Grenzen, konnte aber dennoch den Verlauf des Libyenkrieges bestimmen. Er stieß im östlichen Mittelmeer an seine Grenzen, aber gleich danach war er aktuell Teil der Krise in Aserbaidschan und Armenien. Mit anderen Worten, das Regime kann sich nicht mehr ohne Krise selbst regieren, es muss sich selbst ständig weiter radikalisieren. Und bei dieser Radikalisierung braucht ein Regime interne oder externe Krisen. In Vergessenheit geraten ist inzwischen die Chronologie früherer Krisen: die Krise mit Deutschland, mit Amerika, mit Russland, mit Griechenland usw. Die Anzahl der Krisen wird unübersichtlich, die Themen, die zu einem Kampf um das Leben der Nation konstruiert wurden, sind nicht einmal mehr in unseren Köpfen präsent. Aber diese Methode der Krise schwächt unweigerlich das Regime. Wir sehen das im diplomatischen Bereich, wir sehen es in der Wirtschaft. Deshalb spreche ich vom Problem des Verschwindens staatlicher Rationalität.

Diese Systematik, Krise durch Krise zu verwalten, hat Erdoğan das »Türkei-Modell« genannt. In seiner Rede auf dem Treffen der Provinzverwalter sagte er: »Wir werden unsere Nation weiterentwickeln, auch wenn Europa und die USA demokratisch und wirtschaftlich bereits vollständig zerstört sind. Wir sind entschlossen, sei es aufgrund historischer Bindungen oder neuer Beziehungen, für unsere Freunde denselben Kampf zu führen. Dies ist das Türkei-Modell. Sie können nirgendwo anders eine auf menschlichen Werten beruhende so aufrichtige Demokratie, ein gerechteres Entwicklungsziel, ein tiefer verwurzeltes Ideal von Recht und Gerechtigkeit, finden.« Was halten Sie von Erdoğans Darstellung?

Ja, ich habe diese Rede gelesen. Wenn wir uns Erdoğans Reden vom Februar, März und April anschauen, ist zu erkennen, dass er sehr häufig folgendes sagt: »Die Türkei wird aus der Coronaepidemie gestärkt hervortreten!« Warum wird sie daran erstarken? Weil alle anderen geschwächt sein werden. Auch wenn die Welt eine Ruine, auch wenn in dieser ruinierten Welt sogar die Türkei selbst geschwächt wäre, würde sie als Herr der Welt hervorsteigen. Auch das ist nicht neu, denn wenn wir uns die Islamisten ansehen, erkennen wir, dass sie dasselbe bereits in den 1910er Jahren mit folgenden Worten sagten: »Europa wird sich selbst so zerstören, dass wir uns eines Tages erheben und uns als Türken, als Islam rächen werden.« Und das Interessante daran ist, dass dieser Wunsch nach Rache als Demokratie und Gerechtigkeit dargestellt wird. Das war auch der interessanteste Punkt an der Rede. Sie hat nicht mehr viele Freunde auf der Welt, aber ein paramilitärisches Regime. Dieser Paramilitarismus hat zudem eine regionale Dimension. Mit den Freunden meint Erdoğan höchstwahrscheinlich die syrischen Milizen in Tripolis und Idlib.

Es wird auch diskutiert, dass die Opposition die HDP-Operation als »Versuch, die Agenda zu ändern« interpretiert und eigentlich nahezu jeden Angriff so bewertet. Dies deckt sich mit dem von Ihnen umrissenen Rahmen. Wie ist Ihre Haltung zu dieser Diskussion? Wie gehen Sie mit dieser Diskussion um? Wenn diese Operation die Tagesordnung ändern soll, was ist dann die eigentliche Agenda?

Die Agenda zu ändern ist zumindest nicht mein Verständnis. Ich denke zwei Dinge sind hier sehr wichtig: erstens, dass in Schwierigkeiten geratene Mächte ihre Existenz sichern , indem sie notwendigerweise Feinde erschaffen. Das Erstellen von Feindbildern ist auch ein wichtiger Weg, um interne Engpässe zu beseitigen. Es gibt ein zweites Phänomen. Hannah Arendt hat dies oft thematisiert. Einige Regime, wie z. B.Italien unter Mussolini oder Deutschland unter Hitler sind Regime der Bewegung. Regime, die unruhig sind, keine Stabilität haben, ständig handeln und die Agenda ändern müssen. Mit anderen Worten, wir stehen einem Regime gegenüber, welches seine eigenen Agenden ändert, aber nicht mehr als drei oder fünf Tage für diese von ihnen erstellte Agenda einplanen kann. Alles wird in Taktik umgewandelt. Einer der Gründe für den Angriff auf die HDP ist die Liquidierung der HDP. Die Legalität bietet ihr keinen Schutz. Aber auch hier spielt das Phänomen der Dynamik eine Rolle. Auch Russland gehört zu den Regimen, die Dynamik zum Überleben brauchen. Es ist aber ein viel ruhigeres Regime. Im Fall der Türkei sehen wir uns jedoch mit einem Regime konfrontiert, bei dem die Dynamik die Zeit ausradiert.

Inzwischen werden in der Türkei einige Institutionen zur Zielscheibe gemacht und neue Vorschriften werden eingeführt und umgesetzt. Beispielsweise wurde das Prinzip mehrerer Anwaltskammern eingeführt, die Hagia Sophia wurde in eine Moschee verwandelt ...

Es geht nicht nur um die Hagia Sophia, denn die ist bereits in Vergessenheit geraten. Es geht auch nicht um das Mehrkammersystem. In der Türkei wurden beispielsweise die Gesetze zum Bergbau in den letzten 18 Jahren 200 bis 300 mal geändert, im Wohnungsbau ebenfalls. Fünfzig voneinander völlig unabhängige Themen werden als Paket zusammenlegt und in einem einzigen Gesetz zusammengefasst, obwohl in einem solchen Paket tausende Verordnungen enthalten sind. Auch hier beobachten wir diese Dynamik und als Folge die Zerstörung der Institutionen. In solchen dynamischen Regimen bleibt der Führer die einzige Referenz. Ich glaube, in der Türkei gibt es folgendes Phänomen: die Zerstörung der Institutionen und die Übertragung der Legitimität konkret an einen Führer als konkrete Person und abstrakt an eine historische Mission, die das abstrakte Phänomen darstellt. Diese abstrakte Kategorie ist die historische Mission des Türkentums, welche in Malazgirt5 begann, bis in alle Ewigkeit andauern und 2071 (1000 Jahre nach Malazgirt) wieder beginnen soll.

Was halten Sie von der Stärke-Schwäche-Gleichung? Greift Erdoğan an, weil er stark oder weil er schwach ist? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Soweit ich sehen kann, ist Erdoğan heute weitaus schwächer als 2013. In den 2000er Jahren war er trotz allem ein Führer mit demokratischer Legitimität. Es gelang ihm, verschiedene Gesellschaftsschichten anzusprechen und innerhalb seiner eigenen Partei hatte er zumindest die Gleichgewichts- und Kontrollmechanismen noch nicht zerstört. Heute ist Erdoğans letztes Wort die Quelle der Legitimität. Zeitgleich benötigt Erdoğan jedoch die Akteure des Kartells, damit seine Quelle der Legitimation in die Praxis umgesetzt und zum Subjekt werden kann. Die Beteiligten dieses Kartells sind die MHP und die Nationalisten. Auch Süleyman Soylu ist einer der Akteure, die die Susurluk-Tradition fortsetzen. Mehmet Ağar ist ebenfalls ein Akteur. Jeder Einzelne in diesem Kartell erweitert erheblich seinen eigenen Handlungsspielraum. Erdoğan ist also letztendlich sehr stark und schwach gleichzeitig.

Was sagen Sie zur Ansicht der Opposition, dass die Regierung sowohl innen- als auch außenpolitisch in Schwierigkeiten steckt und mit der nächsten Wahl definitiv abgewählt werden wird?

Eine Vorhersage ist nicht möglich. Es könnte Wahlbetrug geben oder Gesetze könnten geändert werden. Dies ist möglich, weil das Regime tatsächlich keine parlamentarische Vertretung benötigt. Mit anderen Worten, die Regierung könnte das Parlament auch offiziell suspendieren, indem sie es in ein Parlament umwandelt, das zwar formal existiert, aber nicht funktionsfähig ist. Im Grunde genommen ist dies jetzt schon der Fall. Diese Entmachtung des Parlaments ist gut erkennbar an den Beschlüssen rund um des Thema Gesundheit oder an den Antworten Berat Albayraks auf parlamentarische Anfragen. Er schickt einen Link und damit ist die Anfrage beantwortet.

Das Thema »Vorgezogene Wahlen« beschäftigt die Opposition im Parlament. Devlet Bahçelis Wortmeldung dazu gilt als entscheidend. Wird die Haltung der von Ihnen genannten Akteure und deren Interessenskonflikte der Hauptfaktor sein, der Erdoğans Schritte bei vorgezogenen Wahlen oder in anderen Bereichen bestimmen wird?

Genaue Vorhersagen zu treffen ist nicht möglich. In diesem Zusammenhang erinnere ich erneut an Hannah Arendt und Karl Kraus und ihre Ausführungen zur Unvorhersehbarkeit von dynamischen Regimen. Ich denke, jede unserer Vorhersagen über die AKP oder den Erdoğanismus kann morgen schon falsch sein. Jede logisch oder rational begründete Prognose kann nicht die Unvorhersehbarkeit berücksichtigen. Nach 2015/16 haben zwar einige Personen die Annäherung zwischen AKP und MHP erkannt, aber niemand hätte einen mit Hilfe der MHP so schnell vollzogenen Wechsel zum Präsidialsystem prognostiziert. Wenn ich von Unvorhersehbarkeit spreche, meine ich z. B. solch eine Entwicklung. Solche unvorhersehbaren Situationen sind daher bei der Analyse des Regimes notwendig und wichtiger als die Frage nach einer vorzeitige Wahl. Und fügt man diese Variable »Unvorhersehbarkeit« in die Gleichung ein wird diese unlösbar.

Andererseits können sich die Interessen der Akteure des Kartells ändern. Aber auch das können wir nicht vorhersehen, denn wenn wir über Paramilitarisierung sprechen, dann sprechen wir über Mächte, die eindeutig legales oder illegales Gewaltpotential haben. Mit anderen Worten, PÖH (paramilitärische Polizeisondereinheit) ist eine Streitmacht, JÖH (militärpolizeiliche Sondereinheit) ist eine Streitmacht, SADAT (türkische Söldnerfirma) ist eine Streitmacht, und die syrischen Milizen sind Streitkräfte. Früher sprach man von der »einen Armee in der Türkei, die alles kontrolliert«. Das gilt heute nicht mehr. Diese Paramilitarisierung war bereits in den 70er- und in den 90er Jahren bei dem Susurluk-Fall zu beobachten. Mittlerweile gibt es sehr viele Akteure, die dieses Gewaltpotential haben und sich verselbständigen können. Und es ist derzeit wirklich nicht vorhersehbar, ob die Interessen dieser Beteiligten morgen noch mit Erdoğans Interessen übereinstimmen. Dies gilt auch für die MHP. Sie ist in diesen paramilitärischen Strukturen sehr stark vertreten. Es lässt sich heute keine Vorhersage dazu treffen, ob die Interessen der MHP morgen noch mit denen der AKP übereinstimmen. Aber sicher ist, dass Erdoğan mit dem Eintritt in einen paramilitärischen Prozess und mit der Beschleunigung dieses Prozesses ein hohes Risiko eingegangen ist.

»Die Gefahr tyrannischen Regimen gegenüber zu stehen, deren einzige Legitimität darin besteht, das eigene Überleben zu sichern, muss von der Politik überwunden werden. Es ist ein erschreckendes Katastrophenszenario für die Welt, in eine postpolitische Ära einzutreten und es könnte das Ende der Weltgeschichte heraufbeschwören«, sagen Sie. Entfernt sich die Türkei von der Möglichkeit, das Problem politisch zu lösen?

Eigentlich habe ich diese Sätze in Bezug auf Europa formuliert. Die Kommunalwahlen in Italien gaben aber in diesem Sinn Hoffnung; die rechtsradikale und die rechte Koalition scheiterten.

Meiner Meinung nach ist es gegenwärtig in der innenpolitisch auf Parteipolitik reduzierten Türkei sehr schwierig, die Krise zu überwinden. Aber in der Türkei gibt es Widerstandsfronten. Diese müssen gestärkt, ausgebaut und miteinander in Kontakt gebracht werden. Dies gilt für die kurdische Bewegung, für die Frauenbewegung und auch für die Orte und Mechanismen der Sozialisation junger Menschen, die zwar als unpolitisch gelten, aber auch ernstzunehmende Erwartungen haben. Mit anderen Worten, es wäre ein schwerwiegender Fehler, die Überwindung der Krise und die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft nur mit Wahlen in Verbindung zu bringen.

Eine der derzeit dringendsten Anforderungen ist es, die Welt zu verstehen, die politischen Ereignisse einzuordnen und bei klarem Verstand zu bleiben.

Die Geschichte Frankreichs nach 1958 besteht aus 15 bis 20 historischen Meilensteinen. Betrachten wir die Türkei, zumindest nach 2013, so gibt es Hunderte von Entwicklungen, die vom Regime als »historischer Bruch« definiert werden und einem schwerwiegenden Verlust von Gedächtnis und Verstand den Weg ebnen. Die Bereiche des Widerstands sollten das Wiederaufleben des Verstandes ermöglichen. Diese Bereiche können persönlich oder kollektiv sein, die Form eines Theaters oder von Lesezentren annehmen, aber sie müssen auf der gesellschaftlichen Ebene die Legitimität des Widerstands durchsetzen. Der Widerstand muss als legitimes Recht definiert werden, das die Staatsbürgerschaft konstituiert.

Fußnoten:

1 - https://www.evrensel.net/haber/415555/prof-dr-hamit-bozarslan-gundem-degistirilmiyor-rejim-tahkim-ediliyor

2 - 1996 durch einen tödlichen Verkehrsunfall in der westtürkischen Stadt Susurluk aufgeflogene Zusammenarbeit von staatlichen Stellen mit Strukturen der organisierten Kriminalität. vgl. https://anfdeutsch.com/hintergrund/jitem-prozesse-16121

3 - informeller Militärgeheimdienst/Todesschwadrone

4 - Nationalpakt, der das neoosmanische Projekt verfolgt, die Grenzen der Türkei auf diejenigen des späten osmanischen Reiches auszudehnen.

5 - Mit dem Sieg der Seldschuken über die Byzantiner in der Schlacht von Manzikert, heute Malazgirt (kurd. Kelê) im Jahr 1071 begann die türkische Kolonisierung Anatoliens.


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020